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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Leuchtend blaue Chucks

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Schinkenroman Glumm 2020

 

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Wie jeden Montagmorgen glich die Linie 3 einem Methadon-Express. Der Bus war voller Junkies, die vom Doc kamen. Nicht jeder war gleich als Junkie identifizierbar. Auch mir passierte es immer wieder, dass ich auf dem Weg zum Busbahnhof von Süchtigen, die sich den Morgendruck zusammenbettelten, um ein paar Cent angehauen wurde, weil man mich weder kannte noch als Junkie identifizierte. Da fragte ich mich schon, wieso ich eigentlich all die Jahre zu meinem Dealer gerannt war, wenn man mich jetzt nicht mal mehr erkannte.

Jack stieg am Central aus. Weil er mittags zum Essen eingeladen war, hatte er seine besten Achtzigerjahre-Klamotten aus der Ecke geholt, inklusive gelbem Nike-Stirnband. Selbst das Taschenbuch, das er in Arbeit hatte, ohne abgegriffenen Fantasy-Schmöker ging er nicht aus dem Haus, war frei von Geknitter & Dellen und hatte ein festes Einband.

"He, was is los, Jack", rief jemand, "hast du'n Roten draußen..!?"

Gelächter. Einen Roten draußen haben bedeutete, es war ein Haftbefehl ausgestellt, (in Deutschland auf rotem Papier), man wurde steckbrieflich gesucht, man wollte nicht erkannt werden. Jack kümmerte das nicht. Jack kümmerte nie irgendetwas. Ein einziges Mal hatte ich ihn wirklich aufgewühlt erlebt. Da hatte ich ihn getroffen, als er nach einem halben Jahr Knast in die Stadt zurückgekehrt war und feststellen musste, dass seine Abwesenheit niemandem aufgefallen war. "Was denn, Jack, du warst im Bau..?! Ist nicht wahr", stutzten die Leute. Das hatte ihn wirklich zum Nachdenken gebracht.

Montagmorgens in den Bus steigen und das erste, was ich hörte: Es ist wieder jemand tot, gehörte zusammen. Überdosis, Embolie, Alkohol. Nur selten konnte ich mit den Namen, die durch die Luft geisterten, etwas anfangen. Ich verband mit den Namen kein Gesicht, weil ich nicht auf der Platte verkehrte und viele Leute nur vom Sehen kannte.

"Der hatte immer so leuchtend blaue Chucks an den Füßen", versuchte man mir einen Typ näher zu bringen. "Dem funkelten richtig die Füße." Oder:  "Der wohnte immer noch bei seinen Eltern, die früher die Wirtschaft an der Feuerwehr hatten." Oder: "Die hat ständig gezinktes Pep vertickt, und wenn man sich beschwerte, wurde sie wütend und hat einen mit Glasscherben attackert."

Ausgerechnet den übelsten Todesfall verband ich mit einem Gesicht. Ein ganz unauffälliger stiller Kerl war das gewesen, der typische Zuarbeiter, ein Spannmann, der nur im Schlepptau eines eisenharten Krüppels fungierte, der schwungvoll an Krücken durch die Stadt flog. Die beiden fielen schon deshalb auf, weil sie stets zu zweit unterwegs waren. Und dann wurde der kleine stille Kerl ermordet, auf bestialische Art und Weise, in der Wohnung seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter, um die er sich, wie es hieß, bis zuletzt gekümmert hatte. Er wurde malträtiert, gequält, abgestochen wie ein Schwein, und man stopfte seinen Leichnam auf dem Balkon notdürftig in einen Schrank, wo man ihn erst fand, als er zu stinken begann und die Nachbarn die Polizei riefen.

Der Mörder, ebenfalls aus der Szene, wurde 14 Tage später gefasst. Ich kannte ihn nicht. Der hatte immer so leuchtend blaue Chucks an den Füße, hieß es.

Ach so, sagte ich.

Andere Junkies bekamen Krebs, hatten Schlaganfälle und Lungenembolien, die Bauchspeicheldrüse war kaputt. Alt werden bedeutete für viele Leute meiner Generation, die Folgen einer zu lange, zu heftig betriebenen Berufsjugendlichkeit auszubaden. Über die Gebühr beanspruchte Herzen verweigerten die Gefolgschaft, flogen auseinander, Bauchspeicheldrüsen verkümmerten - der Obus der Linie 3 leerte sich mit jedem Montag um ein weiteres verkorkstes Menschenleben.

Wurden Todesfälle in der Szene noch bis in die Neunzigerjahre mit einem gewissen Grusel und Respekt wahrgenommen, so zuckte man jetzt nicht mal mehr mit den Achseln. Wir waren alte Hasen im Traurigsein, aber jetzt war es zu viel geworden. Es wurde zu viel gestorben. Man kam kaum noch hinterher.

Der Oberleitungsbus ächzte den Wasserturm hinauf. Becks drehte sich zu mir um, wir kamen ins Gespräch. Becks, der Bienenkönig, "ich glaub, ich bin in meinem fünfzigsten Frühling!!", er war nicht kaputt zu kriegen.

"Alter, hatte ich ein Schwein gestern, ich hatte wirklich den Papst in der Tasche."

Er schilderte aufgebracht, wie er tags zuvor einem Kollegen einen Bubble verkauft hatte, und wie der keine dreißig Meter weiter von Zivilbullen klar gemacht wurde, Taschenkontrolle. Während Jack ungeschoren davonkam, die Taschen voller Bubbles, wanderte der Kollege in Haft, für einen einzigen Bubble, weil er noch Bewährung offen hatte.

"So einen fetten Schweine-Papst hatte ich wirklich lang nicht mehr in der Tasche.."

Er schwitzte vor Glück.

Dann stand da noch die Zimmermann im Durchgang, eingeklinkt in Halteschlaufen, eine zeigefreudige wasserstoffblonde Junkietante mit schwarzer Rüschenbluse und einer superengen Zebrahose am Leib, in der sich die Vulva abzeichnete wie ein gutes Stück Seife.

Na schön, sagen wir, ein Stück Seife.

Nach und nach stiegen die Szene-Leute aus, neue Fahrgäste kamen hinzu. Und urplötzlich war ich umzingelt von drei jungen amerikanischen Mormonen, die sich lautstark unterhielten. Sie kamen aus Utah, Texas und West-Virginia und waren Elder Brants, wie ich den Namensschildchen entnahm. Sie sprachen ein Kehlkopf-Amerikanisch, als wären sie von frühester Kindheit an gewöhnt, die Lore tief aus der Kehle zu ziehen.

Wie bei Mormonen üblich waren sie eins a ausrasiert, trugen blütenweiße Hemden, dunkle Anzüge mit Bügelfalte und gutes Schuhwerk. Gegenstand ihrer Unterhaltung war das neue Album der Killers, einer Rock-Band aus Texas, während am Fensterplatz gegenüber ein bärtiger junger Araber Platz nahm, der mir bereits in der Vorwoche aufgefallen war. Er saß am Fenster, voll und ganz in den Koran versunken. Er murmelte Suren vor sich hin, teils mit geschlossenen Augen, vor und zurück wippend, tief ins Gebet versunken, während keine zwei Sitze entfernt junge amerikanische Mormonen, die für zwei Jahre in Deutschland stationiert waren um zu missionieren, über das neue Killers-Album referierten.

Ich fuhr durch bis Zwillingswerk und stieg am alten Bahnhof aus. Busfahren war gut und schön, die Idee, ein paar Minuten lang den Weg gemeinsam zurückzulegen hatte schon was, aber Zufußgehen lag mir näher. Das war mein Element. Das war besser. Da war jeder König in seiner Welt.

"Ich möchte echt gern mal König der ganzen Welt sein..!"

Dann geh zu Fuß, Mensch.

Als ich den Süd-Park durchquerte, humpelte zwanzig Meter vor mir jemand her, mit einem jungen schwarzen Hund an der Leine, der mir bekannt vorkam. Das könnte der Harry sein, dachte ich, so von der Statur her, bloß - seit wann humpelte der? Ich schloss zu ihm auf. Na logisch war das der Harry.

“Harry, alter Humpelbaron, was ist los mit dir? Was hast du gemacht?”

Erschrocken drehte er sich um, wobei er sich mit dem kaputten Bein in der Hundeleine verhedderte und beinah ins Straucheln geriet, und der Hund, ein junger Rüde, sprang an mir hoch.

“Ach du bist das..! He, Schampus! Ist gut! Runter da!” Erleichtert reichte Harry mir die Hand. “Scheiße, das hätte noch gefehlt, dass ich mich aufs Maul lege. Schampus, nicht anspringen den Mann!”

“Macht nichts. Der riecht nur meine Frau Moll.”

“Frau Moll..? Hast du ne neue Olle?”

“Quatsch. Das ist mein Hund.”

"Und wo ist der, dein Hund?"

"Der ist zu Hause."

“Ach so, ja, richtig. Frau Moll..” Harry fasste seinen Labrador enger. “Ich dachte schon, welches Arsch schleicht sich da ran? Ich hatte den Schlagring schon parat..” Er holte das Teil aus der Jackentasche und zeigte es mir. “Die aggressiven Skater hier im Süd-Park, da weißt du nie. Die brettern einem von hinten in die Hacken und zischen ab, und du liegst da und verblutest.”

"Hm..? Du hörst dich an wie ein ängstlicher alter Opa, Harry. Hier ist doch überhaupt niemand, der dir in die Hacken fährt.."

Der Park war fast menschenleer in der Mittagszeit, bis auf ein paar vereinzelte Fußgänger und Radfahrer. Nur in der Luft herrschte Betrieb. Kreuz und quer liefen die Kondensstreifen am Himmel entlang, wie riesige Wäscheleinen ohne Wäsche, gezogen von silbrigen Eisenvögeln Richtung Lohausen.

"Das ändert sich schnell", verteidigte sich Harry, "die Skater schießen wie aus dem Nichts von hinten an dich heran.. die sind total link!"

Harrys linkes Bein knickte regelrecht ein beim Gehen. Es sah nicht gut aus. Da stimmte was nicht.

“Wie heißt der Hund nochmal?" fragte ich.

"Schampus. Ich wollt mir eigentlich einen belgischen Schäferhund zulegen, einen Malinois, aber dann stand Schampus vor der Tür und hat Pfötchen gegeben, und das war’s.”

“Klingt wie ein erfolgreiches Vorstellungsgespräch”, sagte ich. “Allerdings könnte der Kollege allmählich mal die Nase aus meinem Sack nehmen.”

“Er weiß eben, was gut ist”, lachte Harry.

Er gehörte zu den Leuten, die ich schon lange kannte, ohne mit ihnen je wirklich befreundet gewesen zu sein. Die Stadt war voll solcher Leute, die diesen Status hatten. Man kannte sich - und man kannte sich doch nicht. Solingen war der perfekte Ort für unbestimmte Beziehungen, Solingen war der perfekte Ort zum Untertauchen. Schon im finsteren Mittelalter versteckten sich gern Diebe und Mörder in der Stadt, das Gesindel aus Köln, das fliehen musste, weil es von der Obrigkeit gesucht wurde. Man floh ins ebenso nahgelegene wie weitläufige und dünn besiedelte Bergische Land, wo man gern für sich blieb und auf Abstand bedacht war.

“Wieso humpelst du eigentlich? Was hast du mit dem Bein angestellt?”

“Na, Arbeitsunfall..! Ich hatte doch einen Arbeitsunfall..”

Harry war empört, dass ich nichts von seinem schweren Unfall gehört hatte, aber die Mund zu Mund-Propaganda funktionierte nicht mehr wie in früheren Zeiten, als wir es gewohnt waren, gemeinsam am Tresen zu stehen und uns flapsig die Gags und Gin-Tonics zuzuwerfen. Wo man so manches erfuhr, am Tresen, dem Newsroom der Achtzigerjahre.

“Ich krieg seit Winter Verletztengeld, so lang ist das schon her mit dem Unfall. Mittlerweile bin ich wieder gut zu Fuß, ich mein, na ja, wir werden alle alt, wa?"

Ich stimmte ihm zu.

"Wenn man alt wird und sich langsam Richtung Grab bewegt, das ist das gleiche wie in der Pubertät, wenn man wächst, das zieht genauso in den Knochen."

"Tja, Altwerden ist nur was für Könner."

"Da sagst du was. Was ist denn nun passiert mit dem Bein?"

“Was passiert ist..? Im Betrieb hat sich eine Stahlwalze selbständig gemacht und ist mir hinten reingerutscht, hat mir fast das Bein zerquetscht, das ist passiert. Mein erster Gedanke war, Scheiße, jetzt kannst du nicht mehr mit dem Hund raus..”

In einer Not-Operation wurde das linke Bein mit Stahlplatten und Schrauben verstärkt.

“Eine ganz enge Geschichte war das. Ich war im Städtischen, darüber kannst du einen Roman schreiben. Die Gips-Ärztin hat nur Mist gebaut. Der erste Gips war viel zu weit, da konnte man verstecken drin spielen, soviel Spiel hatte das Ding. Dann musste der Chefarzt erst gesucht werden, bevor es weiterging. Als er da war, war der Gips ruckzuck runter und ein neuer dran, schön eng wie ne Möse, nur nicht so nass - perfekt."

Die nahe Luther-Kirche schlug ein Uhr. Der Mond, ein bleicher Mittagspropeller. Ich blieb stehen, um Harry Gelegenheit zum Durchatmen zu geben, doch er hatte keine Ruhe zum Stehenbleiben und hinkte nervös weiter. Selbst seine Stimme hatte gelitten. Sie fiel immer wieder in kleine Funklöcher und versagte kurz, für ein, zwei Silben vielleicht. Es war, als arbeiteten seine Stimmbänder mit alten Lochkarten.

Wenn man die Leute lange nicht sieht, fällt einem erst auf, was alles nicht stimmt. Vielleicht würden einem ja auch Dinge auffallen, die stimmen, aber bei den meisten Menschen bringt das Alter die Dinge nun mal zum Einstürzen.

“Harry, wenn du so schlecht zu Fuß bist, warum geht dein Bruder nicht ne Weile mit dem Hund vor die Tür? Ich mein, der könnte den Schampus doch ne Zeitlang nehmen, der hat doch sowieso nix zu tun.”

“Benny..?! Das glaubst du doch selbst nicht. Vor ein paar Wochen war er in Antwerpen verschollen, jetzt ist sein Bein auch kaputt. Der kann überhaupt nicht mehr laufen, der kommt nicht einen Meter voran.”

“Wie - aus Solidarität mit dir? Hat der ein Gewerkschaftsbein?”

“Nee, Benny hat den Fuß im Arsch. Hat sich ein Abzess entzündet, in Antwerpen, jetzt kann die Knalltüte keinen Schritt mehr geradeaus machen. Benny liegt zuhause bei Muttern und lässt sich pflegen, der Arsch. Aber den Exel-Kurs fürs Arbeitsamt, den kann er machen, den kriegt er online hin, da kann der Herr Bruder nächtelang von S-Verweisen und Tabellen träumen.. na, spätestens nächste Woche haut er in den Sack, wie immer. Du kennst den Benny ja,”

Ja klar kannte ich den Benny. Ich kannte auch den Harry und den Jack und die Zimmermann, ich kannte Becks, den Bienenkönig, Tonino und die Unke, Fleschkönigs und Babsi, ich kannte den Saarländer und das Ohrfeigengesicht und andere namenlose Gesichter, ich kannte einen stattlichen Haufen Taugenichtse, deren schiere Existenz zu beweisen schien, dass der Herrgott ein großer Spötter sein musste, der jeden Morgen aufs Neue erwartungsfroh auf der Himmelstribüne Platz nahm, den Fernstecher rausholte und sich beömmelte bei all den Dingen, für die er Tag um Tag verantwortlich zeichnete.

Verlierer sind die ergiebigeren Wesen. Nicht etwa, weil sie mehr Tiefe besäßen und daher mehr zu erzählen hätten als die Leute von der Sonnenseite, das nicht, nein, es ist nur so, dass Glück flüchtig ist.

Und Unglück prägt.

Harry zeigte mir, wo genau in seinen Unterschenkeln die Stahlplatten und Schrauben steckten. Die Haut war so dünn, dass sich das Metall darunter gut erkennen ließ, es schimmerte bläulich wie Tintenkleckse.

“Seit der OP bin ich ein einziges Ersatzteillager. Also, falls du mal was vom Großhändler brauchst, ruf an. Vielleicht kann ich was für dich tun. Demnächst muß ich probeweise wieder arbeiten, für zwei Stunden am Tag.”

“Hm, zwei Stunden am Tag..? Was soll der Blödsinn denn?”

“Vorschrift der Berufsgenossenschaft. Die wollen sehen, ob die Genesung Fortschritte macht. Dabei hab ich seit ner Woche die ganze Fresse am zittern, wenn ich nachts wach werde. Keine Ahnung, was los ist mit mir. Aber sollen die Brüder mich doch kaputtschreiben. Das wär am besten. Dann hab ich es hinter mir.”

“Kaputtschreiben?! Das gibts noch?”

Es war mal gang und gäbe, dass die Leute einen Vertrauensarzt aufsuchten und ihm von der Bauchspeicheldrüse erzählten, die angeblich so defekt war, dass sie sich schon hinter anderen Organen verstecken musste und knisternd-knackige Geräusche von sich gab, wie ein Geigerzähler, Herr Doktor! Und ne halbe Stunde später ging man kaputtgeschrieben in Rente oder in Vorruhestand, mit Mitte Dreißig. Aber das funktionierte kaum noch. Das musste man schon selbst in die Hand nehmen, das Kaputtschreiben.

So richtig mit dem Stift in der Hand und der kranken Story im Kopf, und ab die Post.

Harry zuckte die Schultern. Dachte ich zuerst. Dann sah ich, nein, es waren seine Muskeln, die hatten einen Tic. Er konnte gar nicht anders. Kaum trat die Schulter in ein Wellental, war sie auch schon wieder draußen. Eine ganz und gar nervöse Geschichte.

"Die sollen mich kaputtschreiben, Mann. Fertig, aus, Popshop."

 


Für Harry G.


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