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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Niemals kehrt je auch nur irgendetwas wieder

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"Jeden Tag geht irgendwo in meinem Kopf ein Licht an und leuchtet eine dieser zahllosen Nischen aus, in denen sich meine Kindheit verbirgt.."

Die Gräfin wuchs am Rande von Düsseldorf auf, in einem kleinen Garten Eden.

"Links wohnten wir, rechts Frau Zimmermann, die Hühnermörderin".

Der alte Zwei-Familien-Bungalow gehörte dem Stromkonzern RWE, für den ihr Vater als Programmierer arbeitete.

"Alle Kinder in meiner Klasse hatten Väter, die als Elektriker arbeiteten, als Anstreicher oder was weiß ich, nur mein Vater war Programmierer. Ich wusste überhaupt nicht, was das sein sollte. Manchmal brachte mein Vater große Bögen Papier aus dem Büro mit, dann durften meine Schwester und ich die Rückseiten bemalen. Vorn waren lauter Zahlenkolonnen, da dachte ich natürlich, Papa muss rechnen auf der Arbeit, genau wie wir Kinder. Ich schämte mich für seinen Beruf."

"Wenn er von seinen Kolleginnen bei RWE erzählte, sah ich immer großbusige Regimentsführerinnen vor mir, echte Furien. Was hab ich die gehasst."

Der Mietvertrag für das Haus wurde stets nur um ein Jahr verlängert, weil das Gelände einem künftigen Industriepark im Weg stand. Das Gute daran: es wurde nichts modernisiert. Alles blieb, wie es war.

"Direkt hinterm Haus rauschte ein wilder Bach, der jeden Sommer Hochwasser führte. Schon ein einziger Sturzregen genügte und ich war nicht mehr zu halten. Anlauf, Köpper - yippiiehhh, rein! Das Wasser war sauber und voller Blutegel. Wenn ich aus dem Bach stieg, waren die Beine voll von den Viechern, sie bissen sich überall fest. Sofort kam Mutter an und riss mir die Blutegel von der Haut. Das muss sein, rief sie, sonst wirst du krank! Das hat so weh getan, ich hab geschrieen vor Schmerz. Aber sobald die ekligen Dinger runter waren, stürzte ich mich sofort wieder in die Fluten, wie Tarzan. Ich war Tarzan, ich war Jane und ich war Cheetah, der Affe. Schon als Kind war ich erst glücklich, wenn ich alles hatte."

 

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"Wenn meine Mutter gewusst hätte, was ich da draussen im Wald alles angefasst hab, tote Kröten, glitschigen Fischlaich und was sonst noch alles, sie hätte mich nicht mehr in den Wald gelassen. Jedenfalls nicht mit Händen."

 

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"Nun sei mal doch einmal etwas damenhaft!" Ihre Mutter schüttelte verständnislos den Kopf. "Du siehst immer aus, als würdest du gleich die Bäume rauf wollen."

"Stimmt ja auch!" tanzte die kleine Gräfin durch den Garten Eden, wo ein Plumpsklo stand mit den herrlichsten Riesenspinnen, die man sich denken konnte. Sie klebten an der Wand und zitterten bei Durchzug wie Urwaldmonster, die in den falschen Zaubertrank gefallen waren: einem, der alles klein und hässlich machte.

Erst als die Gräfin das Teenageralter erreichte, war das Plumpsklo plötzlich nicht mehr so toll. Sie traute sich kaum noch, Schulfreundinnen heimzubringen, aus Angst, die Mädels könnten sich lustig machten, über das Klo. Die Riesenspinnen. Das Paradies.

 

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Als mit 13 die erste Periode kam, deckte sie sich am Kiosk mit Unmengen Ungarischer Chips ein und blieb zur Freude von Mama endlich mal daheim, mit einem guten Buch, ihrem Lieblingsbuch.

"Tom!!"

Huckleberry Finn war ihr großes Idol. So wollte sie leben. Nur der Freiheit verpflichtet und in den Tag hinein. Hin und wieder ein Pfeifchen smoken und in einer Tonne wohnen. Jedenfalls ohne Teppich. Teppiche waren ihr ein Gräuel. Man lief doch so viel besser auf Steinboden. Und noch viel viel besser barfuß auf der Erde. Und auf Wiese am allerbesten.

Mark Twains kultivierte, zu Herzen gehende Sprache hatte sie ganz allein entdeckt, in der Autobücherei, die einmal im Monat in der Nähe hielt. Sie las Die Abenteuer von Tom Saywer ein ums andere Mal, sie konnte nicht genug davon kriegen.

"Mark Twain hat meine Lust auf Sprache erst geweckt."

Zwar ist sie auch ihrem Vater dankbar, dass er ihr abends vorm Einschlafen klassische Gedichte vorlas. Beim Erlkönig musste sie jedes Mal weinen, wenn der Vater mit dem Kinde davonreitet, doch das war nichts gegen die Prüfungen, die Tom Saywer und Huckleberry Finn zu bestehen hatten. Und sie liebte Tante Polly, die so gerne eine strenge Tante gewesen wäre, aber ein zu großes Herz hatte. Ein Mississippiherz.

"Aber die Kindheit kommt nie wieder", seufzt die Gräfin.

"Ach, es kommt niemals auch nur irgendetwas wieder", sag ich.

 

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Es ist still im Wald, neblig. Eine Atmosphäre, als tuschelten die Tiere hinter vorgehaltener Hand. Damals wie heute ist die Gräfin fest davon überzeugt, eines fernen Tages auf sich selbst zurückgeworfen im Wald aufzuwachen, aus einem Traum, der ihr Leben war..

"Es wird spät im Herbst sein und ich muss draussen überleben, das hat das Schicksal für mich auserkoren."

So gesehen ist noch der kleinste Waldspaziergang für sie ein Trainingscamp. Eine Begegnung mit den topografischen Eigenheiten des Bergischen Landes: Rübezahl-Gruben und die Fußangeln der Neuzeit, verirrte, vom Herbstwind herangetragene Plastiktüten. Der Boden so seifig, als wären wir auf weichgekochten Schuhen unterwegs.

Als der Herrgott das Bergische Land in die Gegend baute, muss er einen schweren Schluckauf gehabt haben, einen Hicks! nach dem anderen. Die Vermutung liegt nahe bei der instabilen Linienführung, den zackigen Hügeln und zahllosen Tälern und Senken.

Vielleicht war er auch heillos besoffen.

Als wir uns auf der Bank ausruhen, schnuppert sie an meinem Hals, den sie zuvor geküsst hat.

"Das riechst wie früher meine Blockflöte am Mundstück, wenn da Speichel dran war."

Sie kommt heute nicht los von ihren Kindertagen. Einmal angestossen, erinnert sie sich an die kalte Gemüsesuppe, die sie mit ihren Sandkasten-Freundinnen zubereitete.

"Weil wir kein Feuerchen ankriegten, saßen alle belämmert in der Sandgrube, meine Freundinnen guckten ziemlich betreten. Nur ich war begeistert. Kalte Gemüsesuppe, hmm, das war mal was. Da war alles drin, was sich roh essen liess. Möhren, Kohlrabi, Sauerampfer, alles schön durcheinander gematscht. Meine Freundin Rosi und ich haben zum Nachtisch noch die Blüten von Brennesseln ausgelutscht, weil die nach Honig schmeckten. Na ja, es war süß. Ein bisschen."

 

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Jetzt bin ich mal dran. Als hätte ich keine Kindheit gehabt. Oder immer nur den Ball am Fuß.

Im Baumhof meiner Großeltern gab es den winzigsten Swimmingpool der Welt. Selbst als Knirps konnte man nur einen einzigen Schwimmstoß machen, schon schlug man am entgegengesetzten Ende des Bassins an. Immerhin war der Pool aber so tief, dass sich die blauen Fliesen am Grund kaum erkennen liessen, und als ich noch nicht schwimmen konnte, hatte ich Angst zu ertrinken.

"In Waging am See hat mich mein Vater mal vorm Ertrinken gerettet." (Was soll man machen. Sie hat die besseren Geschichten heute.) "Das ist ein tolles Gefühl, wenn man unter Wasser ist, wo sich das Sonnenlicht bricht und überall sind Schlingpflanzen, die sich um die Beinchen legen und du kommst nicht los und bist kurz vorm Ersaufen. Wie im Mutterleib, nur größer alles. Und gleichzeitig enger. Und plötzlich greift ein Paar kräftiger Männerarme nach dir und reißt dich im letzten Moment aus dem Wasser hoch an die Luft - toll."

 

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Aus ihrer Kindheit hat die Gräfin ein schweres Knödeltrauma davongetragen. Ihre geliebte Oma Sassendorf, die immer so lecker nach Essenmachen und Nivea roch, "einen leckereren Geruch gibts auf der ganzen Welt nicht", bereitete in der Küche alles selbst zu - auch Nudeln.

"Wenn man in die Küche kam, hing der Teig über der Stuhllehne und sah aus wie ein großes viereckiges Fensterleder."

Besonders schön war es, wenn die kleine Gräfin den knochigen Händen der Oma beim Kneten von Kartoffel-Klößen zuschauen durfte.

"Sie hatte Hände wie Wurzeln, knorrige krumme Hefefinger, in denen der ganze Schmerz des Lebens steckte. Mit solchen Fingern konnte man nur gut kochen. Alles, was sie anfasste, schmeckte gut."

Oma Sassendorf hielt sich niemals an Mengenvorgaben, sie kochte nach Gefühl, selbst wenn an hohen Feiertagen die ganze Familie zusammenkam und bekocht werden wollte.

"Bestimmt fünfzig Leute!"

"Fünfzig?"

"Keine Ahnung. Aber die haben geschmatzt wie fünfzig."

Dass Oma Sassendorfs selbstgemachte Knödel die leckersten Knödel der Welt waren, geschenkt. Aber dass die Gräfin nicht mal die Fertigklöße hinkriegt, das hinterlässt tiefe Spuren bei ihr.

"Oje - wenn Oma mir jetzt zuguckt, die schlägt doch die Hände überm Kopf zusammen!" schimpft die Gräfin, als sie es Sonntagmittags wieder einmal versucht.

"Kind! Nicht soviel Milch!"

 

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"Um die große Familie zusammenzuhalten, musste Oma zwangsläufig lecker kochen. Ohne ihre Mahlzeiten hätte sich die Familie zerstritten und wäre erbittert auseinandergegangen."

In den grossen Sommerferien waren sie oft in Bad Sassendorf. Alle Kinder durften so lange draussen bleiben, bis es dunkel wurde. Da hatte auch niemand Lust, zum Abendessen nach Hause zu gehen. Schon mal gar nicht, wenn die Wohnung hoch oben im vierten Stock lag. Also standen die Gräfin und ihre jüngere Schwester jeden Abend Punkt sieben unten auf der Wiese und warteten darauf, dass Oma vom Balkon ihre berühmten Hotte Mäcks in die Tiefe plumpsen liess. Butterbrote, meist mit Salami belegt, immer leicht angeröstet und handwarm, in Butterbrotpapier eingepackt.

"Wir fingen die Hotte Mäcks auf wie im Sterntaler-Märchen, mit aufgespanntem Kleidchen."

 

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"Wenn man es sich genau betrachtet, macht der ganze Planet nichts als fressen und kacken", sagt sie. "Sogar Pflanzen machen das so. Von wegen blauer Planet. Das ist ein bißchen blauäugig von uns."

 

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"Ihr meint, auf der Erde gibt es nicht mehr genug sauberes Trinkwasser!? Dann hauen wir doch dicke Entsalzungsmaschinen ins Meer und saufen die Ozeane leer!"

- Die Gräfin -




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