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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Der weisse Prinz

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Trinken war eine Frage von Gesellschaft. Ich war ein Gesellschaftstrinker. Ich hab in meinem ganzen Leben insgesamt einen Kasten Bier allein getrunken. Den Rest in Gesellschaft. Meist ging ich zum Trinken ins Mumms, der Zentrale. In den frühen Achtzigern erlebte der Laden, eine ehemalige Eisdiele, goldene Tage. Er war mehr und mehr zum Treffpunkt verschiedener Freundeskreise und Cliquen geworden, deren Grenzen immer durchlässiger wurden, bis am Ende ein großes feierndes Pack übrig blieb, ein oder zwei legendäre Jahre lang. Es war wie in einer Goldmine, die man erst verlässt, wenn das allerletzte Nugget gehoben ist.

Höhepunkt war der Freitagabend. Gegen zehn, halb elf war der alte Karnickelbau an der Mummstrasse so brechend voll, es mussten Türsteher engagiert werden, um all die Leute abzuweisen, die keine Stammgäste waren. Wer es irgendwie reingeschafft hatte, stand dicht gedrängt am Tresen und verteidigte rempelnd seinen Platz.

Zwischendurch aufs Klo gehen war ein Risiko. Wer zurückkam, musste sich aus der vierten Reihe Glas für Glas an den Tresen zurücksaufen, ein mühseliges Geschäft, bei dem sich andererseits leicht Bekanntschaft schließen ließ. Mein persönliches Highlight war der Moment, wo ich Pissen ging wie Gott mich schuf. Nicht unten auf dem Pissoir, nicht heimlich untern Tisch, im Gegenteil, ich ließ es im Gedrängel plätschern. Immer auf den ollen Gumminoppenboden, immer mitten rein, wie ein Elefant, aus einer Laune heraus.

Die Gräfin, allerhand gewöhnt, ist konsterniert. "Das hast du doch nicht wirklich gemacht..!" Nein, mein Schatz, natürlich nicht. Wo denkst du hin.

Es dauerte jedes Mal seine Zeit, bis irgendwer dahinter kam, was los war. Erstens war die Musik ziemlich laut, zweitens arbeitete ich relativ unauffällig. Ich hielt den Pimmel nicht demonstrativ in der Hand, sondern hatte ihn locker in den heruntergezogenen Reißverschluss eingehangen. Wie überm Geländer hing er da, damit ich mir nicht auf die Schuhspitzen pinkelte. Außerdem blieben auf diese Art die Hände frei und ich konnte plaudernd in den Kreis der Leute strullern, die ich eigens für diese Aktion um mich geschart hatte.

Der dicke Hansen war dabei, Schnaat, der nervös mit den Augen klimperte, weil er der einzige war, der schon die Startvorbereitungen mitkriegte, und der arme Karlos natürlich, den es mehr als einmal erwischte.

“Glumm, du alte Pottsau! Immer mir in die Halbschuhe!”

Was mir dabei so diebische Freude bereitete, war weniger der dämliche Pimmel in aller Öffentlichkeit oder das Schiffen eines Ackergauls, es war vielmehr die ganze groteske Situation, die aufflackernde Panik in den Gesichtern, das.. “NEIN! Der Kerl pisst doch nicht jetzt.. WIRKLICH hier rein..!”

Die Panik war nicht in allen Gesichtern zu sehen, logisch. Karlos, Schnaat, der dicke Hansen, Benzini – die In-Crowd verzog irgendwann kaum noch eine Miene. Nun ja, bis auf Karlos. Klar. Der schon. Der verzog schon eine Miene. Der schon.

*

Bevor Benzini Freitagabends im überfüllten Mumms aufkreuzte, hörte man schon von der Straße her seinen heiseren, von sich selbst begeisterten Gesang.

"Linkes Bein hüpft hin und her, rechtes Bein tut sich nicht schwer, zwei Beine geh’n von ganz allein in das nächste Wirtshaus rein.."

Wo auch immer Benzini das Trinklied aufgeschnappt hatte, er machte es zu seiner eigenen Sache. Es klang wie maßgeschneidert, ein rockiger Schnaps-Shuffle. Dann erst flog die Eingangstür auf und eine kapitale Kinnlade schob sich um die Säule herum und schaufelte sich den Weg frei Richtung Tresen.

“Platz da, ihr Haderlumpen!”

Benzini war da. Der Löffelbagger. King of Absturz. Das Wochenende konnte losgehen.

*

Sonntagnacht, ein Uhr. Das Wochenende war gelaufen.

Als der Geschäftsführer die letzte Runde einläutete, verließen wir das Mumms und zogen zur Eissporthalle, um Benzinis Wagen abzuholen. Unsere Schritte hallten durch die in der Dunkelheit daliegenden Fußgängerzone, wir passierten die leeren Fabrikhallen der Bahnhofsgegend und efeubewachsenen alten Villen von Schneidwarenfabrikanten, die so verlassen dastanden wie die Herren Konsul beim letzten Stehempfang – mit ratlosem Häppchengesicht.

Benzini rotzte auf den Boden. “Chicoree.. Was glaubt die blöde Kuh eigentlich, wer sie ist? Chicoree! Dass ich nicht.. lache! Hab ich ja noch nie gehört!”

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Der Zorn ernüchterte ihn, und jede neuerliche Aufwallung vernichtete einen weiteren Schnaps in seinem Blutkreislauf und heizte ihn innerlich auf, während ich mühsam Schritt hielt.

Die Frau, um die es ging, war Jacki. Eine leicht unterkühlte superblonde Kellnerin mit langen Folklorebeinen und weißen Stulpenstiefelchen, der Benzini schon seit langem nachstellte. Er fand sie unglaublich sexy. Sie bedeutete ihm was. Er kam nicht an sie ran.

In ihrer untadeligen Art erinnerte mich Jacki fatal an Lassie, den TV-Collie, der aus dem Brackwasser steigt und schon in der nächsten Szene wieder so trocken geföhnt und onduliert durch die Landschaft federt, als hätte die Welt noch kein Brackwasser gesehen.

Dabei war die Ausgangslage tipptopp gewesen, der Freitagabend hatte für Benzini nicht übel begonnen. Endlich hatte Jacki seinem Werben nachgegeben, endlich war Benzini im Geschäft. O-Ton Benzini, als ich das Mumms betrat: "Glumm - ich bin vorne!!"

Wie ich hörte, hatten Jacki und Benzini im engen Treppenhaus runter zum Frauenpott geknutscht und gefummelt wie zwei heiße Teenies. Wo es schön nach Pisse stinkt, wie Karlos schwärmte. Was weiter vorgefallen war, keine Ahnung, jedenfalls sah man Jacki kurz darauf die rote Kellnerinnenschürze in die Ecke pfeffern und wütend durch die Eingangstür davonstiefeln, Benzini im Gedränge hinterher, ein untersetzter Räuberhauptmann auf Säbelbeinen. Es dauerte keine Minute und er kehrte zurück, ohne Jacki, hektisch fluchend, um Jahre gealtert.

Seither fluchte und rotzte und alterte er in einem fort. “Die blöde Funz!!” Wir erreichten den Parkplatz hinter der Eissporthalle. Er war leer bis auf Benzinis Wagen, der seit den Mittagstunden dort parkte.

“Wir müssen uns ranhalten”, grunzte Benzini und ließ den Motor kommen. “Ist zwei Uhr. Ist fast zu spät.”

“Ist immer zu spät”, gähnte ich.

“Halt die Fresse.”

Ich sah ihn mir von der Seite an. Sein vierschrötiger Schädel hätte auch gut auf der Osterinsel stehen können, zwischen all den anderen Steinlegenden. Benzini, Kater Karlo der Südsee, Albtraum aller Tourismus-Manager.

“Wat is?” glotzte er zu mir rüber.

“Na, nix is. Mach hin.”

Ziel war das Getaway, die Rock-Disco am Stadtrand. Offiziell schloss der Schuppen zwar schon um zwei, inoffiziell konnte es aber auch locker drei, halb vier werden. Und darauf bauten wir. Das war unsere Chance.

“Das schaffen wir”, raunte Benzini. “Ich geb Gas, bis ich in meinen Stiefeln sterbe!”

“Oder in Pantöffelchen”, murmelte ich.

*

Benzini fuhr Auto, als hätte er ein Military-Pferd unterm Hintern: vor ihm schwieriges Gelände und nur noch wenige Minuten zu leben. Er fuhr Auto, als wären Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur ein Hütchenspiel, mit dem sich die Mitspieler gegenseitig auf Trab hielten. Man wusste nie, in welcher Zeitschleife man sich befand. Hatte man die Fahrt schon hinter sich? War man mittendrin? Längst verhaftet? Mausetot? Jederzeit konnte man all sein Geld aufs falsche Hütchen setzen und als Bankrotteur enden.

Autofahren mit Benzini war ein unentwirrbares Desaster aus Gasgeben, Kupplung schleifen lassen, Babylon und doppelten Tsunamis. Nicht, weil er nicht autofahren konnte, er WOLLTE so fahren, wie er fuhr. Schlimmer, er WOLLTE NICHT ANDERS. Es waren seine verdammten Pille-Füße, die Gas gaben.

Benzini fuhr einen kleinen weißen NSU Prinz, Baujahr 71, mit integrierter Bordbar in der Heckablage, gleich neben der Batterie. Zur Grundausstattung gehörte eine Pulle Strohrum für Notfälle, ein bißchen Beerenwein und Tonic sowie eine Flasche Gin, ungeöffnet. Beefeater in aller Regel. Gordon’s Dry ging auch in Ordnung. Gin war unser Hauptnahrungsmittel, trotz des Beigeschmacks von Parfüm. Gin machte ordentlich besoffen, auf die britische Art - dazu das literarische Renommee einer alles gleichschaltenden Zukunftsdroge, das ganze lauwarm abgemischt mit Tonic oder O-Saft, runter damit – brrrrh..

Innerhalb kürzester Frist verzeichneten alle Beteiligten zehn, zwanzig Pfund Übergewicht. Allein vom Ginsaufen. Beefeater.

Gordon’s Dry war auch in Ordnung.

*

"Die hat einen Dachschaden!"

“Na sicher hat Jacki einen Dachschaden”, meinte ich. “Alle Alten haben einen Dachschaden. Das ist doch das Schöne an den Alten. Oder nicht.”

“Das Schöne, das Schöne..”, brummelte Benzini. Er war zutiefst beleidigt. Mehr noch. Er war verletzt. Er hatte geglaubt, sie endlich knacken zu können. Und dann hatte sie doch die Biege gemacht. Und Benzini wusste nicht mal, warum. Was er falsch gemacht hatte. “Die kann mich mal, die blöde Funz. Was glaubt die eigentlich, wer sie ist?”

Er zündete sich eine Camel ohne an.

“Was war eigentlich los?” fragte ich.

“Na ja.. nix”, maulte er. “Das isses ja. Gar nix war los. Und plötzlich haut die ab.”

"Blödsinn, Benzini. Keine Alte haut einfach so ab.”

“Ach nee?! Weg ist weg! Drauf geschissen.”

Wie alle hübschen Kellnerinnen kokettierte Jacki mit ihrem Aussehen. Sie wickelte sich die blonden Haarsträhnen um den Finger und spielte damit so selbstvergessen und sexy gelangweilt herum, dass ihr der halbe Tresen zu Füßen lag und sabberte. Eigentlich war nicht viel los mit ihr. Eine Hündin in Stulpenstiefeln, mit blonden Folklorebeinen und netten Löckchen.

*

Ein typischer Sonntag im Jahr 1978 verlief so: In der Mittagszeit wartete ich zu Hause darauf, dass Benzini im weißen Prinz angebrettert kam, mit einem Getöse, als würde er notlanden, schwerverletzt, im Hochgebirge.

Er hatte die Nase voll vom Sonntag. Von diesem verdammten Dressurreiten im ZDF und Margaret Rutherford im Ersten. Meine Mutter blickte aus dem Küchenfenster.

“Da kommt dein Zigeuner”, stöhnte sie.

“Glumm, mach hin, du taube Nuss!” brüllte der Zigeuner und stiess die Beifahrertür auf. Kaum war ich unten angekommen und hatte den Fuß halb im NSU, gab er Gas, mit fliegender Türe.

“TÜR ZU, LUTSCHER!”

Eigentlich mochte meine Mutter Benzini. Sagen wir, er war ihr nicht unsympathisch. Doch sie fürchtete, er würde mich mit seiner Fahrweise und Roma-Wildheit ins Unglück stürzen. Wie jede anständige Mutter war sie davon überzeugt, dass ihr Sohn der bessere Sohn war, von allen Söhnen. Die schlimmen Finger waren stets die anderen. Die Finger mit Geld für Schnaps und Haschisch.

“In mir fließt uraltes Zigeunerblut”, prahlte Benzini gern.

Angeblich wimmelte es in der Linie seiner Vorfahren nur so von Trickdieben und Bänkelsängern, und wer seinen Vater gekannt hatte, der seine Tage an den Tresen der Nordstadt verlebte, der musste zugeben, ja, an dieser Ahnentheorie konnte etwas dran sein. Der Vater, klein und drahtig, das Haar pechschwarz, hatte nach der Scheidung von Benzinis Mutter eine kleine Wohnung direkt über seiner Stammkneipe bezogen. Vom Tresen ins Bett brauchte er nüchtern eine Minute, besoffen ging oft gar nichts, denn die Treppe war steil. Er mochte es dicke Klunkern an den Händen zu tragen und ging keiner geregelten Arbeit nach, nicht mal einer ungeregelten, war aber ständig flüssig, was uns ungeheuer imponierte. Ab und zu lud er uns auf ein Bier in die Nordstadt ein, dann saßen wir da auf dem Hocker und blickten zu ihm auf, obwohl er kleiner war als wir. Ein schweigsamer und stolzer Mensch, unbestechlich, mit Zigeunerblut in den Adern.

Nun sind fahrende Zigeuner aus dem Bild unserer Großstädte verschwunden, in meiner Kindheit gab es sie noch. Bis in die späten 60er Jahre zogen sie in Wohnwagenkolonnen durchs Land und suchten Stellen am Stadtrand, wo sie eine Weile ihre Zelte aufschlagen konnten. Wir lebten in solch einer Siedlung am Stadtrand, der Hasseldelle. Zweimal im Jahr kamen die Zigeuner. Wir durften keinen Kontakt zu ihnen knüpfen, durften nicht mit ihren Kindern spielen, unsere Eltern hatten etwas dagegen. Es hieß, Zigeuner verschleppten kleine Kinder in lange finstere Tunnelschächte und am Ende wartete das Mittelalter, wie beim Rattenfänger von Hameln. So richtig beeindruckte uns das nicht. Sobald die Roma ein paar Tage da waren, näherten wir Kinder uns ihrem Camp, meist bei Anbruch der Dunkelheit.

Eimnmal beobachteten Fleschkönigs und ich, wie ein Zigeunermann und seine Zigeunerfrau sich einen Igel zum Abendessen zubereiteten, über offenem Feuer. Ich schwöre. Ein Igel. Sie zogen die Haut mit den Stacheln ab und brieten das Fleisch über den Flammen. Wir sind abgehauen, so schnell wir konnten.

*

Benzini war nicht viel größer als sein Vater, aber muskulöser. Das Kinn breit und kantig, die Schultern wie Turnbarren, die Beine kurz & krumm. Ich mein, ich hab ja selbst Obeine vom vielen Fußballspielen, doch Benzinis Obeine waren scharfe Säbel. Im Nahkampf vor der Kneipe hiess es da für jeden Kontrahenten schnell "Gute Nacht Marie und kein Bett", wenn Benzini auf die Planche lud.

Einmal vertraute er mir ein Geheimnis an. "Ich bin ein Pechvogel. Und weil ich weiß, dass ich ein Pechvogel bin, muss ich besonders clever sein.” Ich stimmte ihm zu, ohne lange nachzudenken. “Ne dreiste Aktion starten und es nicht vermasseln, mehr kann man vom Leben nicht erwarten”, sagte ich.

“Mh”, meinte Benzini.

Mir ging erst sehr viel später auf, dass ich da ziemlichen Blödsinn verzapft hatte.

*

Natürlich hieß Benzini nicht Benzini. Benzini war einer der Irren aus dem Hollywood-KassenknüllerEiner flog übers Kuckucksnest. Im Film fand man die Figur meist dumm auf dem Anstaltsflur herumlungernd, im weißen Anstaltshemdchen, und jammerte “ich bin müde.”

Die Filmfigur hatte es meinem Kumpel so angetan, dass er im dicksten Kneipentrubel begann, sie zu imitieren. Er scherte vom Tresen aus und gähnte “BENZINI IST MÜDE, BENZINI IST SOO MÜDE ..”, schnellte zum Tresen zurück und machte da weiter, wo er aufgehört hatte.

Vom Temperament her war Benzini das genaue Gegenteil zur Filmfigur, dem immermüden und depremierten Irrenhaus-Insassen. Benzini entfernte alle sichtbaren Namenschilder von Türklingel und Briefkasten und ersetzte sie durch ein aufgepinseltes BENZINI, bis auch der letzte Aushilfspostbote kapiert hatte, wer hier nun wohnte. Post kam von nun an kaum noch.

“Das hat auch was für sich”, meinte Benzini.

Wenn er mich Sonntagmittags abgeholt hatte, fuhren wir zur Eissporthalle. Die Pistenbaröffnete Punkt zwölf, Sonntags war Happy Hour. Ausnahme: im Winter, wenn Disco-Laufzeit war. Dann waren im Gegenteil 50 Pfennig Disco-Aufschlag fällig, und zwar pro Drink. Aus Protest blieben Benzini und ich im weißen Prinz sitzen, hörten die Greatest Hitsder Kinks und nippten an der Bordbar. Aber niemals Strohrum. Der lag bei neunzig Prozent. Der war für Notfälle. Es war Sonntagmittag. Ein Notfall.

Später, in der Pistenbar, bestellten wir große Bier und ein Skatblatt. Bauernskat war unsere Spezialität. Nur Benzini und ich spielten Bauernskat, ich kannte keinen Menschen auf der ganzen Welt, der diese abgespeckte Skat-Variante länger als fünf Minuten betrieb. Eine Variante des Skat, wenn man bloß zu zweit ist und Langeweile Trumpf. Wenn der dritte Mann fehlt.

“He, Glumm, auf dem Tisch gehn se kaputt!” stieß Benzini mich an, wenn ich gelangweilt den Mädels nachstierte, die in der Eislaufhalle ihre Runden drehten und die Röckchen so hochwarfen, dass man Rüschen-Slips und Fotzenhaare sehen konnte. Ich machte den Stich, dann geschah lange Zeit nichts. Nur das Kratzen von gehärteten Kufen auf Eis war zu hören, das Malmen von Benzinis Kinnlade. Ein Sonntagmittag in der Pistenbar konnte verdammt einschläfernd sein.

Es blieb bei zwei, drei Bier und einigen Partien Bauernskat, bis es endlich sechs Uhr war und die Zentrale auf der Mummstrasse öffnete. Nur selten machten wir in der Pistenbar einen fetten Deckel und verliessen die Eissporthalle so stratzevoll, dass wir uns kaum noch auf den Beinen halten konnten. Einmal torkelten wir der Schwertstrasse entlang, als Benzini vorm Traditions-Gymnasium, höherer Lehrbetrieb für Jungen seit 1841, krakeelend zusammenbrach.

“MAHHAAAAAH..!!”

Dann zog Benzini eine Show ab, das hatten die Achtziger noch nicht gesehen. Wie ein Breakdancer rotierte und schubberte er über den vom Schneeregen nassen Bürgersteig, ein tollwütiger B-Boy. Schon nach den ersten Drehungen hatte er ein gewaltiges Loch in der Jacke, oben an der Schulter. Da es bereits dämmerte, hatte er sich für seinen exaltierten Nervenzusammenbruch den Lichtkegel einer Straßenlaterne ausgeguckt, damit auch jeder was zu sehen hatte. Das war obligatorisch. Benzini wollte gesehen werden, wenn er den Irren gab. Nichts war schlimmer, als nicht gesehen zu werden, wenn man durchdrehte.

Eine Szene wie aus dem B-Western, in voll ausgeleuchtetem Cinemascope, und ich war der Producer im Hintergrund, der mit fahrigen Fingern im Drehbuch blätterte, um zu sehen, was los war. Wo wir uns befanden. Ich fand nichts. Es gab nicht mal ein Drehbuch. Oder ein Hütchenspiel. Nein, die Sache war gefährlicher, als ich gedacht hatte: Der Kerl war tatsächlich bekloppt.

*

Benzini war schon das ganze Wochenende neben den Schuhen gewesen. In der Nacht zuvor, als wir morgens um drei aus der Disco gekommen waren, hatte er den armen Hitler aus dem Schlaf geklingelt.

Hitler, ein türkischer Landsmann, wohnte im selben Haus wie Benzini und führte im Erdgeschoß eine Snack-Bude. Er war penibel darauf bedacht, keinen Ärger mit dem deutschen Ordnungsamt zu kriegen. Das war für den anständigen schweigsamen Mann aus Anatolien das schlimmste: Trouble mit den Ordnungskräften. Zu seinen Vorsichtsmaßnahmen gehörte, nach Ladenschluß kein Bier, keine Spirituosen zu verkaufen. Er hielt sich strikt an alle Vorschriften, der brave Mann aus Anatolien, dem ein kurzer Schnurrbart wuchs und der keinen Ärger mit niemandem wollte, doch wenn ein kräftiger weißer Löffelbagger wie Benzini mitten in der Nacht gegen seine Wohnungstür bollerte und lauthals Flaschenbier verlangte, dann wusste Hitler nicht, wo er dran war.

“Benzini, laß den armen Hitler in Ruhe”, versuchten Karlos und ich noch auf Benzini einzuwirken, halbherzig allerdings, schließlich waren wir alle scharf auf ein paar Kannen Bier. Wir saßen in der Bredouille. Nur Benzini wußte, was er wollte. Wie immer. Und wenn er es nicht bekam, ging er zu Boden wie ein ungehöriges Balg und krakeelte solange, bis er es bekam. Wie auch immer, er bekam das Bier.

“ZEHN PULLEN KÖLSCH, HITLER! AUF KOMMI!”

“Psst, Männer..! Machen bittäh keine laute Herrrmann.. bittäh”, wiegelte Hitler ab und verschwand nach unten in die Pommesbude. Er füllte eine große Plastiktüte obenhin mit Flaschenbier und drückte leise die Türe zu. Immerhin hatten wir für ein großzügiges Trinkgeld zusammengeworfen. Auf Kommi. Der arme Hitler.

“Glumm, du Schwanzlutscher, hilf mir hoch!” grunzte Benzini, aber ich wusste Bescheid. ich wusste, was kam. Reichte ich ihm tatsächlich die Hand, würde er mich nur in die Tiefe ziehen und sich kaputtlachen. Am Tresen war ich oft genug auf seine Spirenzien reingefallen. Benzini klopfte einem auf den Brustkorb, he, was hast du’n da!?, und sobald man an sich runterblickte, bekam man es mit einem Nasenstüber zu tun, lässig mit dem Stinkefinger. Das war so richtig nach seinem Geschmack.

Benzini war ein sehr verlässlicher Bursche. Traditionsbewusst. Mit Säbelbeinen und rußigem Timbre. Ich ließ ihn gewähren auf dem Trottoir und tat so, als wüsste ich nicht, wem der Kerl gehörte. Sorry, kenn ich nicht, den Penner. Ist mir zugelaufen. Dummerweise war ich selbst so abgefüllt, dass ich in den Straßenverkehr geriet, was die Autofahrer zu wütenden Ausweichmanövern zwang. Benzini krümmte sich vor Lachen, auf dem nassen Beton.

Wagen fuhren im Schritttempo vorüber, blieben stehen. Die Fahrer wollten sehen, was hier los war. Benzini zeigte jedem den Muschifinger und blökte wie ein Viehdieb. Es war die pure Testosteronshow.

*

Natürlich handeln auch Männerfreundschaften von nichts anderem als Liebe. Karlos steckte mir einmal zum Geburtstag ein abgegriffenes Taschenbuch vom Flohmarkt in den Briefkasten, ohne jegliche Worte. Einfach nur das Buch, fertig. Ich denke of an Piroschka, eine wehmütige kleine Ballade von der unschuldigen ersten Liebe. Zusammensein mit Benzini hingegen bedeutete ständig die Machtfrage. Er wollte immerzu klären, wie weit er gehen konnte, wer wen dominierte. Es war ein Kräftemessen wie unter jungen Ziegenböcken, deren Geweihe aneinanderkrachten.

Diesmal aber gab es keinen Sieger. Wir wankten durch die feuchten Malteser Gründe Richtung Mummstrasse. Unentschieden war ein guter Ausgangspunkt unter Freunden. Es war eh alles nur Testosteron und eine Partie Bauernskat am Sonntag.

Mit Benzini war es wie beim Fußball. Vielleicht konnten wir deshalb so gut miteinander, auch wenn wir nicht die dicksten Freunde waren. Er nannte mich stets seinen elftbesten Freund, aber er nannte praktisch jeden Bekannten seinen elftbesten Freund.

Im Hobbyteam der Mumms Kickers spielte er Verteidiger, er war ein ungemütlicher Gegenspieler. Stürmern wie mir, ich spielte bei den Anarchos, stand er neunzig Minuten lang auf dem Fuß, und er war unerbittlich. Sobald man in Ballbesitz war, kam er angewatzt und stocherte einem mit ungelenken Füßen zwischen den Beinen herum, bis er die verdammte Pille irgendwie zu packen bekam und ins Aus spitzelte, mit diesem dreckigen Grinsen im American Football-Gesicht.

*

Abgesehen von unseren Bauernskatsonntagen waren wir zumeist im Trio unterwegs, mit Karlos als drittem Mann. Drei Mann war eine gute Sache. Eine Konstellation, die mich in meine Kindheit zurückführte. Mit zehn hatte ich zwei TV-Helden, deren Serien im Vorabendprogramm liefen, Percy Stuart und Rinaldo Rinaldini. Der eine ein fescher Stenz, der andere ein Räuberhauptman. Ich guckte mir Karlos und Benzini an. Der Stenz und der Räuberhauptmann.

Ich war goldrichtig.

*

Eine Weile war noch ein Vierter mit im Bunde, ein verschlagener Bursche namens Zerra. Er war von der Schule geflogen, weil er alles vermöbelte, was ihm komisch kam. Er war es gewohnt, kurzen Prozess zu machen, ohne große Gegenwehr. Ein oder zwei präzise Handkantenschläge, ein trockenes Knacken, dann war nichts mehr zu hören. Nicht mal ein Mucks. 

Zerra war der einzige echte Schläger, mit dem ich je näher zu tun hatte. Zwar hatte auch Benzini etwas von einem Schläger, aber es fehlte ihm an Brutalität. Er hatte ein zu gutes Herz. Auf seine Art war er sogar schüchtern. Der Premiumproll, den er gerne gab, war größtenteils Attitüde, eine selbstgezimmerte Showtreppe, die Benzini gekonnt hinabstieg, Stufe um Stufe auskostend. Ich mochte ihn sehr.

Zerra lernten wir kennen, als ihn sein Alter gerade vor die Tür gesetzt hatte. Nun lebte er allein mit seinem Kettenhund, den man so gut wie nie zu Gesicht bekam, in einem leerstehenden Abbruchhaus am Frankfurter Damm – ohne Strom, ohne Heizung, nur mit Kerzenlicht. Zerra war eine Ein-Mann-Hausbesetzung, von der kaum jemand wusste. Weil das Haus der zukünftigen Stadtautobahn im Wege stand, konnten die Bagger jeden Tag anrücken.

“Und dann?” fragte ich. “Was machst du, wenn sie dir die Hütte unterm Arsch wegbeißen?”

“Dann.. wird sich schon was finden. Wir haben doch alle dieselbe Mami. Die wird schon für mich sorgen.”

Manchmal wünschte ich mir, ihn zu packen und alles, was falsch gelaufen war in seinem Leben, aus ihm herauszuschütteln, einfach, um zu sehen, was danach noch übrig blieb. Was nicht verkorkste Kindheit war. Ob sich damit arbeiten liess. Er hatte es nicht leicht, keine Frage. Ab und zu kam er mit schönen Sachen rüber, Sachen wie “Ich hab kein Auge zugetan letzte Nacht, Jungs. Also zu schon, aber dahinter war die Hölle los.”

Während Benzini, Karlos und ich noch bei den Eltern wohnten und das Leben bequem auf Autopilot justieren konnten, war Zerra ganz auf sich allein gestellt, nicht mal 17 Jahre alt. Er sprach meist leise, fast flüsternd, und grinste dabei so schief und herausfordernd, als würde er am liebsten jeden Moment zuschlagen. Nur vor uns hatte er Respekt. Ihm war das Herz übergelaufen, als wir zu viert untergehakt aus dem großen Mühlenhof-Kino kamen, wo wir Quadrophenia von den Who gesehen hatten.

“We are Mods! We are Mods!” brüllten wir beseelt von den gewalttätigen Filmszenen am Strand von Brighton, wo sich Rocker und Mods gegenseitig verprügelt hatten, und zogen durch die Stadt. Wären uns zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Ledernacken über den Weg gelaufen, Zerra hätte sie ganz allein kurz und klein geschlagen, doch es gab keine Rocker, die uns begegneten. Wir waren ja nicht mal Mods – aber wen scherte das. An diesem Tag war Zerra überglücklich. Endlich hatte er Freunde gefunden. Bis die Nacht hereinbrach und er wieder mutterseelenallein zum Abbruchhaus am Frankfurter Damm marschierte, wo zum Wärmen nur der Bluthund blieb.

"Nur..? Wieso nur der Bluthund?” widersprach er. “Der Hund spürt doch, dass ich seine Wärme brauche, wenn ich friere. Das macht ihn stolz. Das macht ihn glücklich. Er wird gebraucht. Der Hund erfährt meine Liebe. Macht ihr jemanden stolz und glücklich?”

Mir fiel nichts ein. Dann: “Na, doch. Dich, Zerra.”

Anfangs hielt ich Zerra für einen Analphabeten, bis ich heraus fand, dass er mehr Bücher las als wir alle zusammen. Bücher, aus denen er sich seine eigene Straßenphilosophie zusammensetzte. Sie erlaubte ihm, sich alles zu nehmen, was er zum Leben brauchte.

Mitte der Achtziger wurde ich zufällig Zeuge einer für Zerra typischen Situation. Weil er mittlerweile heroinsüchtig war, am diesem Tag aber einen Affen schob, ohne einen Pfennig auf der Tasche, erleichterte er einen Junkie, mit dem er für einen Deal verabredet war, um sämtliche Packs, die er bei sich trug. Und dazu musste er nicht einmal besonders laut werden.

"Ich schlag dich zu Brei, wenn du die Packs nicht freiwillig rausrückst", raunte sein Blick. Was sollte Dirk H. machen. Einen Kopf kleiner als Zerra, dünn und klapprig, nicht die Bohne asozial. Er weinte. Das bisschen Pulver war alles, was er noch besaß. Er sah mich hilfesuchend an. Ich saß in der Nähe und wartete auf den Bus. Es war reiner Zufall, dass ich in der Nähe war. Dirk bettelte mich an, tonlos. Ich sehe ihn heute noch dasitzen, unterm Dach der Bushaltestelle. Er wusste, dass ich Zerra von früher kannte, doch es war allers schon zu lange her, ich konnte nichts für ihn tun. Zerra vermied jeglichen Blickkontakt.

*

Bevor ich das erste Mal stoned war, fand ich Drogen doof. Mit sechzehn holten wir uns ab und zu einen Kasten Bier und eine Pulle Pernod und zogen uns die Hirse zu, aber mit sonstigen Drogen hatten wir nichts am Hut. Der Sommer 76 brachte die Wende. Plötzlich waren Kiffer cool und Leute, die auf Alkohol standen, Penner. Die Entwicklung ging über Nacht.

Ich traf Fryda wieder, meine erste Liebe, eine blonde skandinavische Schönheit, die ich aus den Augen verloren hatte. Jetzt war sie achtzehn und hübscher und sommersprossiger und skandinavischer als je zuvor, doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Sie war anders geworden. Dann rückte sie mit der Bombe heraus. Sie war auf Heroin. Auf “H”, wie wir das damals nannten, Eitsch.

“Wenn wir uns einen Druck setzen”, erzählte sie von ihrem neuen Leben in ihrer Ohligser Clique, “machen wir uns schön. Wir putzen uns richtig raus, legen Make up auf und Lidschatten und alles und fahren nach Köln oder Düsseldorf auf die Rolle. Auf H sind wir Stars.”

Ich war ehrlich empört. H war wirklich das letzte in meinen Augen. Ich schimpfte sie aus, ich verstand nicht, wie man so blöde sein konnte, einen Stoff wie Heroin zu nehmen. Da wusste doch jedes Kind, was auf einen zukam, der von Heroin abhängig wurde.

“Wie die Stars!” höhnte ich, doch sie blieb unerreichbar für meine Worte. Sie lachte nur und nannte mich ihren naiven kleinen Andi von früher. Dann hörte ich eine Weile nichts mehr von ihr.

An einem Sommersonntag, ich war mit einem Bekannten im Wagen unterwegs, sah ich sie plötzlich auf dem Bürgersteig stehen.

“Halt an”, sagte ich zu Carsten, der einen alten Mercedes fuhr und schläfrig in die Welt guckte. Er liess mich raus, Fryda und ich fielen uns in die Arme. Sie war ins Zentrum gezogen, wohnte am Friedhof, war clean. Ich blieb bis zum Abend bei ihr und wir holten alles nach, wofür wir in jüngeren Jahren zu jung gewesen waren. Dann hörte ich wieder nichts von ihr, bis 1995.

Fryda lebte mit einem Typ in Dortmund, beide waren latent auf Heroin, so weit ich wusste. Die Adresse hatte ich von einem gemeinsamen Bekannten, der Kontakt zu ihr hielt. Eines Tages stattete ich Fryda einen Überraschungsbesuch ab, stand unangemeldet bei ihr auf der Matte, in der Dortmunder Nordstadt. Wir hatten uns fast fünfzehn Jahre nicht gesehen. Mir öffnete eine geschrumpfte Heroin-Hausfrau die Türe, und sie trug eine große Brille. Nach einem ersten ungläubigen Austausch von Blicken fiel sie mir um den Hals.

“Bist du das etwa..?! Andi..? Bist du das wirklich?”

Die Taschen voller Kohle, (ich hatte eine Stunde zuvor einen Vorschuss für ein Buchprojekt über Rock-Musik kassiert, deshalb war ich in Dortmund), dauerte es keine zehn Minuten, bis ich Fryda gestand, warum ich überhaupt da war.

“Kannst du was Pulver klarmachen?”

Sie war nicht mal so überrascht, wie man meinen könnte, sie hatte von meiner Sucht schon gehört, auch wenn sie schon lange aus Solingen fort war.

“Wieviel willst du setzen?” fragte sie und holte ein Bier aus dem Kühlschrank. Sie erledigte einige Telefonate, aber es tat sich nichts an diesem Abend, nirgends war H aufzutreiben. Ich blieb eine Stunde und lernte ihren Typ kennen, der die halbe Zeit am Rechner saß. Sie bot mir etwas Methadon an, aber danach stand mir nicht der Sinn. Ihr Freund erzählte, dass ihm während einer Schmuggelfahrt über die holländische Grenze fast der Pariser im Darm geplatzt war. Wie, fast geplatzt? sagte ich. Na, der war porös geworden, sagte er, von der Darmflüssigkeit.

“Jedes Mal, wenn wir in danach was von dem Pulver aufkochten, stank die ganze Hütte so nach Scheiße, als hätte man einem alten Hund in den Arsch gegriffen.. Aber nur weil es ein bisschen nach Scheiße müffelt wie in Tante Juttas Mufftäschchen, wirft man keine sechzig Gramm weg.”

Natürlich nicht.

Ich fuhr heim, ohne Pulver klargemacht zu haben. Fryda sah ich nie wieder.

*

Wir saßen im NSU Prinz vor der Eissporthalle. Benzini kam nicht darüber hinweg, wie es gelaufen war mit Jacki.

“Erst macht die Funz mich heiß, und ne halbe Stunde später lässt sie mich dastehen wie einen dummen Jungen, da soll mal einer durchblicken.. Nur weil ich einen Joke gemacht hab? Ich denk, Frauen wollen Männer mit Humor. Oder was wollen Frauen?”

“Im Zweifelsfall”, erwiderte ich, “immer das andere.”

Wir waren noch keinen Meter weiter gekommen. Wir standen auf dem Parkplatz hinter der Eissporthalle und hörten Kinks. Die Songs hatten durchweg 15 Jahre auf dem Buckel, aber das machte nichts. Ray Davies sang uns aus dem Herzen. Er sang von Rüden, die am liebsten faul in der Sonne liegen und sich den Sack lecken, er sang von uns. Mochten Gleichaltrige die Zukunft planen und nach Brotberufen greifen, unsere Party ging weiter, auch ohne Einladung. Im NSU, in Pistenbars, am Baggerloch, auf dem Trottoir gegenüber dem Gymnasium, egal wo.“Where have all the good times gone“, lautete der Schlachtruf im Schwenkbereich des ewigen Sommers.

Wir waren bereit zum Kampf. Wichtige Schlachten, wir ahnten es, erledigen sich nur im Überdruss. Oder sie schwelen weiter bis zum jüngsten Tag.

“So jetzt! Ab die Post!”

Der Motor heulte auf, Benzini heizte der Boxengasse entlang bis er die Bismarckstrasse erreichte und nach rechts abzweigte. Warum Benzini plötzlich meinte, losfahren zu müssen, wusste ich nicht. Ich fuhr kein Auto, ich mischte mich niemals ein. Ich korrigierte niemals einen Fahrstil, ich stieg nicht automatisch mit in die Eisen, wenn es brenzlig wurde vor der Kurve, ich war der perfekte Beifahrer. Hauptsache, wir blieben in der Spur. Und solange man mich nicht tötete, war mir alles recht.

Wir erwischten den Bordstein der Verkehrsinsel, als wir in den Kreisverkehr einbogen. Auch wenn der NSU den Bordstein nur tuschierte, der Wagen begann sich sofort zu drehen, wie ein Kreisel, drei Mal, vier Mal, um die eigene Achse. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand, bis wir endlich zum Stehen kamen. In Fahrtrichtung. Wir hatten Massel gehabt. Rote Bremslichter in der Ferne.

“Scheiße, was war das denn?!” rief ich.

Benzini sprach kein Wort. Er war bleich vor Schreck. Die Augen zum Schlitz verformt, trat er das Gaspedal durch. Das Ganze kam mir vor wie in einem Actionfilm, wo eine Nummer, die niemand geplant hatte, perfekt gelaufen war. Benzini und der weiße Prinz in: Masseltoff! Dann hörten wir es. Gleichzeitig. Es flapperte, irgendwo tief unterm Wagen. Ein stetes Gubbeln, der weisse Prinz rutschte leicht zur Seite weg.

“Ein Platten! Na Scheisse! Das hat noch gefehlt!!”

Benzini hielt an, stieg aus. Er trat gegen die Karre.

“Erst zieht die Funz Leine, und jetzt hab ich auch noch einen Platten! Ich kotz gleich um mich!!”

Weiter mit geplatztem Reifen, bis rauf nach Hästen, von wo es bergab ging Richtung Getaway. Benzini schaltete den Motor ab, die Serpentinen runter. Ohne Licht. Im Blindflug. Flapp. Flapp. Wir klebten an der Windschutzscheibe.

“Ich seh nix!”

"Ich auch nicht!"

Flapp.. Flapp... Flapp.... ein Sound wie ein Tonband, das gerissen war, sich aber unaufhörlich weiterdrehte.

“Ich mach mir die scheiß Felge im Arsch, verdammt!”

Natürlich hätte man auch aussteigen können, den Wagen abstellen und per Anhalter weiter, aber im besoffenen Kopf war das keine Option. Es ging plötzlich nur noch darum, nicht von der Schmiere erwischt zu werden, es war ein rein sportlicher Ansatz. Ohne den Motor noch mal angeworfen zu haben, steuerte Benzini den riesigen Parkplatz vorm Getaway an. Stoppte unmittelbar vor einer erleuchteten Telefonzelle, um genug Licht zu haben für den Reifenwechsel.

“Erstmal was trinken, oder nicht?” schlug ich vor.

Das legendäre Getaway in Glüder, idyllisch an der Wupper gelegen, eine ehemalige Scheune, war ein großes muffiges Rockding, das mehr und mehr Publikum aus der ganzen Region anzog. Besonders Motorradfahrer schätzten den Laden als Ziel ihrer Wochenendtouren.

An diesem späten Sonntagabend war bloß Stammpublikum da. Verstocktes bergisches Gesindel, Typen wie der gute alte Jakubeck, der, eigentlich zum Gläsereinsammeln engagiert, stockbesoffen überm Flipper lag.

“Jay, schmieriger Arschlappen”, zwickte ihn Benzini, “du hast hundert Freispiele!”, doch Jay öffnete nicht mal die Augen, mambelte nur “verpiss dich” und schlief weiter.

Wir bestellten Bier und Rapidos an der Bar gegenüber der Tanzfläche. Die Rapidos gaben mir den Rest. Mir fielen dauernd die Augen zu, während Benzini gegen die laute Rockmusik ankrächzte. Es ging immer noch um Jacki. Sie liess ihm keine Ruhe.

“.. find ich sie auf dem Garagendach hinterm Mumm.. Fängt die wieder an mit ihrem Chicoree. Das juckt mich doch nicht, hab ich gesagt. Ich hör lieber Kinks und Stones, kein Jazz. Ja klar, hat sie gelacht, ihr hört doch alle Kinks und Stones.”


Ich verstand nicht, worauf Benzini hinaus wollte. "Na und? Das stimmt doch”, warf ich hundemüde ein.

“Ja schon, aber wie sie das gesagt hat, als wären die Kinks Asis und ihr Chicoree der König der Welt.”

“Chicoree? Was redest du immer von dem bitteren Scheißgemüse?”

“Wie Chicorre?! Chick Corea, du Schwanzlutscher, nicht Chicoree! Chick Corea spielt Mittwoch in Dortmund. Ob ich mitkomme, hat sie gefragt. Nee, hab ich gesagt, in der Westfalenhalle ist die Akustik wie in ner riesigen Badeanstalt, da hab ich kein Nerv zu, ausserdem ist Jazz Pussymusik. Und da war Sense. Nur wegen so nem Scheiss. Wegen Chick Corea haut die ab. Die kann mich mal. War doch nurn Spaß. Was soll ich mit ner Funz ohne Humor. Oder?”

Jay war aufgewacht und stieg vom Flipper. Er hatte Pupillen, groß wie Wagenräder. Er war gar nicht betrunken, er war auf Pilzen und hatte nichts besseres zu tun, als uns den Mund wässrig zu machen. Angeblich gab es gleich hinterm Campingplatz eine kleine Pferdewiese, auf der saftige Psilos wuchsen.

“Kannst du gar nicht verfehlen”, meinte er und erklärte uns den Weg. Kurzentschlossen stieg ich in der Dunkelheit die Wiese runter, während Benzini oben auf dem Parkplatz versuchte, den Reifen zu wechseln. Als ich auf etwas trat, das sich wie ein Haufen störrischer Zweige anfühlte, bückte ich mich. Das waren keine Zweige, das war NATO-Draht.

“SCHEISSE!!”

Komischerweise spürte ich nichts. Ich war zu betrunken, um was zu spüren. Was zum Teufel machte ich hier überhaupt!? Pilze suchen mitten in der Nacht? Welche beschissenen Pilze!? Was sollte ich mit Psilos? Ich wollte ins Bett. Ich sah zum Parkplatz hoch. Benzini winkte, vorm NSU hockend.

“Komm hoch und hilf mir endlich, Schwanzlutscher!”

Woher wusste Benzini, wo ich war? Er konnte mich unmöglich sehen in der Dunkelheit! Benzini hatte seherische Qualitäten! Ein Zauberer! Ein Druide!

“Ich hab dich da unten schreien gehört, als du in irgendwas reingelatscht bist”, sagte er später, als ich auf dem Parkplatz stand. Da er ohne Wagenheber arbeiten musste, hatte er den NSU kurzerhand auf dem rechten Oberschenkel aufgebockt. Die Radkappe lag vor der Telefonzelle.

“Hier, versuch mal, die Pelle aufzuziehen. Ich halt die Kiste solang oben. Brauchst du nur draufzustecken, die Pelle, und die Muttern festziehen.”

“Womit?”

“Na, dem Schraubenschlüssel!”

“Wo..?”

“DA!!”

Kaum hatte ich den Ersatzreifen in der Hand, verlor ich das Gleichgewicht. Ich taumelte rückwärts, geriet ins Stolpern und legte mich der Länge nach hin, in die hell erleuchtete offenstehende Telefonzelle. Noch im Fallen versuchte ich Halt zu finden und riss dabei den Telefonhörer von der Gabel, er gongte gegen die Seitenscheibe.

Ich lag auf dem Rücken wie ein Käfer, zu überrascht, um Scheißdreck zu brüllen. Aufstehen ging auch nicht. Es war, als wäre ich in eine fremde Dekoration gestürzt, die mich mit der Kraft eines Magneten am Boden hielt. Der Telefonhörer baumelte hin und her, ich hörte Benzini stöhnen, “Mannomann..”

Er ließ den Wagen vom Oberschenkel rutschen und holte sich den Ersatzreifen ab. Zehn Minuten später war die Pelle aufgeschraubt. Benzini hatte alles allein hingekriegt. Er fuhr die paar Meter bis zur Telefonzelle, um mich einzusammeln.

“Steig sein! Nun mach schon, Glumm!”

Ich mühte mich auf den Beifahrersitz. Mir tat alles weh. Kaum hatte ich einen halben Fuß drin, gab er Gas. Mit fliegender Tür.

“TÜR ZUU!!”


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