Dreimal schon hatte ich den Termin platzen lassen.
Einmal wegen Erkältung, was nicht gelogen war, das andere Mal ebenfalls wegen Erkältung, das war gelogen. Das dritte Mal rief ich auf den letzten Drücker in der Praxis an und teilte mit, ich hätte verschlafen, auch das war nicht gelogen. Bis auf dass es mir leid täte – das war gelogen.
Als die Arzthelferin daraufhin prustete, na, da hätte ich aber Dusel, fünf Minuten zuvor sei ein Termin gecancelt worden, ich könne mir also ruhig Zeit lassen und später reinkommen, da stammelte ich nur was von ”.. später hab ich was vor”, das war gelogen, und so wurde der Termin der Hinrichtung exakt um eine Woche verschoben – auf den folgenden Dienstag, acht Uhr.
“Wenn sie dann wieder nicht erscheinen, kann ich Ihnen keinen Termin mehr anbieten, Herr Glumm. Dann müssen Sie auf gut Glück reinkommen und eventuell lange Wartezeiten in Kauf nehmen.”
Am Abend vor der Hinrichtung lag ich platt vorm Fernseher und schaute Schrecklich nette Familie. Der Kabelsender wiederholte die Folgen ohne Ende. Eigentlich kam es nur darauf an, ob man sich noch ein siebtes Mal amüsieren konnte über Dumpfbacke Kelly, wenn sie “Dieses Stück Fleisch ist nicht geschaffen für geregelte Arbeit!” röhrte, auf dem Absatz kehrt machte und mit aller Wucht gegen die Wand rummste.
Ich lachte aus vollem Hals.
Ich liebte die Al Bundy-Randale der frühen Neunziger. Einmal, während einer Nachtschicht im Turm-Hotel, hatte ich an der Telefonanlage gesessen und aus Langeweile die Vorwahl der USA plus die von Chicago plus eine Reihe zufälliger Ziffern gewählt, bis eine transatlantische Verbindung zustande kam. Das Freizeichen klang so dumpf und so fern, wie ich es aus alten Hollywoodstreifen und Columbo-Folgen kannte: als läge ein besticktes Sofakissen auf dem Klingelton.
Endlich wurde das Gespräch angenommen, im windigen fernen Illinois.
“Yeah?” erkundigte sich eine müde männliche Stimme.
In Chicago war Abendbrotzeit, TV-Dinner. Ich hatte eine x-beliebige Nummer gewählt in der alten Gangsterhochburg. Ich räusperte mich.
“Can I talk to..”
Moment. Ich begann noch mal.
“May I speak with Al Bundy?”
Ich spürte, wie der Mann kurz stutzte, und dann die Augen verdrehte. Er fügte ein mattes “ha-ha” hinzu und legte auf. Sehr routiniert. Als würde er täglich solche Scherzanrufe entgegen nehmen. Es war das einzige Mal, dass ich nach Amerika telefonierte, und es war sehr kurz.
Dienstagmorgen, halb acht.
Vom Bahnhof Ohligs aus schlenderte ich mit einer Lässigkeit in Richtung Lukas-Klinik, die mich selbst verblüffte - jetzt, wo es soweit war. Nicht mal Zahnschmerzen hatte ich noch. Das sollte mal einer begreifen. Das Leben, ein endloser Fopper, ein Stinkefinger nach dem Händewaschen.
Im Wartezimmer des Hinrichters überflog ich die übliche Einverständniserklärung. Demnach durfte man mit mir machen, was man wollte, ergänzt um eine handschriftlich fixierte Eintragung:
EXTRAKTION Z. 14
EVTL. KOMPLIKATIONEN:
- NACHBLUTUNG
- KIEFERHÖHLEN-ÖFFNUNG
Na, Moment. Komplikationen..? Davon wussten die vorher schon?! Was ging hier vor? Ich sollte vielleicht lieber nach Hause fahren und ordentlich ausschlafen, dachte ich. Aber wie so oft, wenn ich die Flucht ins Auge fasste, war die Eisenbahn längst abgefahren. Das Schicksal duldet keine Verzögerung. Das Schicksal sieht es nicht gern, wenn man endlos überlegt, wenn man hadert und hängt.
“Herr Glumm?”
“Ja..?”
“Kommen Sie bitte mit.”
Z. 14 war das Monster eines ruinierten Backenzahns, dessen Wurzel tief ins Fleisch reichte, wie ein Widerhaken. Er war sozusagen die Art Monster von Widerhaken, die so tief im Zahnfleisch haust, dass man sie im normalen Leben nicht zu Gesicht bekommt – der Schwarze Raucher des Zahngewerbes sozusagen. Aber was heißt das schon, normales Leben. Ein Zahnarztbesuch hat mit normalen Leben so viel zu tun wie der Weihbischof mit schmutzigen Damenbinden.
Behandlungsstuhl, Saal 2.
“Ruhig bleiben, Johannes..”, redete die Stuhlassistentin ihrem Chef gut zu, doch der Doc wurde zunehmend nervöser. Was wiederum mich nervös machte. Wieso duzten die beiden sich? Hatten die was miteinander? Waren das Schwesterchen und Brüderchen? Und was wusste die Krankenkasse davon? Ich blickte nicht mehr durch. Mit tat überhaupt kein Zahn weh. Was hatte ich hier überhaupt zu suchen?
“Herr äh..”, setzte der Dentist die Zange an, “.. Glumm, ich versuche zunächst den Zahn ganz konventionell zu ziehen.”
Er unternahm insgesamt ein halbes Dutzend konventioneller Versuche, doch Z.14 knackte nur und brach stückweise ab wie harter Schiffszwieback, aber die Wurzel kriegte er nicht zu fassen. Sie widersetzte sich ihm, was mir gar nicht recht war. Ich hätte es besser gefunden, wenn die beiden schnell miteinander warm geworden wären, und sich ebenso schnell wieder voneinander getrennt hätten.
“Johannes..”, wisperte die Arzthelferin in mein Ohr, obwohl sie ihren Chef meinte, “du musst die Nerven behalten..”, doch Johannes verlor die Contenance. Er ackerte und schnoberte wie ein belgisches Brauereipferd, während ich unter ihm lag, in seiner Mache war. Er bot keinen schönen Anblick. Da waren auch keine schönen Geräusche, es schlürfte und strudelte in meinem Mund, als wäre ich böse am absaufen.
Ich sah zur Zahnarzthelferin rüber. Der Stuhlassistenz. Der Geliebten. Ihr gestärkter weißer Kittel wies Blutspritzer auf, richtig dicke Flatschen. Mir wurde schlecht.
"Blöde Kuh", dachte ich.
“Einmal absaugen, bitte!” ging der Doktor die Schwester rüde an, sie folgte gehorsam.
“Johannes, du machst das schon.”
Was blieb uns anderes übrig. Wenn konventionell nicht funktionierte, musste das Völkerrecht weichen. Mit einem herzhaften Schnitt öffnete der Arzt die Kieferhöhle. Jetzt waren wir angekommen. Bei der Komplikation. Der Extraktion. Das Blut schoss gebündelt aus meinem Mund und traf Teile des Sterilisators.
Für den Rest der Woche schrieb der Doktor mich krank.
Ich lag flach im Bett, tiefgekühlte Kompressen auf der Backe. Jegliche Nahrungsaufnahme war ein Greuel, der Schädel brummte wie ein Bienenstock. Die Gräfin kochte mir Reisbrei mit Zimt, während es für sie und den Hund knusprige Hähnchenschenkel mit Paprikaschoten gab. Die Dinge liefen zunehmend aus dem Ruder. Das schlimmste aber: der Schmerz ließ kaum nach.
“Die Scheiße eitert”, sagte ich Samstagmorgen zu meinem Bruder, der rübergekommen war, um nach mir zu sehen, im Auftrag der Familie.
Er brachte mich umgehend in die Lukas-Klinik. Der junge diensthabende Oberarzt reichte mir zur Begrüßung sein luschiges Händchen. Ohne mir groß in den Mund zu gucken, drückte er mir fürs Wochenende einige lose Schmerztabletten in die Hand, und auch die nur widerwillig.
“Damit müssen Sie zurechtkommen, mehr gibt es nicht”, sagte er großspurig.
Ja, was war das denn?! Was glaubte der denn?! Dass ich ein Junkie war und Samstagmorgens im Notdienst der Klinik auftauchte, um ein paar beschissene Dolomo abzugreifen?!!
Nun ja. Also..
In der Apotheke besorgte ich mir zusätzlich eine Monatspackung Ibuprofen und am Bahnhof, “warte mal fünf Minuten, Bruderherz", ein wenig Morphin für fünfzig Mark.
Sonntagnacht ging die Schwellung endlich zurück, doch der Schmerz blieb. Alle zwei Stunden warf ich Pillen ein, doch obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nie so viel Pillen eingeschmissen hatte ohne breit zu werden, es brachte nichts.
Mittwoch hielt ich es nicht mehr aus. Ich besuchte auf gut Glück meine alte reguläre Zahnärztin, Frau Doktor Hager. Frau Doktor Hager, eine resolute Person, war eigentlich nicht mehr gut auf mich zu sprechen, seit ich ihre Behandlungstermine nur unregelmäßig wahrgenommen hatte. Das konnte sie nicht leiden, das konnte sie ganz und gar nicht leiden. Ich vertraute ihr dennoch. Sie verstand ihr Handwerk. Ich mochte Leute, die wussten, was sie zu tun haben, wenn man vor ihnen saß und das Maul aufmachte.
Originalton Frau Doktor, als sie sich die Bescherung anschaute: “Oh, das sieht Scheiße aus, Meister. Massive Störung der Wundheilung.”
Sie legte eine Drainage mit anästhesierender Wirkung, und wo sie schon mal dabei war, zog sie gleich die Fäden, mit denen in der Klinik die Kieferhöhle vernäht worden war. Keine Stunde später war ich das erste Mal nach einer Woche schmerzfrei.
Abends fuhren die Gräfin und ich mit Karlos und Sandy nach Köln. Jonathan Richman gab ein Kozert. Obwohl nirgends plakatiert oder sonstwie angekündigt, war das Konzert im Tingel-Tangel, einem dunkelroten Plüsch-Klub in der Südstadt, innerhalb weniger Stunden ausverkauft.
Ich hatte alle Platten von Jonathan Richman, sobald etwas Neues auf dem Markt war, besorgte ich es mir. Er hatte mit den Modern Lovers in den Siebzigern den Instrumental-Hit Egyptian Reggae gelandet, der ihm bis in alle Ewigkeit Tantiemen verschaffte, seither war er solo unterwegs.
Live auf der Bühne, nur mit einer großen Schiffer-Gitarre bekleidet, erinnerte er an einen Schiffsarzt, der auf einer langen Kreuzfahrt die Zigarren rausholte und aus seinem Leben erzählte, und alle zuhörenden Patienten gesundeten auf der Stelle.
Es wude ein bombiger Abend. Wie die Rock’n-Roll-Hooligans standen wir vier direkt an der Bühne, mit Kölsch bewaffnet, und sangen die Hits mit: “I was dancing in a lesbian bar”, “Make a mistake for me today”, “Now is better than before”, auch wenn ein Großteil des Publikums auf einem anderen Konzert zu sein schien. Einem Konzert, bei dem Mitsingen verboten und Tanzen untersagt war.
Überhaupt jegliche Bewegung.
“Das sind Scientologen”, schätzte Karlos, “so eingefleischt und sittsam, wie die vor ihrem Wässerchen hocken.”
Scheiß drauf, es war ein großartiges Konzert, und auch die ersten paar Bier und Purpfeifen nach über einer Woche taten gut. Später hockten wir in der Südstadt auf dem Bürgersteig und teilten uns zwei monströse Grill-Hähnchen, von denen das Fett nur so auf den Asphalt tropfte. Das Leben kam wieder in Schwung, mit einem ruinierten Backenzahn weniger.
"Geht doch", mümmelte ich.