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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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She brings the rain

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Ich war jung, noch keine zwanzig, ich war verliebt. Es war Sonntag. Ich saß am Schreibtisch meiner Mutter, mit Blick auf die dampfende Stadt, und telefonierte mit ihr. Aus irgendeinem Grund konnten wir uns nicht sehen. Es war regnerisch und kühl, ein Sonntag im April.

Sie sagte, Moment, ich hol mir was zu trinken. Dann kam eine lange Zeit nichts, nur Hausgeräusche. Erst als sie wieder am Apparat war, hörte ich es langsam auf mich zukriechen, aus dem Hintergrund, eine hypnotische kleine Melodie, als würde eine Bassgitarre spazieren gehen.

"Was ist das denn..?" "She brings the rain." "She brings the rain? Sie bringt den Regen? Was soll das sein?" "Sag bloß, du kennst nicht She brings the rain?"

Sie fragte es in einem Ton, als hätte ich schon tausend Tage verschollen sein müssen, um es nicht zu kennen. Aber ich kannte den Song nicht. Ich hatte ihn niemals gehört. Vielleicht war ich ja tausend Tage verschollen gewesen, keine Ahnung. Der Basslauf schwang sich gekonnt von Zimmer zu Zimmer.

"Von wem?" "Von Can."

Oh.

Daher wehte der Wind. Aus Deutschland. In diesem Moment wiederholte sich der Refrain: Oh yeah. She brings the rain. In the dawn of the silvery day, clouds seem to melt away..

Sie hatte den Song von ihrem großen Bruder. Nun wusste ich zwar, dass er eine stattliche LP-Sammlung besaß, die er pflegte wie sein dünnes langes Haar, darunter jede Menge Charlie Parker Sachen, aber so was gutes hatte ich ihm nicht zugetraut. Wir teilten nicht gerade die gleiche Vorliebe, wenn es um Pop ging. Sofort stieg er in meinem Ansehen und nahm zehn Stufen auf einmal.

Wir sprachen kein Wort mehr, wir hörten das Lied. Sie knackig laut im Reihenhaus im Stadtteil Aufderhöhe nahe Nußbaumstrasse, ich eher auf Samtpfoten aus dem Telefonhörer, Nordstadt. Eine behutsam marschierende Bassgitarre, eine sehr sexy, sehr verhaltene, irgendwie verstörte Männerstimme.

Als die Nummer zu Ende war, schwiegen wir immer noch. Ich saß wie ausgeknockt am Schreibtisch meiner Mutter, an dem sie die Buchführung für den Betrieb meines Vaters erledigte und der längst in meinen Besitz übergegangen ist und an dem ich jeden Tag sitze und arbeite, und schaute hinunter in die Stadt, in den Schleier aus silbernem Regen.

 She brings the rain


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