
Frau Moll steigt aus dem Teich und schüttelt sich die Entengrütze aus dem Fell. Sie sieht aus wie eine Südsee-Sängerin in ihrem brackigen Hula-Hula-Röckchen. Hinter ihr steht Taylor, er ist Frau Moll aus dem Wasser gefolgt und schnuppert ihr am Hintern, mit zittrigen Lefzen.
Taylor ist ein bulliger schwarzer Labradorrüde aus der Nachbarschaft, er ist verrückt nach Frau Moll. Wenn es sich irgendwie managen läßt, sucht er ihren Windschatten und schnuppert an ihrem Hintern.
Die Beiden hatten Nachlaufen in der prallen Sonne gespielt und waren mit einem Riesensatz in den Ententeich unter der großen Trauerweide gesprungen.
Platsch!
Die Stimme von Taylors Herrchen rollt durch den Park, "TAYYYYY-LORRRRHH!"
Ist mal wieder abgehauen, der Bursche.
"Du wirst schon gesucht, lauf, dein Herrchen sucht dich!"
Frau Moll und ich verlassen die Parkanlage, die schönste der Stadt, und schlagen den Weg Richtung Schillerstraße ein, entlang den alten Straßenbahnschienen - einsames vertrautes Terrain der Kindheitstage. Wo ich mir schon mit Pille Hilger und Wiwi Wupperbusch die erste Kippe geteilt hab, eine überwürzte Attika, vor Tausenden von Tagen.
Einmal hing im Dornengebüsch dieser lange, vollgewichste Pariser, der als Gesprächsthema für eine ganze Woche herhalten musste. Bis sich endlich herausstellte, dass ich es gewesen war, der die Lümmeltüte aus der Schlafzimmerkommode seiner Eltern stiebitzt und mit Rotze aufgefüllt hatte.
Was hatte ich ein Trara veranstaltet. Erst tat ich so, als hätte ich das Gummi gerade gefunden, von einem Zweig runterhängend, "was ist das denn hier, guckt mal!" Aber das bekam niemand mit, also platzierte ich das Kondom an einer Dornenhecke und versuchte es ein weiteres Mal.
"WAS IST DAS DENN HIER..!!?"
"Fass das nicht an", sagte Pille ängstlich, und auch Wiwi und die dicke Patrizia warnten mich, den gut gefüllten Pariser anzupacken, doch ich nahm es wagemutig aus der Hecke und - blies es auf, wie einen Luftballon! Sagen wir, ich versuchte es, wohlwissend, dass die Spitze des durchhängenden Säckchen nicht voller Sperma war, sondern meiner eigenen Spucke.
"IIHH, TU DAS NICHT..! BIST DU WAAHNSINNIG!??"
Im Herbst 1969 absolvierte die Solinger Straßenbahn ihrer rumpelnde Abschiedsfahrt, die Strecke war mit Wimpeln ausstaffiert und führte in unserer Nähe her. Wir saßen zu dritt im Gebüsch und spielten Flaschendrehen mit der dicken Patrizia, danach wurde der Linienverkehr eingestellt, endgültig. Bald waren auch die Schienen verschwunden, nur die Schottersteine blieben, wo sie waren, wurden Teil der Natur:
bis heute.
Wer sich mit der Schuhspitze durchs Geröll gräbt, kann noch etwas hören, lizenzfrei, vom metallischen Quietschen der Straßenbahnräder, vom Knurren der Schaffner, das Anfahrtsläuten. Die Vergangenheit ist bloß eine Schuhspitze entfernt.
Die Vergangenheit ist immer bloß eine Schuhspitze entfernt.
(Nicht immer lizentfrei.)
Frau Moll läuft voraus. Außer Frau Moll hätte die Gräfin noch gern eine Ratte zum Mitnehmen auf der Schulter. "Aber die muß aussehen wie ein Kätzchen. Jedenfalls schnurren."
Ein feinfühliger Hund, Frau Moll. Noch am Morgen kam sie ans Bett und ließ die lange nasse Zunge durch die Luft flappen, weil sie genau weiß, dass ich es auf den Tod nichts ausstehen kann, mit einem Schlecker durchs Gesicht geweckt zu werden. Also leckt sie schwungvoll durch die Luft, nah an meinem Gesicht, aber nicht so nah, dass ich fliegenden Speichel abbekomme. Ein feinfühliger Hund, und mit mir auf den alten Bahnschienen unterwegs.
In einiger Entfernung kommt uns jemand entgegen, ebenfalls mit Hund. Moment, ist das nicht..? Ja klar ist der das! Der blöde Malorney, den alle nur den Major nannten. Kommt uns übers Geröll entgegen, einen kleinen Hund an der Leine. Wohnt der immer noch hier..! Der Major. Ab und an sehe ich ihn auf einem Zehntonner-Diesel durch die Straßen brettern, dann grüsst er lässig, die Hand an der Schirmmütze. Er fährt für eine Tiefbaufirma.
"Hallöchen! Was macht dein Bruder?" fragt der Major. "Arbeitet der immer noch in der Lukas-Klinik?"
"Du meinst meinen Cousin. Mein Cousin ist Arzt, nicht mein Bruder. Der ist kein Arzt."
Der Major ist irritiert. "Na.. der da."
"Nee, mein Cousin arbeitet nicht mehr in der Lukas-Klinik. Der arbeitet woanders."
"Och, auch gut. Hauptsache Arbeit."
Der Major hat ein aufdringlich schiefe Gebiss, so als hätte der liebe Gott bei seiner Geburt eine Handvoll Zähne in einen Würfelbecher geschmissen und gesagt: "So, jetzt sperr mal das Maul auf, Blödmann."
Frau Moll beschnuppert den kleinen Hund, der brav beim Herrchen hockt, und verschwindet hochnäsig im Gebüsch, in den Resten ihres grünen Hula-Hula-Röckchen, während der Major vor mir eine langsame Pirouette im Geröll dreht. Mh..? Was macht der denn!? Hat der sie nicht mehr alle? Ob das vom Lastwagenfahren kommt? Von den vielen Kurven?
"Hier geht doch alles den Bach runter", höre ich ihn sagen, und da erst geht mir auf, dass er schon die ganze Zeit den Mund auf hat und redet. "Auf dem Bau ist tote Hose, und sogar das Turm-Hotel hat dicht gemacht."
"Was..? Das Turm-Hotel??" Ich bin baff. "Seit wann das denn?!"
"Na, seit.. letztens", sagt der Major, überrascht von meiner Überraschung. "Stand doch überall in der Zeitung. Der Pächter hat das Handtuch geworfen. Geht doch alles den Bach runter hier."
"Ich hab da mal gejobbt im Hotel", sag ich, doch das interessiert den Major nicht. Er interessiert sich mehr für seinen Anteil an der Geschichte.
"Ich fahr wieder für den Konitzka", erzählt er. "Für den ich schon mal gefahren bin, acht Jahre lang. Und als ich mich letztens wieder vorgestellt hab, weisst du was der Alte da zu mir sagt?"
"Nee, das weiss ich nicht."
"Malorney, hat der Alte gesagt, du weisst ja, wo der Schnaps steht! Mahaaa!! Gut, ne?"
"Ja, gut. Dann ist das Hotel also pleite", sinniere ich.
"Na klar. Stand doch überall in der Zeitung, im Internet, im Fernsehen überall. Wir haben ja auch Kurzarbeit. Ist nichts zu tun auf dem Bau."
Dann dreht er sich wieder um die eigene Achse, dass das Geröll nur so knarzt. Ein Gerölltänzer! Ach so.
"Nee, klar", nicke ich zustimmend.
Die dicke Patrizia wohnte auch in der Gegend. Sie war das erste Mädchen, das mir seine Möse gezeigt hatte, hier an den alten Straßenbahnschienen. Da, wo es runter zum Tunnel ging, den sie erst zugeschüttet und dann abgerissen haben. Wahrscheinlich hatte die dicke Patrizia an diesem Tag eher ein Tauschgeschäft im Sinn: Ich zeig dir meins und du zeigst mir deins, aber das hatte ich falsch verstanden. Jedenfalls zeigte ihr gar nichts. Ich hatte mir nur kurz ihre Mumu angeguckt, mich umgedreht und war verstört nach Hause gegangen.
"Morgen muss ich noch mal auf den Bock, dann ist Wochenende. Ich fahr Drei-Tage-Woche. Ist ja nix zu tun auf dem Bau. Ist ne ganz laue Nummer."
"Nix zu tun, klar", sage ich in Gedanken.
Das Turm-Hotel ist also dicht. Das olle riesige Einwegfeuerzeug. Ich lach mich schlapp.
Die dicke Patricia hab ich Jahre später mal angerufen, aus einer Laune heraus.
"Ich wollte dich schon immer mal bumsen", sagte ich, da war ich dreiundzwanzig und immer scharf, wenn ich morgens aufwachte und Langeweile hatte. Ich hatte andauernd Langeweile mit 23, wenn ich aufwachte. Ich war andauernd scharf.
"Wer bist du?" fragte sie.
"Erkennst du mich nicht an meiner Stimme?" fragte ich.
"Nein", sagte sie unsicher.
Wir telefonierten noch eine Weile, ich verstellte meine Stimme nicht, doch sie kam nicht drauf, wer ich war.
"Komm doch mal vorbei", sagte sie schließlich. "Damit ich weiß, wer du bist."
Ein paar Wochen später besuchte ich sie. Ich hatte eine Trainingshose angezogen, ich war wie ein Jogger unterwegs, der rein zufällig in der Nähe gewesen war.
"Ach, du bist das", sagte sie.
Sie lebte mit ihrem Macker in einem Mietshaus, dessen langer Balkon auf jeder Etage ums ganze Haus reichte, wie die Reling eines Schiffes, wie ein riesig-langer Gürtel.
Es war Vormittag, ihr Macke bei der Arbeit. Das hatte sie mir am Telefon zu verstehen gegeben. Sie legte eine Platte von Tschaikovsky auf. Ich hatte noch nie Tschaikovsky gehört. Ich kannte die klassischen Komponisten vom Namen her, mehr nicht. Klassische Musik brachte mich zum Lachen, und Patrizia war noch dicker als früher. Es war absurd. Ich sah sie vor mir, wie sie als kleines Mädchen im Gebüsch gestanden und mit forscher Geste ihre kleine unbehaarte Möse präsentiert hatte, jetzt war es eine Walfischfotze.
Sie nahm ihn in den Mund. Ich kam insgesamt dreimal, und sie einmal, da bin ich gegangen, mit einem 3:1-Auswärtssieg in der Tasche, im Lokalderby.
Eine Woche später war ich noch mal da, da sah sie besser aus. Wir trennten uns remis.
"Rokko, komm", ruft der Major seinen Hund, der neben ihm wartet, und verabschiedet sich mit einer angedeuteten halben Drehung.
Der hat sie doch nicht mehr alle.