Niemand wusste, was Pottleck bedeuten soll, aber man stellt Begriffe nicht in Frage, wenn man jung ist, sie sind eben da, fertig, aus - Pottleck.
Nachmittags trafen wir uns zum Fußballspielen unten im Klauberg auf dem staubigen Sandplatz, der in den 30er Jahren den Nazis als Terrain für Militärpferde gedient hatte. Mit den Rängen aus grün bepflanzten Erdhügeln, die den Platz zu den Seiten hin abschirmten, wirkte es wie ein kleines Natur-Stadion, und da sich schnell herumgesprochen hatte, dass am Klauberg eine Menge Talente bolzten, saßen nicht selten zehn, zwanzig schreiende Frührentner um den Platz herum.
Da war etwa dieser knorrige kleine Pole, der bei jedem Wetter da war, um seinen Bub anzufeuern, der verdammt lang war für sein Alter, aber keinen Namen hatte, kein Wort Deutsch sprach und meist stur geradeaus rannte mit hochroter Birne, ohne je die Pille zugespielt zu bekommen. Eine tragische Figur. (Der Vater.) (Der Sohn auch.)
Bevor es losging, mussten die Mannschaften gewählt werden. Dazu wurden zwei Kapitäne bestimmt, die beiden stärksten Spieler auf dem Feld. Wer jedoch von den beiden mit dem Wählen beginnen durfte, (was ja nicht unwichtig war, schließlich konnte sich der Gewinner den nächstbesten Spieler sichern, oder den einzigen Torwart), das wurde mit einer Runde Pottleck ausgefochten.
Pot-Leg.
Beim Pottleck standen sich die beiden Kapitäne gegenüber, im Abstand von einigen Metern, und marschierten aufeinander zu, straight wie ein Mariachi-Bass, abwechselnd einen Fuß vor den anderen setzend. Erst ging A eine Fußlänge vorwärts, dann B, usw. Gewonnen hatte, wer als letzter noch einen Fuß setzen konnte, ohne sein Gegenüber an der Schuhspitze zu berühren.
Je später der Nachmittag, desto ausgefuchster wurde gepottleckt. Vor allem in den Großen Sommerferien, wenn es erst um halb zehn dämmerte und über den Tag verteilt mehrfach gewählt werden musste, wurde die entscheidende letzte Fußlänge gestückelt. Wenn abzusehen war, dass der Platz zwischen den beiden Kontrahenten für eine ganze Fußlänge nicht mehr ausreichte, winkelte man den Fuß eben an und setzte ihn schräg auf. Damit blieben in der Regel auch noch für den Gegner zwei, drei Zentimeter Platz: Genug für eine Schuhspitze, von oben senkrecht in den Staub gedrückt.
"Ballett-Tänzer!" musste der Sieger eines solch knappen Duells in der Mittagssonne eventuell über sich ergehen lassen, aus dem Hals zwanzig wütender Frührentner, deren Söhne ins Team der Luschen gewählt worden waren, aber gewonnen war gewonnen - wen juckten da Hohnrufe.
Nur warum dieses Verfahren in unserer Strasse Pottleck hieß, oder Pot-leg, keine Ahnung.
*
Jeder kennt es, diese in unregelmäßigen Abständen auftauchenden Szenen aus der Kindheit, die keinen erkennbaren Sinn machen. Wo man sich, mittlerweile erwachsen, fragt: aha, und was soll das bitteschön? Hatte meine Kindheit nichts Spannenderes zu bieten!? Wieso gerade dieses Bild?
Bei mir ist es folgende Szenerie, die in meinem Kopf periodisch wiederkehrt: 1972. Ich komme von der Schule heim und freu mich auf Fußball im Fernsehen, das Europapokalspiel zwischen Steaua Bukarest und Bayern München. Ein Nachmittags-Spiel, Europapokal der Landesmeister.
So sehr ich Bayern München heute nicht leiden mag, in den frühen Siebzigern hatte das Team ein Gesicht: Gerd Müller hatte ein Gesicht, Beckenbauer hatte eins, (wenn auch komisches), Bulle Roth, und sogar Uli Hoeness, pfeilschnell und immer geradeaus rennend, hatte zumindest seine hochrote Birne. Und, nicht zu unterschlagen, der vierschrötige Vorstopper Katsche Schwarzenbeck, der wie eine Machete übers Spielfeld zog, um den anderen Bauernfressen seiner Mannschaft den Weg frei zu hauen.
Irgendwie fand ich Bayern nie gut.
Fußball im TV war damals was besonderes. Es gab ja nicht viel. Wir hatten ja nichts. Samstags die Sportschau um sechs und abends um zehn das Aktuelle Sportstudio, ab und an ein Länderspiel, und eben den Europa-Cup.
Da Rumänien 1972 noch kein Farbfernsehen hatte, wurde die Partie aus Bukarest in s/w übertragen. Aber jetzt kommt's: Darum gehts gar nicht! Die Szene, die periodisch in mir hochkocht, betrifft den Kinderfilm, der vor dem Spiel ausgestrahlt wurde, ebenfalls in s/w, und von dem ich auch nur das Ende mitbekam, kurz bevor der Abspann einsetzte:
Ein Junge, etwa mein Alter, sitzt auf einer betonierten Kaimauer und blickt hinaus aufs offene Meer. Man hört Möwengeschrei, sonst nichts. Das Meer, der Hafenkai, der Junge. Genau dieses Bild. Ich sehe es alle paar Monate. Und jetzt komme mir bitte niemand mit so naheliegendem Psycho-Kram à la: Dieser einsame Junge, das bist doch du! Und das viele Wasser am Horizont!
Schon klar.
Nachmittags trafen wir uns zum Fußballspielen unten im Klauberg auf dem staubigen Sandplatz, der in den 30er Jahren den Nazis als Terrain für Militärpferde gedient hatte. Mit den Rängen aus grün bepflanzten Erdhügeln, die den Platz zu den Seiten hin abschirmten, wirkte es wie ein kleines Natur-Stadion, und da sich schnell herumgesprochen hatte, dass am Klauberg eine Menge Talente bolzten, saßen nicht selten zehn, zwanzig schreiende Frührentner um den Platz herum.
Da war etwa dieser knorrige kleine Pole, der bei jedem Wetter da war, um seinen Bub anzufeuern, der verdammt lang war für sein Alter, aber keinen Namen hatte, kein Wort Deutsch sprach und meist stur geradeaus rannte mit hochroter Birne, ohne je die Pille zugespielt zu bekommen. Eine tragische Figur. (Der Vater.) (Der Sohn auch.)
Bevor es losging, mussten die Mannschaften gewählt werden. Dazu wurden zwei Kapitäne bestimmt, die beiden stärksten Spieler auf dem Feld. Wer jedoch von den beiden mit dem Wählen beginnen durfte, (was ja nicht unwichtig war, schließlich konnte sich der Gewinner den nächstbesten Spieler sichern, oder den einzigen Torwart), das wurde mit einer Runde Pottleck ausgefochten.
Pot-Leg.
Beim Pottleck standen sich die beiden Kapitäne gegenüber, im Abstand von einigen Metern, und marschierten aufeinander zu, straight wie ein Mariachi-Bass, abwechselnd einen Fuß vor den anderen setzend. Erst ging A eine Fußlänge vorwärts, dann B, usw. Gewonnen hatte, wer als letzter noch einen Fuß setzen konnte, ohne sein Gegenüber an der Schuhspitze zu berühren.
Je später der Nachmittag, desto ausgefuchster wurde gepottleckt. Vor allem in den Großen Sommerferien, wenn es erst um halb zehn dämmerte und über den Tag verteilt mehrfach gewählt werden musste, wurde die entscheidende letzte Fußlänge gestückelt. Wenn abzusehen war, dass der Platz zwischen den beiden Kontrahenten für eine ganze Fußlänge nicht mehr ausreichte, winkelte man den Fuß eben an und setzte ihn schräg auf. Damit blieben in der Regel auch noch für den Gegner zwei, drei Zentimeter Platz: Genug für eine Schuhspitze, von oben senkrecht in den Staub gedrückt.
"Ballett-Tänzer!" musste der Sieger eines solch knappen Duells in der Mittagssonne eventuell über sich ergehen lassen, aus dem Hals zwanzig wütender Frührentner, deren Söhne ins Team der Luschen gewählt worden waren, aber gewonnen war gewonnen - wen juckten da Hohnrufe.
Nur warum dieses Verfahren in unserer Strasse Pottleck hieß, oder Pot-leg, keine Ahnung.
*
Jeder kennt es, diese in unregelmäßigen Abständen auftauchenden Szenen aus der Kindheit, die keinen erkennbaren Sinn machen. Wo man sich, mittlerweile erwachsen, fragt: aha, und was soll das bitteschön? Hatte meine Kindheit nichts Spannenderes zu bieten!? Wieso gerade dieses Bild?
Bei mir ist es folgende Szenerie, die in meinem Kopf periodisch wiederkehrt: 1972. Ich komme von der Schule heim und freu mich auf Fußball im Fernsehen, das Europapokalspiel zwischen Steaua Bukarest und Bayern München. Ein Nachmittags-Spiel, Europapokal der Landesmeister.
So sehr ich Bayern München heute nicht leiden mag, in den frühen Siebzigern hatte das Team ein Gesicht: Gerd Müller hatte ein Gesicht, Beckenbauer hatte eins, (wenn auch komisches), Bulle Roth, und sogar Uli Hoeness, pfeilschnell und immer geradeaus rennend, hatte zumindest seine hochrote Birne. Und, nicht zu unterschlagen, der vierschrötige Vorstopper Katsche Schwarzenbeck, der wie eine Machete übers Spielfeld zog, um den anderen Bauernfressen seiner Mannschaft den Weg frei zu hauen.
Irgendwie fand ich Bayern nie gut.
Fußball im TV war damals was besonderes. Es gab ja nicht viel. Wir hatten ja nichts. Samstags die Sportschau um sechs und abends um zehn das Aktuelle Sportstudio, ab und an ein Länderspiel, und eben den Europa-Cup.
Da Rumänien 1972 noch kein Farbfernsehen hatte, wurde die Partie aus Bukarest in s/w übertragen. Aber jetzt kommt's: Darum gehts gar nicht! Die Szene, die periodisch in mir hochkocht, betrifft den Kinderfilm, der vor dem Spiel ausgestrahlt wurde, ebenfalls in s/w, und von dem ich auch nur das Ende mitbekam, kurz bevor der Abspann einsetzte:
Ein Junge, etwa mein Alter, sitzt auf einer betonierten Kaimauer und blickt hinaus aufs offene Meer. Man hört Möwengeschrei, sonst nichts. Das Meer, der Hafenkai, der Junge. Genau dieses Bild. Ich sehe es alle paar Monate. Und jetzt komme mir bitte niemand mit so naheliegendem Psycho-Kram à la: Dieser einsame Junge, das bist doch du! Und das viele Wasser am Horizont!
Schon klar.