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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Verzeihen Sie mein Deutsch und mein Leben

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Anfang des 20. Jahrhunderts stellte die KPD im "roten" Solingen zwei Mal hintereinander den Oberbürgermeister, das gab es sonst im ganzen Deutschen Reich nicht. Viele Solinger Kommunisten waren hochspezialisierte und überdurchschnittlich gut verdienende Schneidwarenarbeiter mit entsprechendem Selbstbewusstsein.

Schon im April 1848 hatten sich zornige Arbeiter versammelt und waren zu den Fabriken der Schneidwarenmagnaten geströmt, um gegen das Trucksystem zu protestieren: Für ihre Arbeit wurden sie nicht mehr mit Bargeld, sondern mit Waren entlohnt. Fabriken brannten nieder und lagen in Schutt und Asche, Industielle wurden aus der Stadt vertrieben, das verhasste Trucksystem abgeschafft.

Zu Ehren dieser Aufstände, die mit der französischen Revolution einhergingen, heißt das Baguette noch heute in traditionellen Solinger Bäckereien Knüppelbrot.

Hä hä!

In diesem Rahmen soll auch an den 28. April 1988erinnert werden. Einige Dutzend Bierkommunisten hatten am Abend zuvor im Mumms auf der Mummstrasse den 140. Jahrestagder Solinger Schleiferaufstände gefeiert. Dem Vernehmen nach war Punkt Mitternacht sogar kurz die Sonne rausgekommen, in einigen der beteiligten Schädel.

Dazu gehörte auch der legendäre Mitsubishi Boy. Wo anderen Leuten Gehirnwindungen wuchsen, stand ihm der Blödsinn schnurgerade unterm Schopf. An guten Tagen war er eine Granate, über dem falschen Land abgeworfen. Was ihn aber nicht am Explodieren hinderte. Oder am Herumirren als Blindgänger und kleine Kinder veräppeln.

"Weisst du, was ich gern mal machen würde?" nahm er mich am Tresen beiseite.

"Nee, aber du wirst es mir gleich sagen", antwortete ich eine Spur zu kotzig und er drehte beleidigt ab. Er war sensibel, wie alle großen Meister.

"Wer nicht will.."

"Na, nun sag schon", lenkte ich ein.

Er war sofort zur Stelle.

"Ich würd gern mal ner kalten Frau die Schuhe vergraben", flüsterte er, und seine Faust fuhr donnernd auf den Tresen. ".. vergraben, Alter! Hör mal! Wa?!"

Er hatte diesen Schuhspleen. Sobald er betrunken war, stellte er Unsinn mit Schuhen an. Oft blieb es bei Wortspielereien oder großspurigen Drohgebärden, doch hin und wieder schritt er zur Tat. Er zog seine Treter aus, warf sie aus dem Fenster des Mumms und saß für den Rest des Abends barfuß da, während seine Schuhe im Strassenverkehr untergingen. Er hatte einen immensen Schuhverbrauch, besonders an langen Sommerabenden.

Einmal tanzte er tief im Winter in den nagelneuen Ballerinas seiner grossen Schwester vorm Mumms auf und ab und holte sich blutige Hacken, das war kurz bevor er nach Hamburg ging. Und niemals wiederkehrte.

 

28. April 1988

Ich erwachte mit fiesem Nachgeschmack und einem Fallhammer im Kopf. Ich lag da, stierte die Decke an. Meine Nerven streikten. Selbst das Rattern der Regionalbahn auf weichem Gleisbett, gut zwei Kilometer entfernt, liess mich verzweifeln. Flüchten dachte ich nur. Raus hier. Nicht schon wieder so einen Tag..

Ich ertrug diese Katertage nicht mehr, und verschwand mit der Obus-Linie 3 Richtung Wuppertal-Vohwinkel. Von da weiter per Schwebebahn bis Elberfeld, Zentrum des Frühsozialismus und Heimat von Else Lasker-Schüler. In einem Straßen-Cafe versuchte ich, den Kopf frei zu bekommen, mit schwarzem Kaffee und Zitrone.

Ich beobachtete am Nebentisch einen Schnösel, der seine Manschetten richtete und wichtigtuerisch die FAZ ausbreitete, doch die vielen engen Buchstaben am Nebentisch machten mich kirre, zwangen meine armen verkaterten Augen zum Tränen: dieser gottverdammte Schnaps! Dieses gottverdammte Kommunistenpack! Ständig waren alle gleich besoffen, aber nicht gleich verkatert! Immer war ich der Verkatertste. Aber nicht (unbedingt) der Besoffenste. Das haute doch hinten und vorne nicht hin! Oder nur hinten, und nicht vorn.

Das Schlimme am Saufen war ja nicht das Saufen, das Saufen ging in Ordnung, das Schlimme war der nächste Morgen. Und es wurde immer schlimmer. Gleich mit dem Wachwerden baute sich die Aussicht auf einen langen Tag auf, trist und kaputt im Herzen. Defekt. Am nächsten Morgen musste jeder selbst zusehen, wie er zurande kam. Da war nichts mehr mit Bierkommunismus.

Und was mich betraf: Ich wusste verkatert nichts mit mir anzufangen. Und da ich mindestens zwei Mal die Woche besoffen war, wusste ich mindestens zwei Mal die Woche nichts mit mir anzufangen. Und ging auf die Flucht. Auf kleine Trebe.

Diese trübe Katerfeeling, diese Depression. Als würde man seine Probleme eine Weile über den Bügel hängen und die Schranktür abschliessen. Und wenn man wieder aufmachen will, ist garantiert der Schlüssel weg. Ist garantiert nicht aufzutreiben. Ist weg. Verloren.

Ist dunkel im Schrank.

An diesem Tag war es noch schlimmer als sonst. Zum 140. Jahrestag hatten wir die Aufstände der Schleifer besonders kräftig begossen, an zwei Abenden hintereinander und zu allem Überfluss auch noch mit Altbier, weil das Mumms ein neues Kühlsystem verpasst bekam und kein Kölsch gezapft werden konnte.

Um 15.01 Uhr fand ich mich im Nahverkehrszug nach Bottrop wieder. Nach Bottrop? NACH BOTTROP? Ja, wie scheiße besoffen muss man gewesen sein, um am nächsten Morgen freiwillig die Eisenbahn Richtung Bottrop zu besteigen!?

Sehr sehr scheiße besoffen.

Ich legte den Kopf in den Nacken und konnte nicht anders, als den Herrgott zu rüffeln für seine Entscheidung, mich, Glumm, auf dem Elberfelder Bahnsteig 2 vor den großen Fahrplan (Abfahrt) gestellt  zu haben, bloß um das am weitesten entfernte Fahrziel zu ermitteln, das in unserem Tarifgebiet noch mit Tagesticket zu  erreichen war.

Ich fühlte mich so lausig und neben der Spur, so ganz & gar ungültig, dass nur noch Zugfahren etwas ausrichten konnte. Vieles und langes Zugfahren. Es half nur noch Schuhe ausziehen, sich lang und defensiv machen und aus dem Fenster blicken, Landschaft vorüberziehen lassen, Strecke machen bis Bottrop Hauptbahnhof. 

Vorbei an Wuppertal-Barmen, dem Geburtsort Friedrich Engels', bis Essen-Kupferdreh, wo sich ein kleiner Junge im Abteil schlafen legen wollte, aber Großvater ließ ihn nicht. "Das lohnt nicht, Jung, wir steigen gleich aus." Und schon waren sie weg. Zwei Teenager steckten die Köpfe in die BRAVO GIRL und giggelten sich gegenseitig das Apfelshampooo aus dem Haar, der Nächste zählte umständlich sein Kleingeld.

Ein Geräusch, das mir bekannt vorkam. Ich hatte tags zuvor eine Büchse Fünf-Pfennig-Stücke zur Bank gekarrt (30 Mark 70), weil die Groschen schon vierzehn Tage vorher dran gewesen waren. Der Kupferkassierer war nett, half beim Zählen. Ist mal ne Abwechslung, sagte sein Blick. Ich bring morgen die Zweipfennigstücke, sagte ich. Morgen ist Sonntag, log er. Unsere Hände rochen streng nach Kupfer.

15 Uhr 15, Essen-Steele. Frische Brise in Essen-West, 15 Uhr 25.

Splitter & Fetzen der vergangenen Nacht: Warum ich immer so traurig bin, hatte die mollige Blondine gefragt, neben mir am Tresen. (Der Zapfer trillerte schon zum Weitersaufen wie der Schaffner an Bahnsteig 3 zur Weiterfahrt.) Warum ich immer so besoffen bin, hätte sie genauso gut fragen können. Das wäre anständig gewesen. Ist doch wahr. Wahrheit und Anstand, traurig und besoffen.

Wir schafften es aus Essen irgendwie nicht heraus. Essen-Borbeck, 15 Uhr 32.

Urplötzlich war ich allein im Abteil. Essener Hinterland flog am Fenster vorbei, Schrebergärtenkolonien, das Binnenmeer des Ruhrpotts - alles auf dem Weg nach Bottrop, Richtung Vergessen, den Alkohol-Kater abmurksen.

Ich betrachtete meine schmutzigen Fingernägel, und fragte mich: Wie zum Henker kriegt man vom Saufen schmutzige Fingernägel? Oder kam das vom Wichsen? In Elberfeld hatte ich zweimal kurz hintereinander im Sexshop eine Video-Peepkabine bestiegen. Hatte lachen müssen beim zweiten Mal, weil der Schwanz in der Hand so vertrottelt dreinschaute. Das erste Mal war noch in Ordnung, da hatte ich gründlich gewichst, aber das zweite Mal war ein Lacher. Schmutzige Fingernägel vom Wichsen.. Der Aschenbecher klappte zu, in wilder Fahrt. E´pericoloso sporgersi. Verzeihen Sie mein Deutsch und mein Leben, ich kann nicht anders. Ich fang gerade erst an. Lesen Sie weiter, steigen Sie aus, ganz wie Sie mögen, es bleibt gleich. Die Dame mit abgewetzter Aldi-Tüte auf dem Schoß lutschte Zitroneneis in Höhe Essen-Dellwig Ost, 15 Uhr 43.

15 Uhr 45, Bottrop Bahnhof.

Mit dem Bus in die innere Stadt. Da, wo alle aussteigen, da stieg auch ich aus. In der Fremde sucht der Flüchtende die Herde, Gleichgesinnte. Ich watzte nervös den Pferdemarkt rauf und runter, und kehrte in die erstbeste Gaststätte ein. Beim Rudi.

"Kölsch? Wie Kölsch?" Die Wirtin war baff. Wir sind im Revier! Dann eben Pils, ein großes Pils.

"Gut. Und selbst?"

"Solang es noch schmeckt, Heiner."

Das Publikum am Tresen: drei Männer, eine Frau. An der Wand ein Mannschaftsfoto der Boxfreunde Bottrop. Schlagermusik Spitzenreiter 1968. Weiteres Publikum polterte herein, Begrüßung per Handschlag. Irgendeiner hieß immer Orlowsky. Ein anderer hatte vierzehn Tage lang keinen Fusel getrunken, jetzt aber Pils und Aufgesetzte. Sollst du doch nicht tun.. Die einzige Frau weit und breit stellte ihr leeres Fanta-Glas weg und sagte Auf Wiedersehen.

"Immer schön langsam, genau."

Die Wirtin, ein Nettes, servierte mit Bedacht. Ein mäanderndes Kneipentier dagegen erhob sich zackig und schloss die Eingangstür, weil ihm kühl wurde.

"Ich hab zugemacht, ne!"

Zwei schnatternde Frauen traten ein, mit Einkaufstüten bepackt. "Tag Anni. Tag Moni." Sie rauschten gleich durch in die Küche, wo weitergeschnattert wurde. Das Radio brachte das Hafenkonzert !live! aus Duisburg. Um die Ecke praktisch. Im Westen ist praktisch alles um die Ecke. Dennoch: Was wusste Bottrop vom Schleiferaufstand 1848 in Solingen. Nichts bis gar nichts. Um die Ecke ist andere Welt. Ist Bottrop. Ich lehnte mich zurück. Erste Entspannung.

Manchmal bin ich Jesus, hatte ich am Abend zuvor dem Mitsubishi Boy anvertraut, im besoffenen Schädel.

Nee, mein Freund, du nicht. Du hast ein paar üble Gestalten und Gott in dir, hatte er geantwortet, sonst nichts.

Ich war beim dritten Pils angelangt, als das Hafenkonzert in Duisburg von Werbung unterbrochen wurde. Deutsches Suppenhuhn, Güteklasse A, eins neunundneunzig. "Ticke-Ticke-Tacke, jeder hat ne Macke." Das Jugendschutzgesetz starrte mich vergilbt an. "Ne grosse oder ne kleine - jeder Mensch hat seine." Ein Pils noch. Ich war im Revier. Ein Rentner humpelte auf Krücken rein. "Hundert Meter schaff ich in ner Viertelstunde! Tag zusammen!" Er trug einen schwarzen Hut mit breiter Krempe.

"Mensch, Jung, dat is doch so dunkel hier in der Ecke..", meinte Frau Wirtin, als sie mir das vierte Pils an den Tisch brachte und das Notizbuch sah. "Und dann noch so klein schreiben.. in so kleinen Buchstaben. Mach doch größere. Ist besser für die Augen, Jung."

Ich Jung, ich Solinger Bierkommunist, verkatert, auf der Flucht! In der Fremde! Mich schreibend bewegend! Notierend in Bottrop! In so kleinen Buchstaben!

"Hört ma, Männer, kommt da ein Gewitter?"

"Musste mal oben anfragen, darauf kann ich dir so keine Auskunft geben."

"Tschö Oskar. Komm, gib mir die Linke, die Flinke."

"Wir haben ja strammen Ostwind, aber die Wolken kommen von Westen."

"Der Theo hat den Finger im Wind gehabt, der muss dat wissen."

"Wenn es im Revier regnet, hört dat die nächsten zwei, drei Stunden nich mehr auf. Ist Gesetz."

"Guckt mal. Is finster da draußen wie die Nacht."

Theo blendete Geschehnisse vom letzten Weltkrieg ein. Ganz plötzlich. Von gelben grausamen Granaten, die überm Pott einschweben und explodieren, aber keiner hörte so richtig zu. Hans suchte sich einen Hocker. Dann wieder Theo, mit einer Stimme, wie genesen von Asthma (kurz glaubte ich sogar, den Mitsubishi Boy zu hören): "Hast du in der Firma keine Sitzgelegenheit?!"

Die Flucht endete in einer Reibekuchenbude, am Ende des Pferdemarkts: drei goldene Deckel aus frischen Kartoffeln. Mir gegenüber mampfte ein mongoloider Junge eine Currywurst und gaffte mich an.

"Du siehst aus wie ein Rocker", sagte er mit aufgerissenen runden Augen. Als ich schon auf der Straße war, hörte ich noch seine Stimme:

"Der sieht aus wie ein Rocker!"

Rückfahrt. Ich saß entgegen der Fahrtrichtung und rauchte etwas Gras. Das Stadtgebiet Essen wollte wieder nicht enden. Große beleuchtete Discountermärkte flogen am Fenster vorüber, Raubtiere mit aufgerissenem Schlund, am Wasserloch nach Kundschaft schnappend.

Der Schaffner glitt freundlich durch den Zug und erinnerte mich daran, beim Aussteigen die Schuhe nicht zu vergessen. Nee, natürlich nicht. Ich bin doch nicht besoffen. (Nur bekifft).

Dahinten, das Meer - oh Boy.

*


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