
Im Jahre 2009 begann es zu rumoren im Haus, immer um die gleiche Zeit. Es fing kurz nach Mitternacht an und endete kaum vor halb fünf, fünf in der Früh. Es war kein durchgängiges Geräusch, es war eine Art wiederkehrendes dumpfes Geraschel. Es kam aus der Wohnung über uns, wo Gus lebte, der Altpunk, mit seinem 15jährigen Sohn, der gerade schwerpunktmäßig die Kifferei entdeckte, mit wechselnden besten Kumpeln. Aber nein, das Geräusch hatte mit Kiffen nichts am Hut. Es war kein Kiffergeräusch. Es fiel kein Bong zu Boden und es folgte kein stundenlanges Ablachen. Es war anders. Es war nervend. Es störte.
Für sich genommen war das Geräusch nicht mal besonders laut. Wenn man aber nachts im Bett liegt und kann nicht einschlafen, weil ein blödes Geräusch nicht weggeht, dann hört man irgendwann erst recht hin und es wird immer lauter und bedrohlicher und man findet erst recht keinen Schlaf mehr.
Das Geraschel und Rumore kam in zeitlich abgesteckten Intervallen von jeweils wenigen Sekunden. Aber auch schon mal eine halbe Minute am Stück, Es klang wie ein kleinwüchsiger Bodenturner, der eine Rolle vorwärts einübte, Pause machte und zur Rolle rückwärts überging, aber rückwärts auf Stützrädern. Und wenn es kurzfristig heftig wurde, und es wurde kurzfristig heftig, jede Nacht, begann ich zu halluzinieren und sah einen brodelnden Kochtopf mit Menschenopfern vor mir, nein, über mir, im Zimmer über mir sah ich es vor mir: eine Voodoozeremonie, nur von dünnem Mauerwerk getrennt.
Zwischendurch Stille. Mal zehn, mal zwanzig Minuten, auch mal eine Stunde Stille, die einen fast schon in den Schlaf überstellte, bevor die Hölle weiterging.
Ich kam nicht drauf, was die Geräusche verursachte. Ich wusste nur eines: Irgendetwas Unheimliches ging da oben vor sich. Ich hörte die Jungs abends durchs Treppenhaus steigen, abgefüllt mit Marihuana, ja, die liebe Nachbarschaft. Man weiß nie so genau, was die plant. Was sie tut. Na klar, man gibt vor, täglich die Realschule aufzusuchen, man erklärt ohne rot zu werden, ein monatliches Gehalt zu beziehen, in Wahrheit arbeiten die Nachbarn grundsätzlich undercover beim Amt für Punk & Altpunk und lassen es krachen jede Nacht.
Es handelte sich um einen Angriff auf meine Person, nahe an der Folter. Es war mein privates Ohr-Guantanamo. Als ich dem Bruder vom dicken Hansen davon erzählte, der lange Zeit auf Kuba gelebt hatte, lachte er sich scheckig.
„Das nennst du Lärm..? Das ist doch kein Lärm. In Havanna, da ist Lärm, da läuft immer irgendwo Salsa, da trommelt immer irgendwo einer am offenen Fenster und es wird gestritten und geschrien und Liebe gemacht und ein Chevy mit kaputtem Auspuff kommt angeknattert..“
Das hatte ich jetzt davon. Ich wurde nicht mal mehr ernst genommen von meinem achtbesten ex-Freund. Ich hatte endgültig genug von dem Lärm. Es reichte.
„Vielleicht drucken die da oben Falschgeld“, sagte ich zur Gräfin, „dann sollen die Brüder wenigstens ein Bündel runterreichen, die Schweinehunde, Schweigegeld, Rollgeld, Gelübdegeld.“
"Melüvdegeld?" fragte die Gräfin.
"GELÜBDEGELD!"
Was mir schleierhaft war: Wieso der komische Sound nur in der Nacht zu hören war, niemals tagsüber.
"Das ist doch nicht normal!"
"Zeig mir mal etwas, das normal wäre in dieser Bude", meinte die Gräfin.
An gewisse Dinge ging sie mit einer stoischen Ruhe heran, die mich aufregte. Ich meine, wenn mich das Scheißgeräusch nervte, hatte sie das gefälligst auch zu nerven, wenn man schon zusammenwohnte! Und da spielte es auch keine Rolle, dass in ihrem Zimmer gar nichts zu hören war von dem nächtlichen Rumore und Gekoller. Ich war voll der Gelackmeierte in dieser Geschichte. Tagsüber war die Stube über mir das reinste Schweigegelübde, das leiseste Flüsterzimmer der Welt, und in der Nacht..
Na schön. Es führte kein Weg daran vorbei. Ich würde Gus zur Rede stellen müssen. Wieder einmal.
„He!“ rief die Gräfin mir nach, als ich die Treppe hochstiefelte. „Bleib ruhig. Lass dich nicht provozieren.“
Was..? Moment. Ich kam noch mal kurz zurück. Sie hatte recht. So einfach war die Sache nicht. Es gab Dinge zu beachten. Gus und ich, wir hatten uns schon mal gegenseitig am Schlaffittchen gepackt, als er und sein besoffener Kumpel Sprotte so unverschämt laut auf Sham 69 abgerotzt hatten, dass wir eine Etage tiefer die Contenance verloren. (Flurpunk).
Ein anderes Mal hatte Gus seine Spielekonsole EXAKT auf der Stelle am Boden platziert, unter der eine Etage tiefer mein Bett stand, mit mir drin, schlaflos und blass. Der Dauerbrummton seiner fabrikneuen X-Box breitete sich aus wie ein Wasserfleck an der Decke, langsam aber sicher bedrohte er meine Ohren. Damals hatte es nicht mal einen halben Tag gedauert, schon stand ich wie ein sabbernder Köter vor seiner Tür, bereit zum Angriff. So gesehen war ich diesmal ein Ausbund an Gemütlichkeit. Ich hatte mich viel zu lange schon zurückgehalten.
"Bleib ruhig, Mann", sagte die Gräfin. "Kein Ärger. Lohnt nicht."
"Nein. Lohnt nicht, Frau", sagte ich.
So instruiert zog ich die Cloggs an, die im Flur standen. Cloggs machen grösser. Dabei war ich eh schon grösser als Gus. Aber man kann nicht groß genug sein in gewissen Situationen, wo es eventuell auf die Fresse gibt. Gus hatte zudem ein breiteres Kreuz als ich. Es stand 1:1. Ich die Treppe hoch. War ja nicht weit. 18 Stufen. Vielleicht fünfzehn.
Ich drückte die Türschelle. Drinnen war Musik zu hören. Da drin war immer Musik zu hören. Punk war das allerdings nicht. Eher so Singer/Songwriter-Zeugs, das plötzlich wieder Konjunktur hatte. Gus öffnete die Tür. Er kaute auf irgendwas herum, ein Baguette vielleicht, und machte große erstaunte Augen.
„Hallo Gus“, sagte ich locker.
„Ja. Hallo. Ist was?“
Er legte den Kopf eine Nuance zurück. Als hätte er andeuten wollen: Du willst doch wohl nicht ernsthaft behaupten, die Mukke dahinten wäre zu laut..?? Doch wohl nicht, Männeken.. oder?
„Sag mal, habt ihr irgendwo eine neue Maschine stehen? Eine, die nur nachts arbeitet?“ fragte ich.
Seine Augen zogen sich gefährlich zusammen, zu Schlitzen.
„Maschine? Was meinst du?“
Er stellte sogar das Kauen ein.
„Na, weiss nicht. Eben irgendwas, was man nur in der Nacht hört. Das über den Boden schabt und schlirrt. Was weiss ich. In dem Zimmer über mir. Wo dein Sohn wohnt.“
„Hm? Der ist längst ausgezogen. Der wohnt wieder bei seiner Ma.“
Er blickte kurz nach rechts, in das bewusste Zimmer, in das, wie ich erfuhr, sein halbstarkes Töchterchen eingezogen war, Greta. Da konnte sie in Ruhe knutschen, mit ihrem neuen Freund, der kein Punk war, sondern Singer/Songwriter, so Zeugs.
„Aber keine neue Maschine“, meinte Gus. "Die haben wir nicht."
„Und woher kommt dann jede Nacht dieser verfluchte Krach?“
"Was fürn Krach?"
"Na, so ein.. dunkles Rascheln, Geschepper.."
"Rascheln?" Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Jetzt weiss ich, was du meinst! NATÜRLICH!“ Er gluckste. „Das ist Fritz!“
„Fritz?“
„Ja, Fritz! Greta hat sich doch einen Goldhamster gekauft. Fritz läuft jede Nacht im Rad, wie ein Bekloppter...! Fritz macht den Sound! Ich bin die ersten Tage auch nachts wach geworden und hab gedacht, was ist das für ein scheiß Gepolter hier? Hat da einer die Spülmaschine angelassen? Aber nee, das ist der Fritz, der neue Hamster, Mann!“
Gus kaute fröhlich sein Baguette weiter. Auch ich war erleichtert.
„Ich dachte schon, du würdest hier oben heimlich Gefangene machen und aufkochen.“
Er verstand nicht. "Hä..?"
„Schon gut“, sagte ich.
Wir einigten uns darauf, dass er den Hamsterkäfig unterfütterte, mit einer Schaumstoffunterlage vielleicht, damit wieder Ruhe war im Haus. Die Mauern in unserem Altbau waren so dünn, sie wirkten eher wie Resonanzböden. Es war die Hölle.
Gus, ein Handwerker, nahm Fahrt auf.
„Ich hab noch so ne blaue Turnmatte von früher im Keller. Kennst du bestimmt auch, die schweren Dinger, auf denen wir in der Schule Flick-Flack geübt haben, Rolle rückwärts und son Kack. Was so ne Matte dämpft, glaubt man nicht. Da kannst du ne Elefantenkuh draufschmeissen und bumsen, hört kein Schwein. Die Matte kommt unter den Käfig, dann hörst du nicht mal mehr, wenn Fritz zum Wassernapf tippelt..“
"Super Sache", sagte ich.
Wir reichten uns kurz die Hand. Greta kam aus ihrem Zimmer und guckte mich schräg von der Seite an.
Was will der Blödmann denn schon wieder?