Ich hatte den Reggae schon im Hausflur gehört, doch als ich die Wohnungstür öffnete, staunte ich nicht schlecht. Die Gräfin tanzte in der Küche, sie tanzte Reggae in der Küche, barfuß. Nun ist die Küche groß, es ist eine Wohnküche. Ne Menge Platz. Ein schöner Tanz. Bloß der Reggae klang etwas dünn, wie aus einer Blechkiste.
„DAS IST DAS LAUTESTE, WAS GEHT!“ rief sie, ein bisschen aus der Puste.
Auf dem Küchentisch stand ein kleiner Mono-Schallplattenspieler aus Holz, den ich nie zuvor gesehen hatte. Der Kasten spielte Bob Marley, Rastaman Vibration, in einer Live-Version. Nun ist Leben ja stets Version, stets das nächste Geschrei und immer live – also fiel ich zuckend in die Schrittfolge ein, einen vor, zwei zurück. Der Reggae-Step. Etwas ungeschlacht vielleicht, so gleich nach dem Nachhausekommen, aber locker, Freundchen. Man hat ja nicht umsonst in seinem Leben hundertzehntausend Joints geraucht.
"I AND I VIBRATION.."
"..LIVE IF YOU WANNA LIVE…"
"..EIERMANN VIBRATION..", improvisierten wir im Chor, "POSITIVE!"
Frau Moll sprang zornig kläffend um uns herum, das Ganze war ihr nicht geheuer. Sie betrachtete Rockmusik als Eindringling. Rockmusik, das war in ihren Augen ein großer betrunkener Kerl in spitzen Schuhen und einer grünen Beatjacke mit silbrigen Knöpfen, und das gehörte verbellt. Und zwar strengstens! Zack zack – raus hier, Fremder! Mach, dass du Land gewinnst! Go up the Country, Mister!
"DIE BÄSSE MUSS MAN SICH NATÜRLICH DAZU DENKEN!" rief die Gräfin, und wagte einen fetten Move. Jah Man. Sie hatte wieder einmal zugeschlagen. Ein Nostalgie-Plattenspieler aus dem Discounter, für € 40,00. Ich sah mir das Gerät aus der Nähe an. Nirgends ein Herstellername, und da war bloß ein einziger Knopf, um die Lautstärke für die integrierten Boxen zu regeln. Das war’s. Keine Höhen, keine Tiefen, nichts. Besonders die fehlenden Bässe ließen den Bauch des Hörers ratlos zurück, leer und voller Löcher. Es klang, als hätte man noch nie im Leben etwas Warmes gegessen.
"VIELLEICHT WENN WIR ETWAS WATTE EINBAUEN..?! WAS MEINST DU?" Die Gräfin hatte immer eine Idee, wie man die Dinge NOCH besser hinkriegte. Sagen wir, sie hatte einen Vorschlag. „DANN KLINGT DAS NICHT SO SCHMAL.“ Ihre Ideen waren schon besser gewesen. Besser zu verwirklichen zum Beispiel. Sie verschwand in ihr Zimmer und kehrte triumphierend mit dem Abbey Road-Album der Beatles zurück. "ABBEY ROAD WOLLTEN WIR DOCH SCHON LANGE NOCH MAL HÖREN!"
"In Ordnung. Du brauchst nicht zu schreien. Ich höre dich."
Die gelben Schaumgummistöpsel in ihren Ohren fielen mir erst auf, als Abbey Road auf dem Plattenteller lag und die Diamantnadel für exzellente Wiedergabe in die verstaubte Rille niedersank.
„Diamantnadel..? Sieht eher aus wie ein chinesischer Eierpicker“, murmelte ich.
„ACH, NUN SEI DOCH NICHT IMMER SO..! FREU DICH DOCH EINFACH, DASS WIR DIE BEATLES HÖREN!“
Na gut, da hatte sie Recht. Seit in meinem regulären High End Verstärker sämtliche Elektronik ausgefallen war, konnten wir keine Musik mehr hören, die von Schallplatte kam. Und nun lief Abbey Road, mein Lieblingsalbum der Beatles, das war natürlich ein Grund zur Freude. Frau Moll spürte den Spaß, den wir in der Wohnküche hatten und rockte wie Hund bei Golden Slumbers, einer Nummer, wo es nichts zu rocken gibt, eigentlich. Golden Slumbers ist eine Ballade, die einem schwer das Herz vermöbelt. Little darling, do not cry, I will sing a lullaby.
"SCHEISSE, HAB ICH DAMALS GEHEULT", Sie erinnerte sich an ihren ersten echten Liebeskummer, und wurde traurig. Traurig, dass alles schon so lange her war. (Und mit der Zeit alles noch viel länger her sein würde.)Once there was a way.. to get back home.. sweet little darling.. do not cry..
"Eigentlich war das gar nicht mein erster Liebeskummer", schränkte sie ein. "Den hatte ich schon hinter mir, wegen Nico, da war ich sechzehn oder siebzehn. Da hab ich geheult wie ein Schlosshund, aber nicht zu den Beatles, sondern zu den Doors, bei Roadhouse Blues. Dabei war Roadhouse Blues gar kein Blues, das war ein schmissiger Rock-Song.."
".. das war Generalmobilmachung!" präzisierte ich.
Sie nahm die Ohrstöpsel heraus und stieg weiter hinab in ihre Erinnerung. Erinnerung ist schönes weites Land. Wer es bereist, kann überall aussteigen. Es ist ständig und überall etwas los, es geht drunter und drüber. Zur Not auch im eigenen Kellerschacht.
"Bei Abbey Road hab ich wegen dem Hagemann geheult, da war ich schon neunzehn. Ich hing besoffen bei uns unten im Öl-Keller, in so ner winzigen Ecke, wo gerade mal der Öltank reinpasste, deswegen hat mich damals auch keiner gefunden. Die haben mich gesucht wie die Irren, weil die dachten, die tut sich was an. Dabei hing ich nur im Öl-Keller und flennte und hörte Abbey Road auf dem Kassettenrecorder. Am nächsten Morgen bin ich hoch und hab Abbey Road weitergehört, auf Platte. Zwei Tage lang nur Abbey Road und hunderte Hügel Taschentücher, und das alles nur wegen dem blöden Hagemann.."
Die Gräfin blickte auf den Holzplattenspieler.
"Mistding. Wie lange hat man Rückgaberecht?"
Ich traute ihrem plötzlichen Sinneswandel nicht. Unter dem Einfluss populärer Oldies in die Vergangenheit reisen und dabei auf Reste von Liebeskummer stoßen, das ist wie Koksen, wo auf ein Super-Highlight, „ich bin die Beatles!", schnell der Katzenjammer folgt, „ich bin ein Riesenarschloch!"
"DIESER SCHEISSAPPARILLO HIER FLIEGT GLEICH IN DEN GARTEN, ICH SAG ES DIR!!"
Doch mal abgesehen von irgendwelchen längst verblichenen hageren Liebhabern und Liebekummer hinterm Öltank: Abbey Road ist gut. Ist wie ein Spielfilm. Selbst dieser miese Holzapparillo schaffte es nicht, die beste Platte der Beatles zu verhunzen.
Abbey Road kam direkt aus der Großhirnrinde der Beatles, Abbey Road war die subversive Version der Beatles, es war ihr letzter Aufschrei. Und als die Gräfin 1980 zu Golden Slumbers im Ö-Keller heulte, hatte das Album schon satte elf Jahre auf dem Buckel, war schon ein echter Oldie. Und auf Golden Slumbers folgte Oh! Darling. Das war mein Favorit, als ich jung war. Wenn Oh! Darling bei uns zu Hause im Kinderzimmer lief, war mir selbst dann zum Heulen zumute, wenn es überhaupt keinen Grund zum Heulen gab. Mir war zum Heulen zumute, weil Oh! Darling zum Heulen gemacht worden war, von Paul McCartney.
"OH DARLING! HÖREN WIR NOCH ZU ENDE, DANN BRINGEN WIR DEN SCHEISSKASTEN WIEDER ZURÜCK IN DEN LADEN!" schrie ich, nah an den Tränen.
"Warum schreist du so? Ist doch leise gestellt!"
Während sich das letzte Studio-Album der Beatles zu Ende drehte, kochten wir gemütlich Abendessen. Auch Frau Moll bekam ihre Ration gereicht. Nun frisst sie ihr Futter ja nicht so einfach wie andere Hündinnen das tun, Schlingen kann man das nicht nennen, nein, sie brüllt sich das Futter in den Hals wie einen Blues. Auch an diesem Abend. Und was die Gräfin und mich betraf, so labten wir uns an ihrem köstlichen Linseneintopf. Wenn sie Linseneintopf zubereitet, bittet sie sämtliche Zutaten zu einer großen Sache zusammen, wie Musiker zu einer Aufnahme-Session.
"Was meinst du, ob die Penner da oben im Discounter den Plattenspieler auch mit frischen Knoblauch- und Zwiebelfingern betatscht zurücknehmen?“