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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Gern noch länger

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Wir alle sind nur da wirklich Mensch, wo wir ohne Angst in den Augenblick hineinrauschen, wo wir uns fallen lassen ohne wenn und aber, ohne Stützräder und Fixseil  - und gern noch länger bleiben.

*

Spaziergänge mit struppigen Hunden sind eine gesunde Sache, sagt der Doktor, schon wegen der vielen Hundehaare, die einem beim Gehen in die Lunge fliegen und die sich weiträumig ums Herz legen und es abfedern.

Lebt man im Bergischen Land zudem, im fiebrigen Wupperdelta, in der Neuen Eisenzeit, wo die Wälder hermetisch rauschen, dann ist das Herz mehr als gewappnet. Dann sollte man noch viel längere Spaziergänge machen.

Wandering. Wandering in hopeless night. (Jim Morrison)

Oder wie ein türkischer Arbeitskollege, Erhan, zu sagen pflegte, bevor er sich wieder in die Kulissen verdrückte: "Erhan jetzt Spazierengehen Bla-Bla!" Streckte einem die Zunge raus, lachte keck auf und war weg für den Rest des Tages.

Sehr gesund.

Spazierengehen = ein Wort, das fatalerweise in unserer Kindheit an die Tugendhaftigkeit verfüttert wurde, an biederen Sonntagen mit den Eltern, Großeltern und Tantchen.

Dabei ist Spazieren ein Streunen. Ein wildes Klettern, ein Raufen im Morast! ein Brennen! ein Erobern von Landschaft! den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt!

voran!

*

Erhan erzählte, wie er mal versucht habe sich selbst zu hypnotisieren, indem er eine halbe Stunde ununterbrochen auf das rote Standby-Licht seiner Stereoanlage blickte.

"Und?" fragte ich, "hypnotisiert?"

"I wo. Eingepennt."

*

“Das ist nicht schön!” schnaubt die Gräfin. Na, da hat sie recht. Das ist in der Tat nicht schön, wenn man aus der Haustüre tritt und es wabert ein Geruch durch die Luft, als habe ein mopsiger alter Mann Leberwurstbrötchen gegessen und in der Folge mehrmals kräftig aufgestossen.

“Ich hab überhaupt keine Lust mehr auf Spazierengehen”, jammert sie, "bei dem Gestank!"

“Ja ich denn?” jammere ich zurück.

“Leberwurst”, denkt der Hund, die Nase hart im Wind.

Ach wo! Los jetzt! Spazier den frühen Abend! Zur besten Sportschau-Zeit im Herbst! Leichter Regen! Ritual! Eine Runde über die Felder. Es riecht nach Leder und Licht, nach Schlamm & Erde. Nach Düften, die kess durch die Zellen klimpern. Nach Radfahrern, die von hinten heranflattern, und nach Hundekot am Wegesrand, dick wie Sonntagsbuchstaben.

Und alle drei Meter muss ich stehen bleiben und eine Notiz machen. Eine Idee festhalten, ein Bild, ein kleiner Satz.

“Was schreibst du denn dauernd?”

“Drei Meter Sätze.”

Der Wald in den Wupperbergen birgt Geheimnisse. Man kann an dreißig Tagen hintereinander dreißig Mal an derselben Stelle abbiegen und glauben, jeden kleinen germanischen Feuerbusch zu kennen, doch biegt man aus Versehen auch nur einen halben Meter zu weit rechts ab, tut sich gleich ein Terrain auf, das man so noch nie gesehen hat, eine neue, die andere Welt.

Ein kleines Blatt, das AUGENSCHEINLICH keine Lust hat, zu Boden zu fallen, es steht mitten in der Luft, regungslos.

"Ich bin ein Wunder", säuselt es wie angetrunken und schwebt auf uns Spazierende zu, tänzelt in Augenhöhe vor uns wie an einem unsichtbaren Faden. Den Trick offenbart schliesslich das Gegenlicht: Das kleine Blatt, es ist vom Baum gefallen und hat sich in einem Netz verfangen, das quer über den Weg gezimmert wurde, von Spinnen.

"Dass der Tod so schön sein kann, so leicht und zart", murmelt die Gräfin.

Ja denkste Puppe! Jäh reißt ein Windstoß das Blatt fort; wie eine Sternschnuppe saust es um mich herum und kracht mir mitten auf die Stirn, samt Spinnennetz!

Die Gräfin lacht frei heraus. Sie weint. Es sind kleine LSD-Tränen. Sie steht da wie das Sterntalermädchen.


*

Geschlagene anderthalb Stunden sind wir auf dem alten Postweg unterwegs. Andauernd bleibt einer stehen, um sich etwas anzugucken, der andere schliesst auf und schaut sich das auch an.

Wir kreisen wie Satelliten um die eigene Geschichte.

"Das ist kein Gehen, das ist relativ flottes Stehen", übernehme ich die Deutungshoheit.

Wir verlassen gesicherte Pfade, kraxeln die Wupperberge rauf und runter, der Hund begeistert voran. Das ist sein Metier. Unterwegs in unwegsamen Gelände, die Nase am Boden, ein Trüffelschwein.

"Molli riecht wie meine alte Blockflöte", schnuppert die Gräfin am Fell des Hundes, "wenn das Mundstück voller Speichel war."

*

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*

Erinnerungen an die Kindheit waren unsere Morgengabe, vom ersten Moment an. Wenn man sich kennenlernt, spürt man instinktiv, ob der andere vielleicht ähnlich aufgewachsen ist. Ob man in etwa das gleiche braucht im Leben. Als wir uns kennenlernten, war da dieses Muttermal über ihrer Oberlippe, diese Schokoperle. Ich hatte ein Grübchen, in dem ein Muttermal Platz hatte. Das ging in Ordnung. Das passte.

Es konnte losgehen.

*

Als Frau Moll noch klein war, gerade dem Welpenalter entwachsen, räuberte sie oft mit Spiky, einem Rüpel von einem Schäferhundrüden aus der Nachbarschaft. Die Nahkämpfe der Beiden endeten oft mit Zahnfleischbluten und ausgerupften Fellbüscheln, sie knallten mit den Rippen aneinander, dass es nur so schepperte, unter Einsatz des ganzen schnaubenden Hundekörpers.

Doch Frau Moll ist nicht mehr so beweglich, sie knickt schon mal mit den Hinterläufen ein, gerät ins Stolpern.

"Unsere alte Oma", ruft die Gräfin verliebt.

*

Der Wald, ein Körbchen voll schräger Geräusche. Eicheln gehen zu Boden, Kastanien klackern. Eine Krähe kräht im Fliegen mit ihrem Kumpan um die Wette.

“Krah-krah!”

“Wenn man im Herbst vorüberfliegende Krähen hört, ist man innerhalb Sekunden im Mittelalter”, meint sie. “Dieser Herbst ist uralt.”

“Bronzezeit”, schätze ich.

Wir stöbern in Schonungen, entdecken einen verwunschenen, illegalen Grillplatz, wir rücken dem Wald tiefer auf die Pelle: über den alten Postweg, wo uns alle anderthalb Meter ein frischer Kuhfladen auflauert.

“Wie zum Teufel kommen Kühe in den Wald?”

“Zu Fuß”, vermute ich. “Die grillen hier. Das ist ein uralter Grillplatz der Kühe.”

Auf Laub geht man weich, wie auf frischen Leichen.

*

Ich kann nicht anders. Mir entfährt ein “kleil!”, weil sich mein Sprachzentrum auf die Schnelle nicht entscheiden kann zwischen “Klasse!” und “Geil!”, als die Gräfin sich die rote Lederleine von Frau Moll um die Hüfte wickelt, drapiert mit okkergelbem Laub tanzt sie die Herbst-Domina, im Napoleonmantel.

KLEIL!

Die Gräfin, ein seltsames, ein seltenes Arrangement von Frau.

Wie lange noch.

Nasses Laub glimmt tief im Forst, abseits der Pfade, der Hund buddelt im Erdreich, im Windschatten unserer Worte.

Die Gräfin nimmt sich vor, in Zukunft nicht mehr so viel und sorglos zu plappern, “ach du Schande!” rufe ich aus, “mein armes Notizbuch!", sondern ihre Gedanken lieber ins Nichts rascheln zu lassen,

“dann bin ich glücklich.”

“Na schön”, sag ich. “Dann lauere ich eben mit dem Notizbuch künftig im Nichts.”

Geht in Ordnung.

*

Entlang der Bahngleise. Im Schotter nach Gegenständen fahnden, die Leute aus dem Regionalzug werfen, der alle zwanzig Minuten zwischen Solingen, Wuppertal, Remscheid verkehrt:

3 mumifizierte dunkle Rosen im Gleisbett.

“Eine Rose ist noch ein bisschen schön”, sagt die Gräfin, und legt sie zurück. “Vielleicht ist hier mal jemand tödlich verunglückt. Was meinst du? Vielleicht ist das eine Kultstätte.”

“Kann sein.”

Es kann vieles sein. Und es ist auch viel. Gewesen, vor allem. Vergangenheit überall. Solange der Mensch lebt, produziert er Vergangenheit. Und je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Vergangenheit ist in der Welt. Es ist eine mächtige Überproduktion. Man weiss nicht mehr wohin mit all der Vergangenheit. Große Deponien bedecken schon den Kontinent: VERGANGENHEIT! Ein Maximum an FRÜHER, wohin man auch den Blick wirft.

(Weil wir die Zukunft nicht kennen, multiplizieren wir einfach unsere Vergangenheit und glauben, hundert Archen werden kommen und uns retten.

Ja sicher.)

*

Ein warmer Herbstschauer pixelt vorübergehend die Gegenwart. Die Haut. Es regnet - Bindfäden?

“Wieso Bindfäden? Nein, es regnet - Bleistifte! Graphit!” ruft sie.

Und mutmaßt sofort: “Oder meinst du, der liebe Gott gurgelt? Es riecht sogar ein bißchen nach Odol.” Sie schnuppert an ihrem Ärmel. “Hier. Riech mal.”

“Leberwurst?” frag ich vorsichtig, weil ich nicht gut rieche.

“Odol! Blödmann!”

*

Pferdegetrappel in der Ferne, ein Streifen Sonne fegt heiß über unsere Köpfe, als ur-plötzliches Bügeleisen.

“Wo kommt denn die Sonne auf einmal her..?”

Ist schon wieder verschwunden.

“War nur ne Bügelvisite.”

*

Plötzlich Kuddelmuddel in der Luft. Zwei Vogelschwärme geraten aneinander, kurzfristiges Aufbrausen, denn genauso schnell wie es begonnen hat, wird die Kollision für beendet erklärt, und jeder fliegt wieder seines Luftraums.

Der Waldweg verläuft eine Weile schnurgerade, ist sogar mit Kopfstein gepflastert. Ein Biker kommt uns entgegen, mit Stirnlampe und Leuchtdioden an den Knöcheln. Fesch und sportiv rumpelt er übers Pflaster, doch als wir auf gleicher Höhe sind und grüßen, stösst er nur ein klägliches “Moin..!” aus, wie ein defektes Hodenkehlchen.

“Schätze, sein Skrotum ist angegriffen von allerhand Überlandfahrten”, so die Gräfin.

Dann doch lieber Spaziergang. Ein tugendhaftes, zutiefst biederes Wort, in der Kindheit an langeweilige Sonntage verfüttert. Dabei ist es ein Streunen. Ein Klettern und ein Raufen im Morast! Den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt! weiter!

voran!

Da taucht eine Buche vor uns auf. Präsentiert längst vergangene Botschaften, eingeritzt ins Holz. ONLY TO MY LADY-FRIEND.

Erstaunliche Daten: 23. 3. 1976. MARCH 1966. 22. 3. 1946. (!)

"..BELLA.. EYE OF MY.."

Manche Zeichen sind tief in die Baumrinde gesunken, lassen sich kaum noch entziffern, anderes wirkt wie gestern erst eingeritzt. Es ist diese plötzliche Präsenz, die verblüfft, die Wiederentdeckung eines Evergreens.

Selbst die Sonne sucht sich ein Loch in den Wolken und schaut uns zu.

MARCH 1946. HENRY U. BELLA. (Ich folge einem Pfeil zur anderen Seite des Stamms..) HENRY AND BELLA IN THE WOOS TONIGHT! Es wurde ein D vergessen im August 1946, IN THE WOODS TONIGHT. War es ein Soldat der Alliierten, der sich am bergischen Frollein (Bea) bediente?

"Hallooo.. ihr Zweiiiii!" hallt es durch die Wupperberge, eine erregte Walddurchsage der Gräfin, die bereits den Hang hoch ist. Ich blicke den Hund an, der Hund bellt mich an: nichts wie hinterher!

Feuerahorn raschelt unter unseren Füßen und Pfoten.

Der Herbst ist die einzige Jahreszeit, wo es im Wald brennt, aber niemand muss löschen, hatte sie am Morgen gemeint, als wir loszogen. Der Herbst ist der Feuerläufer.

Die Sache ist geritzt.

*

foto.sanne.imherbst


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