Dass ich nie den Lappen gemacht hab, verfolgte mich eine lange Zeit bis tief in die Träume. Nacht für Nacht sah ich mich hinterm Steuer, ich fuhr zur Arbeit, ich war ein normaler Mann, der wusste, wo das Benzin eingefüllt wird. Im Traum führte ich ein selbstbestimmtes Leben, ein Leben mit Tankdeckel, Motorenlärm und Fußgängern, die bei Rot über die Ampel gehen: ICH HUP EUCH KAPUTT!
Tja, war wohl nichts.
“Sei doch froh. Irgendwann ist es soweit und man will überall dazugehören. Man wird regelrecht krank, wenn man nicht dazugehört. Mit dem Führerschein fängts an, dann heiratet man, zuletzt schreibt man ein Kochbuch", so die Gräfin. Eine lebenskluge Frau. Ich vertraue ihrem Wort. "Da kann man von Glück reden, wenn man erst gar nicht damit anfängt, dazugehören zu wollen, wo und aus welchen Gründen auch immer.”
Ja, das klang gut, das klang nach Anderssein, nach Kampf dem Fließband und dem bloßen Funktionieren, auch wenn die Wahrheit eher schlicht daherkam: Ich hatte keinen Bock auf Gegenverkehr. Das stürmte und wuselte mir alles zu sehr, wenn ich mit der Fahrschule unterwegs war. Ich hatte stets Angst, dass mein Gegenüber es nicht schafft, dass er nicht vorbeikommt und mir die Birne abrasiert.
Ich hätte einer der ersten Automobilisten sein müssen, die um 1900 herum die Straße noch für sich hatten, dann hätte ich mir den Lappen erlaubt, das wär in Ordnung gewesen. (Und dann mit der Tin Lizzy freihändig gegen den einzigen Baum donnern weit und breit und den Pimmel brechen - auch Mist.)
Punktum, für den Führerschein hätte ich mehr Platz im Verkehr gebraucht. Ich teile vorhandene Enge nur sehr ungern. Wenig Platz, pff - wer braucht denn so was.
Selbst dem Universum, wo man denken könnte, das ist riesig, da ist wirklich genug Platz, selbst dem Universum ist der Kragen zu eng, es expandiert täglich, wenn meine Beobachtungen stimmen. Freilich um irgendwann lautstark in sich zusammenzufallen.
Ist klar.
Mittlerweile ist mir das Autofahren richtig verhasst. Der Lärm, die ständige Lebensgefahr, Beschleunigung bis aufs Blut. Selbst als Beifahrer besteige ich ein Fahrzeug nur noch, wenn es sich definitiv nicht vermeiden lässt.
Mitte Juli war es wieder mal soweit. Die Gräfin und ich mussten meinen alten Vater aus der Augenklinik in Wuppertal abholen. Grauer Star, Staroperation. Die trübe Linse wird aus dem Auge entfernt und durch eine Intraocularlinse aus Kunststoff ersetzt.
Dann kann man wieder aus der Wäsche gucken, hatte der Arzt gelacht. Dann ist der Vorhang wieder weg.
Ein total witziger Arzt. Ich hatte mit ihm telefoniert und dabei einen Stand up Comedian vor mir gesehen, der sich beim Abschaben der Netzhaut tolle Gags ausdenkt, mit denen er sein Publikum am Abend zur Raserei treiben will. Hoffentlich ist bald Feierabend, denkt so ein Arzt mit hoher Wahrscheinlichkeit, während er Netzhaut abschabt, ich hab heut super Witze drauf.
Nach dem Eingriff musste mein Vater eine Nacht im Krankenhaus verbringen, zur Beobachtung wie es hieß, doch schon am nächsten Vormittag, unmittelbar nach der Chef-Visite, könnten wir ihn abholen. Man würde uns anrufen.
Am nächsten Morgen saßen wir zu Hause und warteten auf den Anruf. Ein heisser Tag. Subtropisch. So hoch die Luftfeuchtigkeit, als würde man mit einem Fisch im Gesicht rumsitzen. Und kein Anruf. Nicht um neun, nicht um halb zehn.
Ruf da mal an, sagte die Gräfin.
Warum sollte ich?Die haben doch gesagt, die rufen an.
Schon, aber du weißt doch, wie das heute ist. Die eine Hand weiß nicht, was die andere Hand tut. Beziehungsweise, die eine Hand hat gar keine Lust zu wissen, ob es noch eine andere Hand gibt.
Eine kluge Frau, aber nicht immer verstehe ich auf Anhieb, was sie meint. Dann lasse ich es erst mal so stehen und schaue es mir später noch mal an. Wenn etwas Muße einkehrt.
Um elf rief ich in Wuppertal an. Was mit meinem Vater los sei. Ob wir ihn abholen können.
"Ja natürlich kann Ihr Vater abgeholt werden. Der sitzt schon seit zwei Stunden im Gang!"
Um die Stimmung aufzulockern, erzählte die Gräfin auf der Fahrt nach Wuppertal aus der Zeit, als sie noch an drei Tagen die Woche Bio-Gemüse ausfuhr, mit dem großen Lieferwagen.
"Einmal lief im Autoradio School von Supertramp genau in dem Moment, als ich an einer grossen Gesamtschule vorbeikam. Es war Ferienbeginn und Hunderte Jungs und Mädels strömten über die Straße, waren gut drauf, es war ein einziges Gepfeife und Gejohle, dazu I can see you in the morning when you go to schoolso laut, dass fast die Boxen durchknallten - ein gewaltiger Moment."
Wir sangen den Refrain, wussten aber schnell nicht weiter. Zu lange her. School, Supertramp. Ein Lied, drei Minuten, tausend Spuren. Ich seh noch das tiefblaue Album-Cover vor mir, mit dem Universum und dem Kanaldeckel.
"He.. Wohin jetzt..?! Guck mal auf den Zettel!"
Ich schnappte mir den Computerausdruck von der Ablage und las hastig die Wegbeschreibung vor, die wir aus dem Internet gezogen hatten.
"Warum hat dir dein Bruder eigentlich so umständlich den Weg erklärt?" meinte die Gräfin, als wir wieder in der Spur waren. "So ist doch viel einfacher."
"Keine Ahnung."
Am Telefon hatte mir mein Bruder den Weg zur Helios-Klinik Wuppertal beschrieben, aber über Autobahn. Die A 46. Weil wir die aber vermeiden wollten, hatten wir im Internet eine Alternativ-Route herausgesucht, über Wuppertal-Cronenberg, ohne Autobahn. Da brauchten wir die Routenführung meines Bruders nicht mehr. Viele Wege führen nach Rom, einer nach Amarillo und mindestens zwei nach Wuppertal.
Vom Hahner Berg aus steuerten wir Elberfeld an. Meilenweit ging es bergab, in Serpentinen runter in die große graue Betonpfanne, in deren Mitte die Wupper verläuft.
Helios Klinik.
Die Gräfin parkte direkt vorm Eingang, damit mein Vater nicht weit zu laufen hatte. In der hotelähnlichen Lobby hielt ich Ausschau nach dem alten Mann, den ich in den zwei Jahren seit Mutters Tod besser kennengelernt hatte als in all der Zeit zuvor. Wir waren fast so etwas wie Freunde geworden. Vater und Sohn-Freunde.
"Der ist bestimmt noch auf Station", vermutete die Gräfin.
"Wir möchten gern meinen Vater abholen", sagte ich an der Rezeption. "Ein Freund von mir. Er ist gestern operiert worden."
Die Dame blickte auf den Monitor, sagte nichts.
"Haus 2", schob ich hinterher.
"Haus 2 gibts hier nicht. Wie war der Name?"
"Glumm.."
"Ja, hier, Glumm.. Der ist aber doch in der Augenklinik."
"Ja, klar. Ist das hier nicht die Augenklinik?! Das ist doch.. die Helios-Klinik hier, oder nicht?"
"Es gibt zwei Helios-Kliniken in Wuppertal. Hier in Elberfeld die Haut- und Herz-Klinik, und die Augenklinik in Barmen. Da ist wohl was falsch gelaufen. Sie müssen auf die Friedrich Engels-Allee, dann unter der Schwebebahn her immer geradeaus, bis der SATURN kommt, und dann links rein.."
Als wir bewaffnet mit der neuen Wegbeschreibung losfuhren, brach ohne Umschweife der Verkehr zusammen, und wir saßen in einer staubigen Seitenstraße fest. Nun sind Seitenstraßen in Elberfeld grundsätzlich staubig und eine Einbahnstraße, aus der kaum jemand herausfindet, schon gar nicht Auswärtige. Es ist, als wolle diese große graue Stadt niemanden aus ihren Klauen lassen, den sie sich einmal einverleibt hat.
"Was man hat, hat man." (Wuppertal)
Es wurde knallheiß im Wagen. Das war der subtropische Hochdruckgürtel, ich hatte davon im Radio gehört. Der subtropische Hochdruckgürtel schob sich von Afrika aus nach Norden und sorgte für tonnenweise Sonnenschein in Europa. Natürlich hätte man das Fenster runterkurbeln können, doch dann wäre es im Wagen stickig UND unerträglich laut gewesen. Ich stöhnte auf, angepisst vom ewigen Stop and Go.
"Hoffentlich behält wenigstens mein Vater die Nerven."
Er ist 86 Jahre alt, Witwer, Pflegestufe 1. Morgens und abends kommt der Pflegedienst, der darauf achtet, dass er regelmäßig Medikamente einnimmt und saubere Füße hat. Er hat Alterszucker und ist oft wackelig auf den Beinen, doch von einem Rollator oder einem Gehstock will er nichts wissen. Außerdem ist er schwerhörig, weigert sich aber beharrlich, die Hörapparate zu tragen. Einzig die Sennheiser-Kopfhörer, die er abends in den Fernseher einstöpselt, finden seine Gnade - aber auch nur, weil er ohne Kopfhörer die Lautstärke so hochschrauben müsste, dass ihm die Nachbarn aufs Dach steigen.
Zuletzt wurden auch die Augen schlechter. Um überhaupt noch Zeitung lesen zu können, musste er mit zwei Lupen arbeiten, übereinander arrangiert, wie olympische Ringe.
"Man muss das Alter sportlich nehmen", sagte er. Ein schöner Satz. Dummerweise war er zeitlebens alles mögliche gewesen, nur kein Sportler.
Am Tag vor dem Termin im Krankenhaus hatte ich ihm geholfen, ein paar Sachen einzupacken, von den vielen verschiedenen Medikamenten über den Einweisungsschein bis hin zum Kulturbeutel.
Er hatte an Rasierzeugs gedacht, Seife, Zahnbürste, Zahnpasta, Haftcreme, Haarkamm, Waschlappen, Unterwäsche zum Wechseln, (darunter auch eine lange Unterhose, falls das Wetter umschlagen sollte), zwei Paar Strümpfe, zwei Flaschen Mineralwasser und eine rote Wasserpumpenzange, mit der sich die störrischen Verschlüsse von Mineralwasserflaschen leichter aufdrehen lassen.
Weiter an einen Kugelschreiber, Schreibblock, Ersatzkugelschreiber und ein Paar schluffiger Hausschuhe. Um den Hals trug er einen Brustbeutel mit 300 Euro drin. Und obwohl jedes Krankenhaus in Deutschland Patientenkleidung stellt, hatte er einen frischen Schlafanzug eingerollt. Der lag obenauf.
"Sag mal, Papa, willst du einen ganzen Monat dableiben?? Das ist doch nur für eine Nacht. Was willst du mit dem ganzen Kram?"
"Bei der OP könnte doch was schiefgehen und dann muss ich länger im Spital bleiben. Man muss für alle Eventualitäten gerüstet sein."
Damit hätte ich natürlich rechnen müssen. Ängstlichkeit war sein Hauptwesensmerkmal, noch vor dem Humor. Er versuchte stets gewappnet zu sein. Da wunderte es nur, dass er keinen Regenschirm mitgenommen hatte, und ich hütete mich, ihn darauf hinzuweisen.
Es war ein bisschen wie früher, wenn wir mit der ganzen Familie zum Gardasee in Campingurlaub gefahren sind und der Ford 20M so überladen war, dass er es kaum den Großglockner hochschaffte. Oben angekommen, verschnaufte der Motor eine halbe Stunde, es dampfte und zischte bei hochgeklappter Motorhaube, und die Berggipfel trugen Schnee, obwohl Sommer war.
"Da ist der SATURN schon! Verdammt!"
Im letzten Moment nahm die Gräfin die Leuchtreklame wahr und riss das Steuer herum. Der Wagen rutschte quietschend über die gesamte Kreuzung, wie im Krimi, und sie ordnete sich links ein, vor der Ampel.
"Oder war das rechts..? Muss ich rechts rein?? Was hat die Tante von der Helios-Klinik noch mal gesagt!? Kannst du vielleicht auch mal mitdenken?!!"
"Rechts..", sagte ich.
"Bist du sicher?"
"Ja natürlich."
Natürlich war ich mir nicht sicher, ob sie links oder rechts gesagt hatte, aber das war jetzt definitiv kein Moment, um auf dem Beifahrersitz Unsicherheiten zu zeigen. Keine Zeit zu schwächeln, Baby - der alte Herr wartet auf uns.
Die Klinik in Barmen entpuppte sich als Katastrophe. Als ich das Zimmer öffnete dachte ich zuerst, es handele sich um die Abstellkammer einer 50er Jahre-Seifenoper und schloss die Tür schnell wieder. Doch es war das richtige Zimmer, wie ich herausfand, aber mein Vater war nicht darin, das Bett leer.
Zurück auf dem Gang entdeckte ich ihn, durch eine dicke Glasscheibe. Er hockte im Warteraum, mit wehendem Haar (im Sitzen!) und Augenklappe. Ein Häufchen Elend.
"Gott sei Dank", mehr war aus ihm nicht herauszukriegen, als er mich sah, "Gott sei Dank, dass ihr da seid..!"
Ich nahm die Sporttasche vom Boden und half ihm auf die Beine.
"Tut mir leid, es hat was länger gedauert."
Er machte einen gebrechlichen Eindruck und war so durcheinander, dass mir mulmig wurde. Sein schlingernder Gang erinnerte an ein leck geschlagenes Schiff, wenn das Wasser in den unteren Mannschaftsräumen hin und her schwappt. Ich hakte ihn fest bei mir unter.
Die Gräfin kam hinzu, von der Besuchertoilette, und erschrak bei seinem desolaten Anblick. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es nicht zu zeigen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Meine Schwiegertochter", hauchte Vater, als würde er sie vorstellen wollen. Da war aber niemand. Er sah aus wie Frankenstein.
"Wartet mal eben", sagte ich und machte mich auf die Suche nach einem Arzt oder einem Pfleger oder sonst wem, der etwas zum Zustand meines Vaters sagen konnte. Die Gräfin erzählte später, ich wäre wie Mein Vater, mein Vater! sein Auge!über den Krankenhausflur geflogen, so sehr war ich in Sorge.
Die ganze vermaledeite Station wirkte auf mich wie ein Nachkriegsprovisorium, es war kaum Ernst zu nehmen. Aber es war Ernst. Es war sogar so ernst, dass ich lachen musste. Ich kam mir vor wie Samstags in der Ladenpassage, wo einen die Passanten (Patienten) anrempeln, wenn man nicht fix genug ist von einem Shop in den nächsten.
"Ja, mit Ihrem Vater ist alles in Ordnung", deutete ich das desinteressierte Gemurmel eines Pflegers, den ich im Zimmer der Pflegedienstleitung fand und festnagelte.
Er saß am Rechner und widmete sich sofort wieder dem PC-Monitor, sobald er sein Sprüchlein runtergemümmelt hatte, dass mit meinem Vater alles in bester Ordnung sei.
"Äh.. muss ich denn.. müssen wir heute irgendetwas beachten.. in den nächsten Stunden..?"
"Das steht alles im Entlassungsbrief."
"Aha. Und wo ist der?"
"Wer?"
"Der Entlassungsbrief."
"Den hat er dabei."
"Wo?"
"Na, in seiner.. Jacke. Schätze ich."
"Na gut. Schau ich gleich nach. Es hat also alles geklappt bei der Operation?"
"JA!!"
Der Pfleger hob gefrustet den Blick und warf die Tür zu. Dabei war ich nur so nervig, weil mein Vater wirklich schlimm aussah. Wie sich seinem schwerfälligen Gestammel entnehmen liess, hatte er in der vergangenen Nacht keine Sekunde geschlafen. Er nahm die Augenklappe ab.
"Seht mal."
Während er weitersprach, trat das blutunterlaufene operierte Auge aus seiner Höhle hervor wie ein klumpiger Goldfisch. Ein klumpiger Frankenstein-Goldfisch.
"Tu die Klappe wieder auf", sagte ich.
Sobald wir im Parkhaus Ebene O erreichten und Vater auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, legte er sich lang und versuchte zu schlafen. Wie ein Schulbub lag er da, der ein Mittagsschläfchen halten wollte. Kaum eine Minute später saß er wieder aufrecht.
"Ich hab heut morgen grün geschissen."
"Du hast was..?"
"Grün geschissen. Echt. Wie Spinat."
In Solingen angekommen, hatte er nur noch eins im Sinn: ein halbes Hähnchen vom Grill und dann ab ins Bett. Während wir im Wagen auf den Gockel warteten, versuchte er vom Klinikaufenthalt zu erzählen, doch er verlor ständig den Faden. Gemein war den angebrochenen Schilderungen nur eines: Die Station schien überzuquellen vor lauter Augenklappen und bandagierten Gesichtshälften.
Morgen ist das andere Auge dran.