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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Pott-leck, Pott-leck, Schwarzenbeck

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Niemand wusste, was Pottleck bedeuten sollte, aber man stellt Begriffe nicht in Frage, wenn man jung ist, sie sind eben da, sie sind in der Welt, irgendwer hat ihnen einen Namen gegeben, einen Stempel aufgedrückt, fertig, aus,

Pot-leg.

Nachmittags trafen wir uns unten im Klauberg zum Fußballspielen. Mit seinen niedrigen Mäuerchen und Erdhügeln, die den großen Bolzplatz zu den Seiten abschirmten, war der Klauberg eine Art kleines Natur-Stadion. Und da es sich schnell herumsprach, dass hier eine Menge blutjunger Talente bolzten, saßen nicht selten zehn, zwanzig schreiende Frührentner um den Platz herum, die ihre missratenen Söhne anfeuerten.

Da war dieser knorrige alte Pole, der bei jedem Wetter kam, um seinen untalentierten Bub zu unterstützen, der keinen Namen hatte, kein Wort Deutsch sprach und nur stur geradeaus rannte mit hochroter Birne, ohne je die Pille zugespielt zu bekommen. Eine tragische Figur. Der Vater.

Der Sohn aber auch.

Bevor es losging, mussten Mannschaften gewählt werden. Dazu wurden zwei Kapitäne bestimmt, in der Regel die beiden stärksten Spieler auf dem Feld. Wer von den beiden mit dem Wählen beginnen durfte - was ja nicht unwichtig war, schließlich konnte sich der Gewinner den nächstbesten Spieler sichern, oder den einzigen Torwart - das wurde mit einer Runde Pottleck ausgefochten.

Pot-leg.

Beim Pottleck standen sich die beiden Kapitäne gegenüber, im Abstand von einigen Metern, und marschierten abwechselnd einen Fuß vor den anderen setzend aufeinander zu.

Also, erst ging A eine Fußlänge vorwärts, dann B, immer im Wechsel.

Gewonnen hatte, wer als letzter einen Fuß setzen konnte, ohne sein Gegenüber an der Schuhspitze zu berühren. Je später der Nachmittag, desto ausgefuchster wurde gepottleckt. Vor allem in den Großen Sommerferien, wenn es erst spät am Tag dämmerte und schon mehrfach gewählt worden war, wurde die entscheidende letzte Fußlänge gestückelt:

Wenn abzusehen war, dass es zuletzt zwischen den beiden Kontrahenten für eine ganze Fußlänge nicht mehr reichte, setzte man den Fuß eben schräg in die verbliebene Lücke, schon passte es. Manchmal blieben auch für den Gegner noch zwei, drei Zentimeter Platz: Genug für eine Schuhspitze, von oben in den Staub gedrückt.

„Ballerinaaa!!!“ musste so ein Sieger vielleicht über sich ergehen lassen, aus dem Hals von zwanzig wütenden Frührentnern und einem knurrenden Polen, aber gewonnen war gewonnen, wen juckten da höhnische Rufe.

Nur warum dieses Verfahren in unserer Strasse Pottleck hieß, oder Pot-leg, keine Ahnung. Interessierte auch keinen.

Hieß eben so.

2

Jeder kennt es, diese Szenen aus der eigenen Kindheit, die in unregelmäßigen Abständen auftauchen, aber keinen erkennbaren Sinn machen. Wo man sich, mittlerweile erwachsen, fragt: Ach ja, und was soll das bedeuten, bitteschön!? Warum fällt mir ausgerechnet diese belanglose Szene ein? Hatte meine Kindheit nichts Spannenderes zu bieten!?

Die Szene, die in meinem Kopf periodisch wiederkehrt, ohne erkennbar Sinn zu machen, spielt im Jahre 1972. Ich komme von der Schule heim und freue mich auf Fußball im Fernsehen: das Europapokalspiel zwischen Steaua Bukarest und Bayern München. Ein Nachmittags-Spiel, Europapokal der Landesmeister.

So sehr ich Bayern München heute hasse, in den frühen Siebzigern hatte das Team ein Gesicht: Gerd Müller hatte ein Gesicht, Beckenbauer hatte eins, Bulle Roth, ja sogar Uli Hoeness, pfeilschnell und immer geradeaus rennend, hatte zumindest eine hochrote Birne. Und, nicht zu unterschlagen, der vierschrötige Vorstopper Katsche Schwarzenbeck, der wie eine Machete übers Spielfeld marschierte, um seinen Kollegen den Weg frei zu hauen.

Fußball im TV war damals was besonderes. Am Samstag lief im Ersten die Sportschau um sechs, abends das Aktuelle Sportstudio im ZDF, ab und an gab es ein Länderspiel, und eben der Europa-Cup. Da Rumänien 1972 noch kein Farbfernsehen hatte, wurde die Partie aus Bukarest in s/w übertragen. Aber darum geht es gar nicht. Die rätselhafte Szene, die im Schnitt alle paar Monate in mir hochgespült wird, betrifft den Kinderfilm, der vor dem Fußballmatch ausgestrahlt wurde, ebenfalls in s/w, und von dem ich nur das Ende mitbekam, kurz bevor der Abspann einsetzte.

Ein Junge, etwa mein Alter, sitzt auf einer betonierten Kaimauer und blickt hinaus aufs offene Meer.

Man hört Möwengeschrei.

Sonst nichts.

Nur das Meer, der Hafenkai, der Junge. Genau dieses Bild. In schwarz und weiß.

Kommt dauernd in mir hoch.

Und jetzt kommt mir bitte keiner mit so Psycho-Kram à la: dieser einsame Junge, der da sitzt, das bist doch du!

Schon klar.

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