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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Wieso bist du eigentlich nicht Chef von der Welt?

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Der Typ ist etwa so alt wie ich und kurvt auf einem Tretroller herum, einem dieser Dinger, die vor Jahren populär waren, mittlerweile aber wieder aus dem Stadtbild verschwunden sind. Und wenn einem doch mal Tretroller begegnen, dann unter den Füßen von Kindern und Jugendlichen. Ausnahme: dieser Knabe um die fünfzig, der sein Käppi falschrum trägt.

Linie 683. Er steigt am Central zu, den Roller eingeklappt. Der Bus ist knackevoll, kein Sitzplatz frei. Nur in der Mitte, wo Kombikinderwagen, Sport-Buggys und die Doppelwagen schlechtgelaunter Postboten abgestellt sind, ist noch etwas Platz, wenn auch nur zum Stehen. Der Tretrollertyp quetscht sich zu mir durch, als wäre ich sein erklärtes Ziel, und lacht herzlich.

„Was soll ich groß zu Fuß zu gehen, wa!“

„Hm“, sag ich. „Sicher.“

„Ist ein Cityroller. Mein kleiner Scooter.“

Hallo Scooter. Ich wusste ja gar nicht, dass wir Freunde sind, dein Herrchen und ich. Neben uns drängeln sich zwei Frauen an den Halteschlaufen. Eine hat rotes Haar und schwärmt von diesem total süßen kleinen Thailänder in Elberfeld, wo sie gestern Abend zum Essen eingeladen war.

„Aber so was von tootal lecker! Der Koch war am Singen in der Küche, konnte man bis an unseren Tisch hören! So Opern! So Arien! Das einzige, was störte, war Schloss Neuschwanstein an der Wand. Ich meine, bei einem Thai, also ehrlich! Geht gar nicht! Das Essen war so scharf, ich musste mir ein neues T-Shirt anziehen auf der Toilette. Aber so was von tootal leeckah!“

In Elberfeld, Calvinstrasse, erste links. (Für Interessenten.)

Kurz darauf gibt es einen lauten Knall, oben am Wasserturm, der Bus stoppt. Auf dem Fahrzeugdach hat sich eine der Stangen gelöst, mit denen der Strom von der Oberleitung abgenommen wird. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder der Fahrer schaltet auf Batteriebetrieb und kriecht den Rest der Strecke mit 30 Stundenkilometern durch den Verkehr, oder er zieht sich Arbeitshandschuhe an und führt die sechs Meter lange Stange wieder ans Stromnetz heran. Er entscheidet sich für Arbeitshandschuhe. Ein Aufatmen schwappt durch die Reihen. Niemand will Batteriebetrieb. Niemand will mit 30 Stukkis durch die Lokalgeschichte zuckeln. Niemand will Zeit geschenkt haben zur unfreien Verfügung.

Funkverkehr ist zu hören.

„Hier Linie 3 Richtung Graf-Wilhelm Platz. Hab eben die Stange verloren, weil die 2 die Weiche nicht umgestellt hat. Da schreiben wir noch eine Meldung drüber.“

„Das alte Schwein“, lacht der Tretrollertyp, er steht so nah, ich rieche sein Frühstück, „hat der seine Stange verloren.“

Nachdem die Stromversorgung wieder gesichert ist, fahren wir bis zum Grafen und steigen gemeinsam aus. Er muss zur Sparkasse, ich auch, wir bleiben auf ein Viertelstündchen vor der Hauptfiliale stehen. Wenn ich jemand kennenlerne, lasse ich ihn reden, ich höre mir erstmal an, mit wem ich es zu tun hab. Dahinter steckt weniger Strategie als die Angewohnheit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Eingreifen ist was für Macher, ich bin ein Lasser. Eine halbwegs funktionierende Gesellschaft setzt sich paritätisch aus Machern und Lassern zusammen, und darüber hinaus wird jede Person speziell zusammengestellt für ihr eigenes Leben.

Es ist ja so heutzutage: Viele Leute, nein, die meisten Leute können nicht gut zuhören, weil sie dauernd Dinge im Kopf haben, die sie selber sagen wollen. Sie formulieren schon im Kopf, was sie gleich sagen werden, sobald sich im Gespräch eine erste Pause auftut. Ich habe meist nicht viel im Kopf, was ich zu sagen hätte, das ist ein Vorteil. Wenn ich doch mal was zu sagen habe, schreibe ich es auf und gebe es jemandem zu lesen.

(„Ehrlich gesagt, ich kapiere oft kein Wort von dem, was ich so alles denke am Tag. Am liebsten würde ich den Stimmen, die mich dauernd zuquatschen im Kopf, zurufen: MAUL HALTEN!“ – Die Gräfin)

Wenn ich nicht gerade einen schlechten Tag erwische, schenke ich jedem Menschen, dem ich begegne, eine Viertelstunde. Ich staune immer wieder, was so alles in eine Viertelstunde reinpasst aus dem Graubereich zwischen den beiden großen Eckdaten unseres Daseins, zwischen Leben und Tod: Variationen von Wahrheit sowie Autounfälle, Skiunfälle, Unfälle. Ein Leben in Unfällen in 15 Minuten.

Dass in Zukunft jeder 15 Minuten weltberühmt sein wird, wusste schon Warhol. Dass aber Nahrungswissenschaftler nachgewiesen haben, dass der Mensch nach einer Viertelstunde satt ist, egal, was und welche Mengen er vertilgt – das ist neu. Eine Viertelstunde reicht, um unseren Hunger zu stillen, eine Viertelstunde ist die Zeitspanne, die uns sättigt.

„Nach dem Essen ist man erstmal eine Weile blöd. Etwa eine Viertelstunde lang. Weil der ganze Körper mit Verdauen beschäftigt ist, auch das Gehirn.“ (Die Gräfin).

Der Tretrollermann, Baujahr 60, geschieden, hat einen 16jährigen Sohn und berufsmäßig zuletzt in Holz-Pellets gemacht, bevor der Unfall geschah.

„Bevor mich der Pole überfahren hat.“

„Ein Pole? In Polen?“

„Nee, unten an den Schwarzen Pfählen. Ich hatte die Beine mehrfach gebrochen, die Hüfte gequetscht, ich war zwei Monate im Krankenhaus. Seitdem bin ich Frührentner, zu hundert Prozent. Willst du meinen Schwerbehindertenausweis sehen?“

Unter Freunden? Nicht nötig. Er war mit dem Motorrad unterwegs an diesem Tag vor vier Jahren, als ein Pole ohne Führerschein ihm die Vorfahrt nahm in einem gestohlenen Wagen.

„Zwei Jahre vorher hatte ich meiner Frau ein Haus gebaut. Ich baue nie wieder ein Haus mit Keller, Fußbodenheizung reicht. Einen Keller bauen, nur damit die Frau keine kalten Füße kriegt, ich glaub, ich spinne. Nee, die nächste Frau kriegt Fußbodenheizung, das muss reichen. Ich reiss mir für keine Frau der Welt mehr den Arsch auf, nur damit der Tante nicht fußkalt ist. Nach dem Unfall hat es kein halbes Jahr gedauert, ich musste noch mal ins Krankenhaus wegen dem Bein, da lernt sie diesen Kerl kennen, diesen Doktor Doktor. Soll ich dir was sagen? Der freut sich heute noch über mein Haus. Der lacht heute noch über mich.“

„Wie? Wohnt der da?“

„Ja klar wohnen die da!“

Erst denk ich, oha, jetzt wird aber einer sauer, denn Grund dazu, sauer zu sein, hätte er. Das sind die schwierigen Momente für jeden professionellen Zuhörer. Es ist, als würde man einen Film gucken, wo man genau weiß, was als nächstes kommt, aber umschalten geht nicht, weil man im Kino sitzt. Und tatsächlich zieht er kurz und heftig vom Leder, („Was wir Männer heute alles sein müssen! Wir müssen Ficker sein, Papa, Mama, Geschäftsführer, Prokurist, LKW-Fahrer, Pilot, Flugkapitän.. und wenn man morgens aufwacht, was sagt die Frau als erstes? Na, bist du endlich Chef!? Hast du’s endlich geschafft? Warum bist du eigentlich nicht Chef von der Welt!?“)

Aber er fängt sich schnell wieder. Es leuchtet sportlich in seinen Augen, als er von seinem fünfzehn Jahre älteren Bruder erzählt, einem Unternehmer in Bolivien, im Hochland, so richtig mit Pferderanch und Kaffeeplantage, ein gemachter Mann: vier Betriebe, vierzig Mitarbeiter, viertausend Stück Vieh.

„Warum gehst du nicht auch nach Bolivien? Zu deinem Bruder?“

„War ich doch schon! Schon vier mal!“

„Na ja, ich mein, richtig da leben. Kannst du doch auf der Ranch deines Bruders arbeiten. Nicht nur Urlaub machen. Richtig da leben.“

„Mach ich doch vielleicht! Nächsten Sommer fliegt erstmal mein Sohn rüber.“

Da Ende des Monats ist, schleicht eine Menge Gesindel vor der Sparkasse herum. Abwechselnd verschwindet einer in der Filiale und schiebt die Karte in den Kontoauszugsdrucker, um zu schauen, ob Kohle schon drauf ist. Eine Menge übler Laune und verdruckster Sozialbilanzen schleicht Ende des Monats in den Innenstädten herum. Es mieft nach nicht gewechselter Wäsche, nach fehlenden Zähnen und billigem Essen. Ganze Gesichtsbereiche sind wie verödet.

„Vor dem Unfall mit dem Polen bin ich jedes Wochenende Motorrad gefahren, alle Rennserien. Ich hab ein ganzes Zimmer voller Pokale. Sogar in der alten DDR hab ich 1989 noch einen Silberteller geholt, 2. Platz unter fünfzig Fahrern. Und zuletzt war ich in Schottland, Quad fahren. Mein Motorrad war mein Leben.“

Vor der Sparkasse macht er den Scooter startklar. Drei schnelle Handgriffe. Klapp, klapp, klapp.

„Am schönsten war meine Weltreise 1982, AROUND THE WORLD. Ich hatte ein Weltticket für dreitausendzweihundert Mark, damit konnte ich jedes Flugzeug besteigen, ein Jahr lang, weltweit. Ich war in Amerika, Australien, Asien. Und wenn ich Asien sage, mein ich nicht Thailand, sondern Indonesien. Die Inseln. Das ist für mich Asien.“

Zuletzt flog er in die Südsee.

„Bora Bora.“

„Bora Bora..?“ sag ich. „Woher kenn ich das denn nochmal…? Ist das nicht die Insel, auf der Die Meurerei auf der Bounty gedreht wurde? Mit Marlon Brando?“

Er trägt seine College-Kappe falschrum aufgesetzt, Blue Jeans, hat gute Zähne. Sein Gang ist beschädigt, vom Unfall mit einem Polen an den Schwarzen Pfählen. Die Hüfte steht ein Stück weit heraus, wie eine Schublade, die klemmt, die nicht mehr richtig zugeht.

„Kann sein. Ist bei Tahiti, Bora Bora“, sagt er.

„Ja, mit Marlon Brando.“ Jetzt laufe ich zu Form auf. Vielleicht keine Bestform, aber immerhin, jetzt bin ich mal im Erzählgeschäft – ein, zwei Sätze lang buttere ich meine Sozialbilanz.

„Der hat doch bei den Dreharbeiten so ne Eingeborne kennengelernt und später geheiratet. War das nicht auf Bora Bora?“

Er schüttelt den Kopf. Keine Ahnung, sagt die Geste.

„Solange es irgendwie geht, flitzen Scooter und ich durch die Gegend. Ich muss nicht mehr in die grosse weite Welt, in der großen weiten Welt war ich schon.. So, machs gut. Schönen Tag noch, wa.“

Hm.

Ich schätze, das war ne andere Insel. Das war nicht Bora Bora. Oder? Ist doch egal. Wen juckt's.

„Ist Kohle schon drauf?“ frag ich den Deutsch-Russen, der gerade aus der Sparkassenfiliale kommt. Eine Figur mit einer eigentümlichen Narbe im Gesicht, wie ein Fähnchen. Ich hab mich immer gefragt, von welcher Art Unfall solch eine Narbe stammen könnte, bis mich eine Landsfrau von ihm eines Tages aufklärte. Die Narbe wurde ihm im Knast zugefügt, es ist ein Zeichen, das unter Russen besondere Bedeutung hat: ich bin ein Zinker. Eine Hafenratte. Ich hab Kameraden verpfiffen. Ich bin mit Vorsicht zu genießen. Man darf mich töten.

„Nee. Is noch keine Kohle drauf.“

Na super. Da kann ich auch genauso gut nach Hause gehen.

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