Ich weiß nicht, ob er wirklich ständig diese gemütlichen Norwegerpullis trug, doch in meiner Erinnerung ist Hobs das Urbild eines Klassenkameraden, der gemütliche braune Norwegerpullover trug und ein bisschen zu langsam war für die Welt.
Hobs wohnte keine fünf Minuten Fußweg entfernt auf der Kuller Straße, in einem viergeschossigen Gründerzeitbau mit düsteren Erkern und Spitzgiebeln. Sein Kinderzimmer müffelte, die schweren Vorhänge waren zugezogen. Er war ein Einzelkind. Ein bedächtiger Typ, schlurfender Gang. Er hatte zwanzig Pfund zu viel drauf, und auf seiner Nase saß eine Hornbrille mit Gläsern dick wie Panzerglas.
Aber Hobs war der erste in der gesamten Unterstufe, der in den Stimmbruch kam, und das war ja auch was wert. Das war sogar unsere kurzfristige Leitwährung, der temporäre Superdollar in unserer Klasse, die ausnahmslos aus Jungs bestand. Höhere Bürgerschule für Jungen. Traditionsgymnasium.
An diesem Tag hatte ich Tafel-und Türdienst. Das bedeutete, die Tafel sauber halten und zu Beginn jeder Stunde bei geöffneter Klassenzimmertür auf den Lehrer warten, ihm einen guten Morgen wünschen und die Tür hinter ihm schliessen.
Hobs war spät dran an diesem Tag, und außer Atem.
“Ich war gestern beim Arzt. Ich bin im Stimmbruch”, sprach er die historischen Worte und eilte zu seinem Platz. Ich blickte ihm erschrocken hinterher. Jetzt, wo er es gesagt hatte, hörte ich es auch, den merkwürdigen Aufzugsound in seiner Kehle, als würde dort jemand lustig hoch und runterfahren und mal mit rasselnden Stiefeln im Keller aussteigen, mal in Frauensandalen oben unterm Dach.
Da war richtig was los.
Im Alter von elf, zwölf Jahren nimmt man alles sehr genau. Man sucht solide Freunde, man probiert aus, man wird selber ausprobiert. Zum zwölften Geburtstag lud Hobs mich auf seine Party ein. Kindergeburtstag konnte man ja nicht mehr sagen, Party aber auch nicht. Es war Nachmittag. Es gab Napfkuchen und Kakao, die schweren Vorhänge waren zugezogen, und Hobs spielte neue Pop-Singles.
Obwohl er den schwerfälligen, beinah gestrigen Eindruck eines Schlagerfans machte, er stand auf Pop. Nicht nur das, er kannte sich sogar mit US-Neuerscheinungen aus, was mir imponierte. (In den 80ern machte er eine lokale Karriere als Rock-DJ.)
Zum Geburtstag schenkte ich ihm die Single He’s gonna step on you again von John Kongos. Eine rockige Nummer, die wie Johnny Wakelings In Zaire direkt aus dem Dschungel zu kommen schien, getrieben von Buschtrommeln und einem sich wiederholenden Gitarrenriff, der sich wie eine Liane durch den Song schwang, wobei – die B-Seite fand ich noch besser.
John Kongos an der Akustikgitarre, Sometimes it’s not enough (when you use only words).
Ich wusste nicht, ob Hobs mit der Musik von John Kongos etwas anfangen konnte, denn auch wenn er Ahnung zu haben schien von der Materie, was ihm gefiel wusste niemand, da hielt er sich bedeckt. Aber dass ich ihm überhaupt eine 45er-Single geschenkt hatte, löste ein freudiges Funkeln in ihm aus. Von diesem Tag an waren wir eine Weile Verbündete. Wir gingen sogar gemeinsam ins Kino. “Als die Frauen noch Schwänze hatten”, “Ben Hur”, Filme, die im Roxy in der Nordstadt liefen.
Mitten in der Vorstellung fiel es mir ein. Mir wurde heiß, es kam wie ein Überfallkommando.
Erst war ich mir nicht sicher, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto verzweifelter wurde ich. Am liebsten wäre ich sofort aus dem Kinosessel gesprungen und nach Hause gedampft, um zu sehen, was los war. Was ich da angerichtet hatte.
Denn obwohl ich es mir wieder und wieder durch den Kopf gehen liess, ich konnte mich nicht exakt erinnern. Ich konnte mir nicht sicher sein. So blieb ich sitzen bis zum Abspann. Gequält. Stumm. Schuldig.
Ans Kreuz genagelt den Halunken!
Das Sex-Heft hatte ich im Schlafzimmer meiner Eltern gefunden, unter Stapeln frischer Wäsche. Zuerst verdächtigte ich Onkel Fitting, dass er es dort deponiert hatte. Doch wie zum Teufel sollte mein Patenonkel, dem ich eigentlich alles zutraute, weil er ein Luftikus war, unbemerkt ein Sexheft im Wäscheschrank meiner Eltern versteckt haben? Es war verwirrend, es gab keinen Sinn. Und wenn Onkel Fitting es nicht war, wer dann? Meine Eltern selbst etwa?
Doch was hatten Vater und Mutter mit Sex am Hut!
Es war kein richtiges Pornoheft, es war ein Magazin, druckfrisch. Der Geruch steigt mir bis heute in die Nase, wenn ich ein Hochglanzprospekt in der Hand halte, es ist der gleiche Geruch, die gleiche Verheißung. Ich ziehe ein Möbel-Prospekt aus dem Briefkasten und was rieche ich?
Mösen und Möpse.
Eine Foto-Story im Mittelteil drehte sich um Masturbation. Ein junges Paar aus Skandinavien schildert, wie es sich jedes Wochenende um den Verstand wichst und gegenseitig dabei zusieht.
“Zum Schluß ejakuliert Johan nur noch kleine hektische Tröpfchen”, las ich.
Immer, wenn ich alleine in der Wohnung war, holte ich das Heft hervor. Wenn ich genug hatte, legte ich es zurück in den Schlafzimmerschrank, so, wie ich es vorgefunden hatte, in derselben Position unter der Wäsche, damit bloß kein Verdacht aufkam.
An diesem Tag aber hatte ich es eilig gehabt, ich wäre fast zu spät zum Kino gekommen, ich war mit Hobs verabredet gewesen, das Heft blieb versehentlich auf meinem Bett liegen.
Das heisst, ich war mir nicht sicher. Vielleicht hatte ich es ja doch zurückgebracht.. Im Kinosessel versuchte ich mir den Weg vom Kinder- ins Schlafzimmer vorzustellen, wieder und wieder durchschritt ich den langen Flur, mal mit, mal ohne Heft in der Hand.
Doch je öfter ich es durchspielte, desto sicherer schien mir, dass ich das Heft auf meinem Bett vergessen hatte. Natürlich, es lag aufgeschlagen auf meinem Bett, und meine Mutter hatte es längst gefunden und wartete nur auf mich, um mit mir abzurechnen. Das Drama hatte mich nur noch nicht erreicht, in der Sicherheit des dunklen Nordstadt-Kinos.
Das Roxy hatte das härteste Gestühl aller Lichtspielhäuser.
Je länger die Ungewissheit dauerte, desto verfahrener wurde die Situation. Es gab noch andere Optionen. Zum Beispiel: Vielleicht hatte Mutter das Heft gefunden, es aber aus Scham heimlich an sich genommen. Vielleicht würde sie kein Wort darüber verlieren, weil es auch für sie und Vater peinlich war.
Oder, schlimmer: Vielleicht hatte sie gar nichts gewusst von dem Sex-Heft. Vielleicht hatte Vater das Magazin für seinen Bruder, Onkel Fitting, in ihrem Schlafzimmer versteckt, und nun war durch meine Schusseligkeit alles ans Tageslicht gekommen und ein Riesentrarara im Gange.
Als ich endlich die Wohnungstür aufschloss, war Mutter schon in der Diele und stürzte auf mich zu.
“Mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen, mein Sohn” zischte sie böse und suchte meinen Blick. “Was hast du in unseren Sachen zu suchen?!”
Auch wenn ich damit gerechnet hatte, dass sie aufgebracht sein würde, nun, wo es soweit war, rutschte mir das Herz in die Hose, und andere Sachen direkt hinterher.
Das Roxy machte wenig später dicht. Dracula jagt Mini-Mädchen war der letzte Film, der gezeigt wurde, aber Hobs und ich sahen ihn uns nicht an. Das ging auch gar nicht, denn ich hatte Stubenarrest gekriegt.
Ich war allein in der Wohnung.
*
Auf Glumm: