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Geht doch um nix

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Den ganzen Tag irrte ich durch die Gegend und versuchte sie zu erreichen, ich nahm jede Telefonzelle, die auf dem Weg lag. Wir hatten seit einer Woche nichts voneinander gehört, komplette Funkstille. Und nun, am achten Tag, ertrug ich es nicht mehr. Je öfter ich das Freizeichen hörte, desto bedrohlicher klang es - ich verblutete in Freizeichen. Ich musste sie sprechen. Ich musste wissen, was los ist.

Am frühen Abend, ich kam aus einer Kneipe nahe der Eislaufhalle, stand ich in der nächsten Telefonzelle, und endlich nahm sie den Hörer ab.

"..ja..?"

"Ich bin's..", sagte ich hastig.

Keine Reaktion. Schweigen. Weil die Tür sich nicht richtig schließen ließ, war es nicht nur laut im Telefonhäuschen, es war auch eisig kalt, das Licht eine Funzel.

"Wie gehts?" versuchte ich es betont beiläufig, doch keine Antwort, nichts. Bloß das Radio war zu hören, leise, im Hintergrund. Ihr kleines Transistorradio. Und Geraschel. War da jemand, ausser ihr..?

"Sag mal, sind wir eigentlich noch zusammen..??" hörte ich mich fragen, atemlos, wie von weit her. Das Echo einer tausend Mal nicht gestellten Frage.

Die Antwort eine Durchsage. Sie zog an einer Zigarette.

"Ich glaube.. nicht."

"Du glaubst.. nicht?"

Wieder starrte mich ein knatschgelbes Plakat mit schwarzer Balkenschrift an: FUNKTAXI. Ich kapierte es nicht. Ich hatte das Plakat in jedem zweiten Telefonhäuschen gesehen, es hatte überall genervt. Ich meine, jedes verdammte Taxi hatte Funk, was zum Henker sollte das sein, FUNKTAXI!?

"Und warum..? Wegen einem anderen?"

Sie zögerte.

".. ja.."

"Ist der da?"

".. ja schon.. aber du.. kennst ihn nicht."

"Gib ihn mir!"

"Was, jetzt?"

"Natürlich jetzt! Wann sonst?!"

Draussen stürmten Autos vorüber, Schnee spritzte auf, dreckiger Schnee. Gehupe. Ich wusste selbst nicht, was ich von ihm wollte. Die Scheiben der Telefonzelle beschlugen von meinem Atem. Was war das für ein Kerl?! Der Soldat, von dem sie kurz erzählt hatte? Der Junkie, der mit einer Knarre im Hosenbund rumgelaufen war und mich vorm Daddy abknallen wollte, hätte ich Lena in dieser Nacht nicht in Ruhe gelassen?

"Nussbaum", meldete sich eine Stimme, förmlich wie im Büro. Als hätte seine Sekretärin gerade durchgestellt. Was ein Spiesser!

"Hör zu, Junge. Lena ist seit fünf Jahren meine Freundin. Hast du sie schon gefickt? Warst du schon mit ihr im Bett?"

"Spielt das ne Rolle?"

"HAST DU SIE GEFICKT ODER NICHT?"

"Spielt das ne Rolle?"

"WENN'S KEINE ROLLE SPIELT", äffte ich ihn nach, "DANN GIB'S DOCH ZU, DU FEIGLING!"

Lena war wieder am Apparat.

"He, jetzt bleib mal cool.."

"Ich soll cool bleiben..? Du hast sie wohl nicht mehr alle! Ich komm jetzt bei dir vorbei und wehe, du bist nicht da.."

Ich fühlte mich mitten auf der Straße, zwisachen rollenden Lastwagen, im Aufblenden greller Scheinwerfer.

"DER TYP KANN MEINETWEGEN DA BLEIBEN!"

"Ja, komm vorbei", beschwichtigte sie mich, "aber.. soll der echt hier bleiben?"

"ER KANN AUCH VERSCHWINDEN! MIR DOCH.. EGAL!"

Ohne den Strassenverkehr wahrzunehmen, stürzte ich über die Kreuzung. Wenn ich schon vorher durch den Wind war und nahe am Nervenzusammenbruch durch die Gegend gestiefelt war, dann drehte ich jetzt komplett durch. Jetzt hob ich ab. Ab sofort waren alle Kampfbomber in der Luft. Die Stadt abgedunkelt.

Am Werwolf rein in die nächstbeste Kneipe, grosses Kölsch und 103er auf ex. Das gleiche direkt noch mal. Ich hatte den Namen der Spelunke vergessen, hier hatten Pepe, Karlos und ich als Teenies Schlankheitstropfen in unser Bier gemischt und waren weggesackt, zum Geklingel der Glücksspielautomaten. Der Pächter gab uns damals Hausverbot, wenig später war er pleite und machte in Kältetechnik, der Versager. Jetzt gab es Videoclips auf dem großen TV-Bildschirm zu sehen. Madonna tanzte zu Like a virgin. Like the very first time.. With your heartbeat.

Auf dem Weg zur Teufelsinsel pochte es ununterbrochen in mir. Wieso macht sie Schluss? Wegen einem Anderen?? Ihre Stimme klang irgendwie.. entschlossen. Gleich würde sie mir sagen, warum sie von mir weg wollte, und ich würde ihr hilflos ausgeliefert sein..

Lena zitterte mindestens genauso. Wir saßen vorm Nachtstromspeicher und blickten uns kaum in die Augen. Der Typ war weg. Er gegangen, bevor ich kam. Dieser Affe, sagte ich.

Was Neues wolle sie. Nicht jedes Wochenende fernsehen, baden, bei meinen Eltern zu Mittag essen. "Immer der gleiche triste Streifen." Ihre Jugend habe sie mit mir verbracht. Jetzt sei dieser Hunger da. Dieser Lebenshunger. Es gäbe keine Zukunft für uns. Alles, was sie sagte, riss mich in Stücke, nur die Klamotten hielten mich beieinander.

"Wer ist der Typ?"

"Der ist nett."

"Ja schon, aber wer..? Der blöde Soldat? Der Fixer?"

Sie lachte. "Der Soldat."

"Bist du verliebt?"

"Ja.. Ich glaub. Ja.."

Ich spürte, es würde sich nicht wieder einrenken wie die Male zuvor, diesmal war es anders. Sie wollte weg von mir. Ich hinderte sie an ihrer Entwicklung. Sie war so jung und hatte nur mich als Mann gehabt, sie wollte andere Männer ausprobieren. Verständlich, wenn nicht ich der Gelackmeierte in der Geschichte gewesen wäre. Ist doch klar, hätte ich gesagt.

Sie versuchte mich in ihre Arme zu schliessen, ich stiess sie fort, und rannte aus der Wohnung. Wie oft war ich aus der Wohnung gerannt, wenn wir Streit gehabt hatten, jedes Mal war Lena mir nachgerannt, auf Strümpfen, auf Asphalt, mitten in der Nacht, bei Regen, bei Schneefall. Zum Schluss war sie ein paar Mal rausgerannt und ich ihr nach, immer war irgendwer gerannt und der andere hinterher, diesmal nicht.

Ich blieb stehen. Ich sah sie am Fenster, eine Erscheinung. Sie machte keinerlei Anstalten, etwas zu tun, sie stand bloß da. Ich drehte mich um und stapfte los, die Hände in den Manteltaschen, durch die klirrend kalte Winternacht. Zwanzig Grad unter Null. Vereiste Dächer. Schneehaufen türmten sich.

Als ich eine dreiviertel Stunde später vor meiner Haustür stand, sträubte ich mich aufzuschließen. Die meiste Zeit hatten wir bei mir verbracht. Wegen der Buntkiste, der großen Badewanne, und überhaupt - die Schillerstrasse war unser Quartier gewesen.

Ich knallte mich aufs Bett. Wünschte mir, was alle Verlassenen sich wünschen, dass alles nur ein böser Traum wäre, doch für einen Traum hatten die Dinge eindeutig zu viel Hand und Fuß - nein, sie war zwanzig und hatte den Streifen satt, sie war lange genug Sonntag für Sonntag mit mir zu meinen Eltern gegangen, zum Gulasch essen. Es reicht, mein Freund. Mach dich vom Acker.

Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Immer wieder tauchte ihr kleiner Busen auf. Ihre Schenkel, in die jetzt irgendein gesichtsloses Schwein eindrang, ihre zärtlichen Worte. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie tot, ich war die Asche, und ich war der Wind, der durch die Asche zog und die Glut zum Glimmen brachte. Ich sprang aus dem Bett, zog mir den Parka über und lief durch den Schnee zur Telefonzelle Margaretenstraße. Ich musste mit ihr reden! Ich brauchte einen Hoffnungsschimmer. Es konnte nicht so einfach vorbei sein, so Knall - und aus!

Ich warf ein Markstück in den Schlitz. Wegen unbezahlter Rechnungen war mein eigenes Telefon seit Wochen gesperrt. Sie hatte meinen Anruf erwartet. Befürchtet. Ich fragte, ob es denn keine Möglichkeit mehr gäbe.

"Es gibt immer eine Möglichkeit", sagte sie, halb lieb, halb genervt. Sie wusste selbst nicht genau, was sie tat. Sie folgte ihrem Instinkt. Ich jammerte wie ein kleiner Junge, dem man das Lieblingsspielzeug weggenommen hatte, und der nicht verstand, warum. Nur weil er fünf Jahre lang immer das gleiche getan hatte..? Was konnte daran falsch sein, wenn es doch am Anfang richtig gewesen war??!

"Was soll ich denn machen ohne dich?!"

"Pack meine Sachen zusammen.. Stell ein paar Möbel um. Ich weiß es nicht."

Wieder starrte mich ein FUNKTAXI-Plakat an.

"Du musst stark sein. Du bist nicht so schwach, wie du jetzt glaubst. Und lass mir Zeit, ich blicke selbst nicht durch, was in meinem Kopf abläuft. Es ist so.. so durcheinander.."

Ich schlich nach Hause und haute mich hin. Ich lag im Dunkeln, ich betete, die Nacht möge bald ein Ende haben, doch als es endlich hell wurde, als das Licht zurückkehrte, baute sich etwas viel gräßlicheres vor mir auf: die Angst vor dem Sonntag.

Sonntag. Der magische Sonntag. Im Tierpark. Sie trug ihr braunes Indianerkleid und war gut gelaunt.

"Los, zu den Kamelen!"

Im Freigehege rekelten sich zwei Lamas in der Nachmittagssonne, sie  malmten Gras.

"Beiß mich", flüsterte Lena, die mal behauptet hatte, ein Fußkettchen hätte ihr gesamtes Leben umgekrempelt. Ich lugte hinüber zu den Lamas, bückte mich, und biss zu. Das Kettchen knirschte.

Vorm Gehege der Stachelschweine wartete ein Tierpfleger mit Harke in der Hand und Pfeife im Mund. Er versuchte uns irgendwas zu erklären, nuschelte aber so unverständlich, wir kapierten kein Wort. Da erst erkannte ich ihn wieder.

"Der Knabe arbeitet schon lange hier", flüsterte ich, "als Arsch für alles."

"Hm?" fragte Lena.

"Na, als ich hier mit Pepe Arbeitsstunden machen musste, war er auch schon hier."

Ich zeigte Lena den Stall der schwarzen Zwergziegen, den Pepe und ich jeden Morgen ausmisten mussten. Einmal haute ein kleiner Bock ab, weil ich vergessen hatte, das Gatter zu schließen.

"Vergessen, genau" meinte Lena. "Du meinst, ihr ward mal wieder bekifft bis zum Kragen."

"Ist ja auch egal. Jedenfalls ist der Ziegenbock durchs Gehege der Truthähne geflüchtet, das gab ein Mordsaufruhr und es dauerte, bis wir ihn endlich wieder im Stall hatten."

"Tolle Sache."

Auf Kieselsteinen weiter zum Exotenhaus. Javaneraffen turnten an nackten Stahlgerüsten. Früher, auf Bali, in ihrer Heimat, galten sie als heilig. Unantastbar. 

Weit unten im Wildgatter, zwischen Mufflon und Rehkitz, fanden wir eine schattige Bank. Wir waren allein auf weiter Flur. Lena zog die Nylonstrümpfe aus und stieg auf meinen Schoß. Schob ihren Slip beiseite. Ich schmeckte ihren Hals. "Los, du Vieh!" feuerte sie mich an, und wir mussten lachen. Küsse. Papageienschreie. Rote Flecken. Die Bank kippte genau im richtigen Moment.

Bis in den Nachmittag hinein blieb ich im Bett. Ich war wie gelähmt. Rauchte tausend Kippen. Dann badete ich, doch ich weiß nicht, wie oft wir Platznot hatten in dieser Wanne, jetzt war sie eine Arena und verschlang mich.

Immerzu musste ich an sie denken. An ihr Lachen. An ihr Gefühl zu mir. Ihre Worte. Es schmerzte und machte wütend. Lena war natürlich fein aus dem Schneider. Hatte einen neuen Kerl und ihre beste Freundin plante bei ihr einziehen. Nahtloses Timing. Wozu brauchte sie mich noch?! Ich war wie das Sonntags-Gulasch meiner Mutter: gekaut, verdaut, abgezogen. Mein Selbstbewusstsein lag auf dem Klo und schielte zur Uhr. Wenn das Mumms wenigstens schon auf gehabt hätte..

Aus der Telefonzelle rief ich Karlos an. Er klang verpennt.

"Was ist los?"

"Lena hat Schluss gemacht."

"Eh..? Scheiße."

"Ich komm vorbei."

Im Gegensatz zu den Hauptstrassen waren Nebenstrassen und  Fußwege kaum von Schnee und Eis geräumt, ich brauchte eine ganze Stunde bis zur Finkenstrasse, ein ausgelaugter Körper, pure Beinautomatik. Ich funktionierte nur noch. Fragte mich, wie ich das aushalten sollte in nächster Zeit.

Drei Stunden saßen Karlos und ich uns im Sessel gegenüber. Er hörte zu, nickte, schüttelte den Kopf, warf hin und wieder was ein.

"Chaos im Kopf ist nie umsonst", sagte er. Und: "Vielleicht musste das mal passieren. Vielleicht musste etwas in dein unverschämt sicheres Leben platzen, damit du endlich aufwachst und anfängst das zu tun, was der liebe Gott für dich vorgesehen hat."

Ich starrte ihn an. Wovon sprach er zum Teufel? Wer hatte was für mich vorgesehen..?

"Ja.. wahrscheinlich."

Wir tranken schwarzen Tee und Bier und ich war froh, dass Karlos sich mein Gejammer anhörte. Bei Liebekummer konnte er mitreden. Es war zwei Jahre her, dass Biene ihn verlassen hatte, seine große Liebe, doch so richtig war er darüber immer noch nicht hinweg.

"Die Sache ist noch nicht gegessen."

Es klang wie: Die Puppe hol ich mir noch zurück. Es war keine vier Wochen her, da hatte er mitten in der Nacht unter ihrem Fenster gestanden und nach ihr gepfiffen und gerufen, wie ein dummer Fünfzehnjähriger, erzählte er.

"Und?"

"Was, und?"

"Na ja, ich mein, hat Biene aufgemacht oder nicht?"

"Ach was. Die war überhaupt nicht hat da. Die war im Urlaub, wie ich hinterher gehört hab."

Wir verabredeten uns für sieben Uhr im Mumms. Bis dahin verzog ich mich wieder nach Hause, müde und aufgekratzt zugleich. Ich haute mich hin und versuchte zu lesen. Uns verbrennt die Nacht von einem Indianer, der mit Jim Morrison durchs L.A. der 60er Jahre gezogen war, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Jeder Satz endete mit Lena in meinem Kopf.

Punkt Sieben stand ich im Mumms und wartete auf Karlos. Das Mumms, ein verrauchter Karnickelbau mit einem Herz Buben an der Tür, durchstochen von einem Stilett, war unsere Zentrale und oft so brechend voll, dass wir dicht gedrängt in Dreier-Reihen am Tresen standen, als hätten wir Schiss gehabt, eines Tages aus einem endlosen großspurigen Trinkgelage zu erwachen, an einem regnerischen Montagmorgen, und alles wäre vorbei gewesen.

Davor hatten wir ordentlich Bammel.

Karlos und ich orderten Bier und Tequila. Ich war nichts als eine große offene Wunde und hatte dieses aufputschende Gefühl, allen Schmerz, allen Zorn auf Lena rauszulassen. Ich war eine Riesenrutsche und Karlos der Pool, der mich auffing, wenn ich alle paar Minuten die Leiter zur Riesenrutsche hochkletterte und mich gehen liess. Während Karlos mir geduldig das Ohr lieh, betrank er sich in aller Ruhe. Benzini gesellte sich zu uns. Benzini, die Kinnlade ein finsterer Balkon, Säbelbeine, 13-Monats-Bart.

"Du blutest aber gut", meinte er süffisant zu mir, und jemand Anderes, der mich nur vom Sehen kannte, ein Typ mit dem Spitznamen Ludi, sagte: "Versteh mich nicht falsch, aber du machst sonst so einen coolen und abgewichsten Eindruck, hätt ich dir gar nicht zugetraut, dass dich eine Frau so fertig macht."

Cool und abgewichst. Darauf die nächste Runde. Um halb drei war Sperrstunde, der Geschäftsführer schwang die Glocke. Inge, die Wunderbare, streckte mir die Zunge raus.

"Wird Zeit, dass du mir mal über die Hüfte rutscht, hör mal!"

Sie liess ein Lachen dröhnen, so laut und schmutzig, als wäre eine kleine Lokomotive um die Ecke gebogen. Ein Kohlentender. Karlos kam von hinten und fischte ihr heimlich die Schachtel Camel aus der Jackentasche. Er steckte sich eine an.

"Kippe jemand?"

"Her damit..", lallte ich.

"He, seit wann raucht ihr beiden Camel!?" drehte Inge sich um und tippte Karlos, der sich schnell wegdrehte, auf die Schulter.

"Sag mal, hast du etwa in meiner Tasche gewühlt?"

"Du merkst auch gar nix mehr, Inge. Ich hab dich schon gefickt, ohne dass du was gemerkt hast."

"Jetzt übertreibst du aber, hör mal!"

"RAUS HIER JETZT!" brüllte der Geschäftsführer mit dem roten Schürzchen.

Karlos und ich torkelten rüber zum Taxistand, die ganze Breite der Kölner Strasse nutzend. Ziel war die Finkenstraße, noch einen rauchen, Karlos hatte etwas Gras klar gemacht. Plötzlich tauchte ein Streifenwagen auf, wie aus dem Nichts, und hielt vor uns an. Ein Polizist stieg aus, ein anderer blieb sitzen.

"Augenblick mal, die Herren!"

Wegen Überqueren der Strasse und Behinderung eines Streifenwagens sollten wir jeder zehn Mark berappen.

"Hier ist doch überhaupt kein beschissenes Auto unterwegs!" ereiferte sich Karlos. "Und wo sollen wir euch behindert haben?! Ihr seid behindert!"

"Keine Diskussion, meine Herren! Jeder zehn Mark, und die Sache ist erledigt!"

Zehn Mark? Wir hatten alles versoffen, und da wir auch keine Ausweise dabei hatten, nahmen sie uns mit zur Wache. Unterwegs, auf der Rückbank, stimmten wir Fahr mit im grün-weissen Bullenbus! an, zu der Melodie von Kli-Kla-Klawitter, der Kindersendung aus alten Kindertagen. "Wir nehmen jeden mit, wir haben sehr viel Platz!"

"Na, da haben wir aber zwei Witzbolde aufgegabelt", meinte der lange Polizist auf dem Beifahrersitz. "Passt nur auf, dass es keine Backpfeifen hagelt."

"Was willst du grüner Wicht?!" gab ich zurück, und der Bulle drohte mir sofort mit einer Anzeige wegen Beamtenbeleidigung.

Auf der Wache wurden unsere Personalien aufgenommen. Weil Karlos zwar umgezogen war, sich aber nicht umgemeldet hatte, gab es Ärger. Er weigerte sich, Mietparteien zu nennen, die ebenfalls in dem Haus an der Finkenstraße wohnten, seinem neuen Domizil.

"Finkenstraße 9 wohn ich! Und ich hab ne cholerische neurotische Katze zu Hause, die heisst Lady und schifft mir dauernd ins Bett. Die könnt ihr jeden fragen, der da wohnt. Mehr sag ich nicht. Mehr müsst ihr schon aus mir rausprügeln! Das könnt ihr doch so gut! Los, macht schon!"

Er schraubte seinen cholerischen Schädel ins Neonlicht.

"Na, kommt schon her! Hier, schön auf die Nuss! Das könnt ihr doch so gut!!"

Natürlich spielte Karlos die Wut nur, wie auf einer Theaterprobe. Es war aber so gekonnt dargeboten, sogar ich war froh, als er endlich die Klappe hielt. Der lange Bulle stand kurz vorm Überkochen und kündigte an, uns bis zum nächsten Morgen in Gewahrsam nehmen zu können. Dann wollte er mir den Hintern versohlen, weil ich erneut mit dem grünen Wicht rüberkam..

"Jetzt macht doch nicht so einen Öschekk hier!" versuchte sein Kollege einzulenken, und ich musste lachen, weil ich das lange nicht mehr gehört hatte, einen Öschekk machen.

"Sagt doch kein Mensch mehr."

"Ein Mensch vielleicht nicht", krähte Karlos, "aber ein Bulle!"

Dennoch entspannte sich die Situation etwas, bis zu dem Augenblick, wo wir aufgefordert wurden, das Präsidium zu verlassen, wir uns aber weigerten. Nein, wir wollten es uns lieber auf den harten Bänken bequem machen,  wie damals in den 70ern, als wir jedes zweite Wochenende Ärger mit der Schmiere gehabt hatten.

Dem Langen platzte fast der Kragen. "Ihr kriegt gleich wirklich was auf die Fresse!"

"Ja, mach nur, komm nur mit nach draußen!" rotzte Karlos zurück, schon in der Tür stehend. Tatsächlich hätte der lange Bulle große Lust dazu gehabt, Karlos eine Tracht Prügel zukommen zu lassen, doch sein Kollege behielt den Überblick.

"Jetzt macht endlich, dass ihr wegkommt!"

"Ich hab mal die härteste Knallplättchenpistole der Welt gehabt!" brüllte Karlos noch, als wir schon unten auf der Strasse waren. "Und ihr?! Was habt ihr? Ne Schlampe zuhause, sonst nix!"

Von der ganzen bescheuerten Aktion ernüchtert, verschwanden wir um die Ecke in die feuchten Malteser Gründe, und setzten uns auf die Bank. Zum Glück hatten die Bullen versäumt, Karlos zu durchsuchen. Er hatte einen Beutel Marihuana dabei. Wir dampften ein mächtiges Dreiblatt. Der ganze Malteser Grund stank nach Gras und frisch gemähter Wiese. Endlich schalteten wir einen Gang zurück.

"Sag mal, was wollte Lena eigentlich?"

Um Mitternacht hatte sie im Mumms angerufen und sich erkundigt, wie ich die letzte Nacht überstanden hatte.

"Ich hab kein Auge zugetan.. Weißt du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast?"

"Ich weiß", hatte sie kleinlaut geantwortet. "Ich mir auch.."

Halbe Stunde später tat sich Karlos in Richtung Finkenstraße dadurch, ich zur Schillerstrasse. Aufgeladen wie ich war, hob ich einen Pflasterstein vom Wegesrand auf und schmetterte ihn kurzerhand in die rückwärtige Fensterfront des Gesundheitsamtes. Das Klirren der Scheibe potenzierte sich in der Stille der Nacht, es klang wie eine Schaufensterscheibe, aber ich latschte weiter den Park runter, als wäre nichts geschehen.

Es dauerte keine Minute und auf der gegenüber liegenden Seite bog ein Streifenwagen in den Malteser Grund ein. Geistesgegenwärtig duckte ich mich, versteckte mich im dichten Gebüsch am Hochhaus, das wie ein Leuchtturm den Park überragte. Der Wagen rollte ohne Licht im Schritttempo vorüber. Hinter dem Gesundheitsamt blieb er stehen, mit ausgeschaltetem Motor. Ich wartete zwanzig Minuten, bis ich mich aus der Deckung wagte und in der Finsternis nach Hause wankte.

Als ich aufwachte, hatte ich einen Geschmack im Mund, als wär mir die Asche einer Kippe unter der Zunge eingeschlafen. Verkatert hockte ich auf der Heizung und rauchte. Vielleicht hatte sie ihren Entschluss schon bereut? Ich peitschte zur Telefonzelle gegenüber vom Gemeindeheim und rief in der Zahnarzt-Praxis an.

"Ich muss mit dir sprechen. Können wir uns treffen?"

"Klar. Klar doch."

"Heut Abend im Mumms?"

Sie zögert einen Moment.

"Gut, ich bin da. Gegen fünf Uhr. Bist du traurig..?"

Traurig.. Ja genau. Ich blieb unterwegs, ging in die Stadt. Suchte mir im Karstadt-Restaurant einen Fensterplatz, mit Blick auf den Busbahnhof. Als wir im Winter 79 zum ersten Mal verabredet waren, saßen Lena und ich bei nassem Schnee und Temperaturen um den Gefrierpunkt einen ganzen Nachmittag lang unter einem überdachten Wartehäuschen, zu schüchtern für einen ersten Kuss, aber mit löchrigen Turnschuhen und der Gewissheit: das ist es.

Noch in derselben Nacht bekam ich vierzig Grad Fieber, alle Knochen taten mir weh. Drei Wochen lang lag ich mit einer schweren Nierenbeckenentzündung flach, und Lena, nicht mal fünfzehn und bildhübsch, kam mich besuchen, den Poncho übergeworfen, und neben meinem Bett dampfte der Haschischtee.

Das erste Mal gesehen hatte ich Lena im Mankes 13, einem Jugendklub in Ohligs. Ohligs zählte eigentlich nicht zu meinem Revier, es war reiner Zufall, dass ich an diesem Freitag da gelandet war. Freitags war Disco. Es war früher Abend, rappelvoll. Ich hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die ich mir bis heute nicht erklären kann, weil ich so gut wie nie Kaffee trank. Wenn übehaupt was heisses, dann Tee. Nicht an diesem Tag. Da war Kaffee in meiner Tasse, und ich stolperte über ein Paar Beine, das zu einem Mädchen gehörte. Sie saß auf einem Sofa, ich strauchelte und schüttete ihr etwas Kaffee über den Pullover. Einen Schluck nur. So hatte ich Lena kennengelernt. Das schönste Mädchen der Welt.

Ich verliess das Karstadt-Restaurant und mache mich auf zur Jobvermittlung. Was ich brauchte, war Ablenkung. Frau Düstersiek, Leiterin der Aussenstelle des Arbeitsamtes, "Na, Sie As! Was macht Ihr Kumpel, wie heißt er noch gleich..?" "Karlos." "Ja, genau, Karlos! Was ist Sache mit Karlos?! Warum kommen Sie alleine?", rückte die Telefonnummer eines kleinen Betriebs raus, der in Türklinken machte. Firma Weidner, oben am Schaberg. Ich rief an und sagte, dass ich auf der Stelle anfangen könne. Gut. Ja.

"Kommen Sie vorbei."

"Was denn..?! Jetzt sofort?"

"Ja, natürlich. Wenn Sie Zeit haben."

"Äh.. ja, natürlich."

Ich hatte nicht damit gerechnet, beim Wort genommen zu werden. Andererseits, ein Job würde Lena gefallen. Es wurmte sie stets, dass sie früh raus musste und ich konnte durchratzen, bis in die Puppen. Ich kaufte einen Strauß Blumen, klemme ihn an ihre Wohnungstür. Mit einem Zettel. Liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Was besseres fiel mir nicht ein.

Die Firma am Schaberg entpuppte sich als Hinterhofklitsche. Ohne groß eingewiesen zu werden, setzte man mich in der Endmontage ein. Meine Aufgabe: Türbeschläge und Klinken polieren, Kartons falten, verpacken. Meine Hände flatterten vom vielen Saufen. Von Ablenkung keine Spur. Was ich auch tat, ich hatte nur Lena im Sinn.

Lüttkenhorst, der Kollege, kam an und meinte, ich solle nicht dauernd so doof in der Gegend rumsitzen, lieber mal ein paar ordentliche Kartons falten. Redete der mit mir? Am Abend im Mumms wollte ich alles auf eine Karte setzen. Ich würde sie mir zurückholen. Endlich halb Fünf. Feierabend. Ich fuhr mit dem Bus ins Mumms.  Sie war schon da. Saß in der hintersten Ecke. Mit einem Glas Tee vor sich. Sie sah umwerfend aus. Ich holte mir ein Bier, setzte mich zu ihr. Ich hatte keine Zeit für Tändeleien.

"Ist wirklich Schluss?"

Ängstlich blickte sie mich an. Und nickte. Ich riss mich zusammen. Bestand darauf, dass ich eines schon kapiert hätte, in den letzten, äh, vierundzwanzig Stunden: ohne gemeinsame Zukunft keine Beziehung. Für so einen Satz hätte ich mir noch eine Woche zuvor die Schuhe bekotzt.

"Ich werde für dich arbeiten gehen und ein Buch schreiben."

Sie war überrascht. Sie nahm es ernst. Es funktionierte.

"Ein Buch..? Na, ist ja ein Ding. Da reden sich alle den Mund fuselig und der Herr tut nix, aber kaum kriegt er mal einen Schuss vor den Bug, bewegt er seinen Hintern. Guck mal einer an." Sie nahm einen Schluck Tee. "Du sollst es nicht für mich, sondern für dich tun."

"Für uns! Ich möchte mit dir meinen Weg gehen, mit dir glücklich sein." Ich spürte, dass sie nachgab. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass ich so schnell was gelernt hatte. "Und wenn wir wollen, schaffen wir das auch. Wir gehören doch zusammen.."

Wir blickten einander in die Augen. Dieses Bauchgefühl. Dann sagte sie es. Ganz leise. Fast unhörbar. Gehaucht.

"Ja."

Darauf hatte ich hingearbeitet. Ich flog ihr um den Hals. Vergrub ihren Kopf an meiner Brust.

"Hast du wirklich ja gesagt?!"

"Von dir Wahnsinnigem komm ich ja sowieso nicht los."

Ich driftete zum Tresen. Glaubte es noch gar nicht richtig. Dass das so schnell ging. So ohne viel Widerstand. Ich bestellte Tequila. Wir lachten. Küssten uns. Wie die Kinder. Das Mumms glühte. Zwei Tische weiter wurde Skat gespielt, jemand spielte lautstark den Kreuz Jungen auf und rief Butter bei die Fische.

"Ich bin stolz darauf, dass ich auch ohne dich klarkomme. Und ich möchte, dass du das auch kannst, damit wir nicht mehr wie an einer Nabelschnur zusammenhängen", stellte Lena klar.

"Ja", sagte ich, immer wieder ja. Ich hätte ihr einen Welt-Bestseller versprochen, wenn sie es nur ernst meinte.

"Wann machst du mit dem Typ Schluss?`"

"Ich werd.. es ihm gleich sagen."

Wir verabredeten uns für den folgenden Nachmittag um Fünf, bei mir. Ich blieb im Mumms und betrank mich. Karlos tauchte auf. Er hatte Probleme und war aufgebracht.

"Die Schmiere hat mich heut Nacht auf dem Nachhauseweg noch mal klargemacht, weil so ein Idiot im Park Fenster eingeschmissen hat!!"

Dummerweise geriet er dabei an dieselbe Streifenwagenbesatzung, die uns mit auf die Wache genommen hatte. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass Karlos dieses Mal die Taschen leeren musste.

"Achtzehn Gramm Marihuana!" schimpfte Karlos. Der lange Bulle musste vor Freude nur so geglüht haben. "Wie ein scheiss Lampion. Und das nur wegen irgend so einem Vollidioten!"

"Aber echt!" sagte ich, und tatsächlich dauerte es einen Moment, bis mir aufging, wem Karlos die Strafanzeige zu verdanken hatte. Als ich ihm von Lena erzählte, warnte er mich nur, ich solle mich nicht zu früh freuen, doch ich freute mich.

Die Maloche am nächsten Tag nervte. Ich konnte kaum meine Schweißausbrüche unter Kontrolle halten. Der Alkohol setzte mir zu. Aber ich liebte Lena und hatte sie wieder. Das war die Hauptsache.

"Die Kartons sind aus Pappe!" blökte Lüttkenhorst, der Vorarbeiter. Die Schatten unter seinen Augen waren groß und finster, seine Stimme tief und krächzend, fast punktuiert. "Die Kartons kann man biegen! Die kann man schön falten, hier, so! Und nicht einfach nur in die Ecke werfen! Wenn das der Chef sieht, war’s das mit dir! Da kannst du aber Gift drauf nehmen, Männeken!"

Seine Stimmbänder stellte ich mir wie Lochkarten vor, die man durch eine Drehorgel zieht und schwere russische Waisen ertönen lässt.

Punkt fünf Uhr war ich daheim. Vielleicht wartete sie schon vor der Haustür.
Tat sie nicht. Ich rauchte und hörte Radio. Machte ein Bier auf. Viertel nach Fünf, halb Sechs. Ich wurde unruhig. Wenn sie wirklich mit mir zusammenbleiben will, dachte ich, müsste sie doch pünktlich sein. Ja, überpünktlich. Vielleicht ist was mit Britta dazwischen gekommen. Ihrer besten Freundin. Wäre nicht das erste Mal.

Ich stand am Fenster und wartete. Watching and waiting. Sechs Uhr, halb Sieben. Autos fuhren vorüber, Autos hielten. Türen schlugen zu. Nur die Strasse zählte. Um sieben Uhr war Lena immer noch nicht da. Ich tigerte von einem Zimmer ins andere und wieder zurück, ich geriet in Panik. Schrie "Lena, was machst du mit mir?!" Raufte mir die Haare und schleuderte mich gegen die Wand. Blieb liegen. Stand auf. Konnte es einfach nicht fassen, wie ich verarscht wurde. Dass sie nicht gekommen war. Trotz ihrer Worte. Ich knallte mich gegen den Türpfosten.

Es schellte. Nicht ihr Schellen. Es war der lange Eli, mein Nachbar von gegenüber. Ich zerrte Poster von der Wand, trat eine Tasse durch die Küche. Sie zersplitterte unterm Spülstein. Eli begriff gar nichts.

"Du kommst wegen Lena so drauf? Gibs das? Ich dachte immer, die wäre total in dich verknallt."

Ich liess ihn stehen und lief auf Hollandblotschen zur Margaretenstraße, durch den Schnee, zur Telefonzelle. Britta hob ab.

"Ist Lena da?!"

"Die ist schon lange weg."

"Hat sie nichts gesagt? Dass sie zu mir kommen wollte?"

"Lena hat gar nichts gesagt. Keine Ahnung, wo sie hin ist."

Ich hetzte durch die Strassen. Blickte in jedes verdammte vorübersausende Auto. Auch im Mumms war sie nicht. Natürlich nicht. Das Mumms war mein Revier. Mein Wohnzimmer. Cobra hockte am Tresen.

"Hallo."

Sie hatte mich mal angemacht, nicht lange her, da hatte ich abgewunken. Zu gefährliche Augen. Zu große Titten. Jetzt war ich froh, dass sie da war. Fragte, wie es ihr geht und so. Spendierte Bier und Schnaps. Göring und seine neue Braut kamen rein, tranken einen mit.

Göring war Fernmeldetechniker bei der Bundespost. Einige Mal hatte ich ihn unterwegs getroffen, als er den Telegraphenmast hochkletterte und seine Arbeit verrichtete. Ein gutmütiger Kerl mit schweren Knochen und einem gewaltigen Alkoholproblem, der lauthals "Geht doch um nix!" posaunte, sobald er mich von dort oben erblickte. Den Spruch hatte er von einem Kumpel, der ihn seinerseits im Knast aufgeschnappt hatte.

Es dauerte nicht lange und wir beschlossen, zu verduften. Wir riefen ein Taxi, kauften unterwegs an der Tankstelle zwei Flaschen Ouzo, fuhren zu Göring nach Hause und versanken in den Ledersesseln.

Göring erzählte von seiner zerstreuten Tante, die ihm innerhalb eines Jahres dreimal zum Geburtstag gratuliert hatte, jedes Mal mit einem neuen Geschenk.

"Das sind die Tanten, die wir brauchen!" wieherte Cobra.

Sie und Göring versanden sich prächtig. Das gefiel mir nicht. Musste ich mich notgedrungen mit seiner Freundin befassen. Eine seltsam trutschige Person. Ihre Nase war groß und schief und irgendwie spanisch, eine vergeigte Steinmetzarbeit. Ich wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte. Wir versuchten es mit Musik. Im Radio liefen Bronski Beat. It ain't necessarily so. Muss doch alles nicht sein.

"GEHT DOCH UM NIX!" brüllte Göring.

Irgendwann in der Nacht lagen wir zu viert im geräumigen Ex-Ehebett, doch zwei Frauen waren zuviel für mich. Ich war sturzbetrunken und hatte nur Lenas Körper im Sinn. Cobra und Göring verschwanden ins Wohnzimmer. Während sie auf dem Tisch vögelten, hantierte ich an dieser Braut herum, deren Namen ich nicht kannte. Im Radio schepperte irgendein amerikanischer Heckmeck. Cobra kam ins Schlafzimmer zurück.

"Na, gut abgespritzt?!"

Ich sagte gar nichts und pennte ein.

Als der Morgen dämmerte, wurde ich schlagartig wach. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich stand auf und suchte das Telefon. Cobra folgte mir mit den Augen.

"Vergiss es, das Telefon ist gesperrt."

Ich zog mich an und machte mich auf die Suche nach einer funktionierenden Telefonzelle. Lena, klopfte es in meinem Bauch, sei bitte zu Hause und habe eine Ausrede. Sag nicht das, was ich weiß. Es war bitter kalt. Hundepisse im Schnee, überall. Ich fror. Als ich eine Brücke überquerte, blieb ich kurz stehen und blickte hinunter.

Endlich eine Zelle. Ich wählte die Nummer. Es dauerte. Niemand ging dran. Ich wählte nochmal. Lena hob verschlafen ab.

"Ja..?"

Ihre Stimme, wie aus unerreichbarer Ferne.

"Wo warst du gestern?! Du wolltest doch zu mir kommen..!"

Sie stöhnte.

"Es ging nicht."

"WIESO GING ES DENN NICHT?"

"Weil ich aus der Beziehung raus will! ICH WILL NICHT MEHR!"

Meine Stimme schnappte über.

"IST DER TYP DA?"

"Ja", sagte sie. "Er ist hier."

"Du hast es mir doch versprochen, dass wir es noch mal versuchen! DU HAST ES MIR DOCH VERSPROCHEN!!"

Lena seufzte.

"Ich weiß.. Aber ich kann nicht."

"WIESO HAST DU ES DANN GESAGT?!"

"Weil du mich so gequält hast.."

Ich rastete aus. Beschimpfte sie. Sie legte auf. Es war vorbei. Ich stapfte durch den Schnee zur Wohnung zurück. Cobra öffnete die Tür.

"Ich muss mit dir reden", sagte ich.

Wir holten Bier am Kiosk und fuhren mit dem Bus zu mir. Es war okay. Wir verstanden uns. Gleiche Wellenlänge. Sie studierte Germanistik. Ich spielte ihr Jonathan Richman vor. Sie musste lachen.

"Was ist das denn für einer?"

"Der sitzt am Rand vom Sandkasten und sucht sein Förmchen."

Er gefiel ihr. Ich interessierte sie. Schade, dass ihre Titten so groß waren. Am nächsten Mittag ging Cobra heim und ich ins Mumms. Karlos war auch da und legte den Leuten die Karten. Hatte er selbst erfunden. Mir prophezeite er, dass ich immer Checkerei haben würde mit der Herz Dame. Na so was. Abends war Cobra wieder da. Die Karo Dame.

"Flüchtige Liebschaft", flüsterte sie.

"Du hast mich verwirrt", sagte sie.

Der Russe war da. In seinem Armeemantel, dem langen grauen Vollbart und wuchtigen, wie zu einer Brücke zusammengewachsenen Augenbrauen erinnerte er an Solschenyzin, den Schriftsteller. Er spielte in der Bundesliga Schach für 1868 Solingen und redete kaum ein Wort. Dafür hatte er ständig eine Zigarre und ein grosses Glas Altbier in Arbeit, er lächelte sein Russenlächeln, unermüdlich, geheimnisvoll. Sperrte er den Mund doch einmal auf, dann nur für einen einzigen Satz:

"Immer gut rauchen", prostete er uns zu, "und Mathematik!"

Da Solingen Schachstadt ist, 1868 ist deutscher Abonnementmeister im Vereinsschach, ist man hier merkwürdige Figuren gewohnt, die nichts anderes im Kopf zu haben scheinen als spanische Spieleröffnungen und Springertausch, doch der Russe war ein Unikum, jeder mochte ihn. Selbst seine faulen Zähne und die triefenden Nikotinfinger fielen nicht ins Gewicht.

Eines Tages tauchte er nicht mehr auf, war fort. Niemand wusste etwas. Die Wetten im Mumms liefen auf Lungenkrebs oder Schachturnier im Irak. Auf einer Tafel wurden die Wetteinsätze notiert. Es stand Fifty-fifty.

"Immer gut rauchen und Mathematik!"

Karlos orderte Tequila und entwickelte das Kartenlegen weiter. "Kreuz As und Pik As gibt Mofaführerschein." Cobra erzählte, dass sie schon mal fünf Seiten lang ICH BIN STARK geschrieben habe. Danach sei sie zusammengeklappt. Pik Sieben war die geheime Triebkarte. Die paraintuitive Kraft.

"Liebe ist nicht alles", tröstete mich Cobra.

Ich war geknickt. Geschlaucht. Die ganze Sauferei. Und immer wieder Lena. Cobra schleppte Tequila an. Tequila baute auf.

"Liebe ist nur Spinnerei im Kopf", sagte sie.

Zitronenscheiben rutschten unter den Tisch. Kreuz Zehn bedeutete Entziehungskur. Folgte darauf die Herz Zehn, wurde man rückfällig.

"Heut bin ich verknallt", summte Cobra in mein Ohr, "morgen ist alles vorbei. Lass uns noch was trinken."

Der nächste Tequila. Endzeithunger. Mad dog days. Zwei dunkelhäutige Frauen setzten sich zu uns an den Tisch. Eine war Brasilianerin. Sie kam aus Recife. Sie erzählte von Insekten, die beim Abendessen aus den Bäumen in die Teller fielen, in ihrer Heimat.

"Du hast schöne Augen", sagte sie.

Karlos legte ihr die Zukunft. Verlegen stand ich daneben und überlegte, wie ich sie anbaggern könnte, doch andauernd drängelte sich ihre Freundin dazwischen und funkelte mich böse an.

"Mein Zug ist abgefahren", kritzelte Cobra in mein Notizbuch, das offen und für alle einsehbar auf dem Tisch lag. Ich holte das nächste Tablett Bier und wandte mich Karlos zu.

"Ich weiß überhaupt nicht mehr was Trumpf ist.."

Sturzbesoffen redete er auf mich ein.

"Ich hab lang nicht mehr so an dich geglaubt wie jetzt. Du hast soviel Möglichkeiten, du wirst es schaffen. Du musst nur schreiben.. dann wirst du es schaffen."

Ich hing an seinen Lippen.

Samstagmorgen wurde ich früh wach. Detonierter Bauch. Vollrauschnerven.
Das Klingeln des Telefons aus der Nachbarwohnung bohrte sich in meinem Gehörgang fest. Ich holte mir einen runter. Zündete mir eine Kippe an. Die erste von den nächsten tausend. Draußen regnete es.

Tauwetter.

Samstagmittag ging ich zu meinen Eltern rüber, zum Essen. Beim Nachtisch erzählte Mutter aus meiner Kindheit, und wie sie so erzählte, war es mir, als lüftete sich ein Schleier und dahinter tauchte der Kern auf, der Kern von mir. Vage erinnerte ich mich daran, dass ich bis zum siebten Lebensjahr Nacht für Nacht ins Bett meiner Eltern geklettert war, auf die Seite meiner Mutter, und dort bis zum Morgengrauen blieb.

"Ich hab schon ganz automatisch die Bettdecke angehoben, wenn ich deine leisen Schritte hörte, und schon kamst du angekrabbelt und schmiegtest dich an mich."

Dann, 1967, als die Doors beschlossen, eine Million Dollar zu machen, wurde mein Bruder geboren, im Jahr der Ziege. Es war ein Dezemberabend, als das Telefon ging. Ich war mit meiner großen Schwester allein zu Hause, sie hob den Hörer ab. Mein Vater war dran, er rief aus dem Krankenhaus an. Mutter hatte ihr drittes Kind geboren.

"Was?! Ein Junge..?" rief meine Schwester entsetzt, und ich rannte jubelnd durch die Wohnung an der Hasseldelle, von Zimmer zu Zimmer, im Schlafanzug.

"Ich hab einen Bruder! Ja! Einen Bruder! Ich hab einen Bruder!!"

Was ich nicht wissen konnte, worüber ich aber sehr bald Bescheid kriegen sollte: Der Platz im Bett, an der Seite meiner Mutter, war nun belegt. Mein kleiner Bruder beanspruchte fortan den Thron an ihrem Busen.

"Die ersten Nächte bist du trotzdem zu mir gekommen, aber es war zu eng im Bett. Es ging einfach nicht. Ich.. musste dich abweisen."

Bedauern klang durch, bei einem Schälchen Joghurt mit Schokoraspeln zum Nachtisch, Bedauern, dass sie mich nicht darauf vorbereitet hatte.

"Es war ein Schock für dich. Du hast gekrampft, und ich weiß nicht, wie oft du schreiend wach wurdest, im Albtraum, mit Schaum vorm Mund."

"Schaum vorm Mund?"

"Ja. Es quoll regelrecht aus dir heraus.."

Wie sie so erzählte, spürte ich das Kitzeln einer tiefen, fast verlorenen Erinnerung. Nun war klar, warum ich so heftig reagierte, wenn eine Frau fort ging, die ich liebte, mich verliess mit ihrem Busen.

"Und warum du so viel Bier trinkst", meinte Karlos mit trocken erhobenem Zeigefinger, als ich ihm am Abend Bericht erstattete, am Tresen im Mumms, mit Schaum am Pils-Glas, auch bekannt als:

Blume.

*

Vorankündigung:

LESUNG IN HAMBURG, 3. OKTOBER 2014, mehr hier


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