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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Geheimtipp

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Abend für Abend saß ich am Radio, den Finger an der Aufnahmetaste des Cassettenrekorders, und hörte Popshop und Radiothek. Und BFBS, den englischen Soldatensender im Rheinland. Ich war vernarrt in Hitlisten. Natürlich war Rang 1 toll, aber Platz 16 fand ich auch spannend. Besonders die Billboard-Charts aus den USA und die BBC Top Twenty hatten es mir angetan, sie entsprachen mehr meinem Geschmack als deutsche James Last-Kacke.

Es gab Überraschungen. Da waren Songs, die schafften es einfach nicht nach Europa. Oft waren es Schmonzetten wie All by myself von Eric Carmen, die sich in den USA millionenfach verkauften, hierzulande aber chancenlos waren, kaum im Radio liefen. Songs, die oft einen Tick zu zuckrig waren für europäische Ohren, überladen mit Geigen und es wird alles gut.

Ein Indikator, welchen Stellenwert ein 70er Jahre-Oldie heute noch in den USA hat, ist sein Einsatz in TV-Seifenopern. Je öfter ein Oldie in Scrubs& Co. zitiert wird, desto gesicherter lässt sich davon ausgehen, dass er in Amerika Kultcharakter hat.

Oder eben nicht. Dass er also auch nach Jahren des Abhängens in speziellen Kult-Kammern Geheimtipp geblieben ist, dass er diesem Stadium nie entwachsen ist. Ein schöner Song, sagt man vielleicht, doch er hat es nie geschafft sich zu verpuppen, ist nie ein Schmetterling geworden.

Ob solch ein Song Kultstatus hat, lässt sich auf die Schnelle auch googeln, logisch. Schau dir die Anzahl der Aufrufe eines Videos auf You Tube an, und weisst Bescheid.

Doch die wirklichen Geheimtipps findet man auf You Tube nicht. Ein echter Geheimtipp, das ist wie Mord, bei dem die Leiche nicht gefunden wird. Es bleibt unbefriedigend, obwohl richtig was los war am Tatort. Manchmal hat die Spurensicherung Fehler gemacht, oder die Öffentlichkeitsarbeit war miserabel. Und manchmal ist einfach Pech im Spiel.

Und dann gibt es Songs, wo die Leiche plötzlich doch noch auftaucht - viele Jahre nach dem Mordanschlag. Ein Song wie Why did you do it von Stretch. Als die Nummer 1975 erschien, fand ich sie großartig, ich hatte sie aus dem Radioprogramm mitgeschnitten. Doch so toll ich Why did you do it auch fand, ich hörte den Song nur bei mir zuhause auf Cassette, nirgends sonst. Er ging unter in dem Wust an Neuerscheinungen, zu einer Zeit, als der Glitter-Rock explodierte und der Disco-Soul a la Barry White und Gloria Gaynor erste Runden drehte.

Knapp zehn Jahre später spielte ein DJ Why did you do it plötzlich im Daddy, einem Soul-Club am Stradtrand, und das Ding wurde posthum ein Monsterhit.

Das Problem bei jedem Song, der zum Hit mutiert: Er wird Allgemeingut. Er läuft überall, man hört ihn im Radio, im Supermarkt, im Club, im Auto und bei Freunden - man kann ihm nicht entrinnen. Die Ohren gewöhnen sich so sehr an die Musik, dass das Besondere daran mehr und mehr untergeht. Bei völliger Überbeanspruchung kann es sogar passieren, dass man zuletzt gar nicht mehr weiss, was einen an dieser Nummer je gereizt hatte.

Das geschieht nicht nur bei zu Tode genudelten Sommerhits wie Macarena von Los del Rio aus dem Jahre 1993, mir ist es, allgemeiner gesprochen, mit dem Saxofon so ergangen. Irgendwann in den frühen 80ern wunderte es mich, warum in der Popmusik so selten Saxofon eingesetzt wurde. Ich wünschte mir sehnlichst Songs mit Saxofonsolo.

Und als hätte gleich eine ganze Armada von Produzenten mitgehört, war plötzlich in jedem dritten Song ein verdammtes Sax zu hören. Ich fasste es nicht - und es gefiel mir nicht. Das Besondere war zur Banalität geworden, allein durch die schiere Masse.

Seit dieser Erfahrung sehe ich manches anders. Hätte ich mir beispielsweise früher sehr viel mehr Zuspruch für die Musik Jonathan Richmans oder Kevin Ayers gewünscht, so halte ich mich mittlerweile mit solchen Wünschen zurück. Geheimtipp soll Geheimtipp bleiben. Buddeln soll Spaß machen. Denn da draussen liegen noch Hunderte der herrlichsten Leichname herum, Freunde der Nacht, verborgen in Gebüschen, verscharrt auf Vinyl. Und so soll es sein, Freunde.


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