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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Da knallen wir noch ein Überbein rein!

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Seit einem Bandscheibenvorfall schleppte ich nicht nur ein taubes Schienbein mit mir herum, es erwischte mich auch alle nase lang im Kreuz. Rückenschmerzen waren also kein Grund zur besonderen Beunruhigung, doch an diesem Tag strahlte der Schmerz bis in den Oberschenkel, und das war neu. Es fühlte sich an, als wollte sich noch ein Knochen in die Gelenkpfanne quetschen: Da knallen wir noch ein Überbein rein! Ganglion-Style!

Ich zum Orthopäden, den Schaft offenlegen. Mahaa! - ich bin aber auch zu gut drauf heute - astrein! Ich weiss, das sagt heutzutage kein Mensch mehr, astrein, bis auf ein paar Übriggebliebene, und für Euch schreibe ich, Jungs! Und Mädchen! Ihr seid nicht allein!

Astrein!

Orthopädische Praxis, vierter Stock. Aus einem schnuckeligen kleinen Verschlag, in dem es lecker nach italienischem Kaffee geduftet hatte, war eine turbulente Gemeinschaftspraxis geworden, wo sowohl Mineralwasser-Spender als auch Arzthelferinnen in allen Schattierungen und Gewichtsklassen herumstanden und vor sich hinbubbelten.

Da zwei der drei Fachärzte momentan außer Haus waren, wurde vorne an der Anmeldung alles abgewimmelt, was kein Notfall war bzw. keinen festen Termin vorzuweisen hatte.

"Ich bin der Notfall schlechthin", gab ich mich zu erkennen und versuchte es mit einer speziell auf solche Fälle zugeschnittenen Leidensmiene, einer Kombination aus Jody Fosters beleidigter Stutenfresse und Peter Sloterdijks Mir tut der Arsch weh-Gesichtsausdruck. "Ich hab schlimme Rückenschmerzen. Ich hatte vor zehn Jahren einen Bandschei.."

"Moment, junger Mann, Termine und Kontrollen gehen heute vor, da helfen auch keine noch so schlimmen Rückenschmerzen und Bandscheibenvorfälle. Vielleicht kommen Sie morgen wieder, dann ist die Mannschaft wieder voll."

"Ja, aber ich kann kaum noch auftreten..! Hier, sehen Sie.."

Ich humpelte im Kreis. Das sah nicht gut aus. Ein in der Mechanik streikendes Blechspielzeug. Die Arzthelferin seufzte. Eine Kollegin ebenfalls. Sie schauten sich an. Ich nahm im Wartezimmer Platz.

"Aber viel Zeit müssen Sie schon einkalkulieren."

Als müsse man das nicht sowieso. Doch ohne Strafe kam man in diesem Leben nicht davon. Manchmal dauerte es seine Zeit, bis die Strafe sich sehen liess, und manchmal folgte sie auf dem Fuße. Im Anschluss an meine kleine Humpelei im Kreis wurde jeder Patient, der nach mir kam, vor mir drangenommen, und das zwei Stunden lang und ohne Ausnahme. Termingesichter, Zur-Kontrolle-Gesichter, Hüftoperierte.

Erst als sich der Wartebereich komplett geleert hatte, um Punkt zwölf Uhr, wurde ich in eines der Behandlungszimmer gerufen. Was nun nicht hiess, dass ich bald drankam, ich wartete nur woanders.

"In fünf Minuten können Sie laangsam Hosen und Schuhe ausziehen."

Ich wartete eine Weile. Dann zog ich mich aus und saß brav auf meinem Höckerchen. Ich stand auf. Ich ging zum Rechner und rief meine Patienten-Daten ab. Demnach war ich 1998 das letzte Mal hier gewesen. Wie die Zeit vergeht, dachte ich. Nur die aktuelle nicht. Mein Bein schmerzte, der Rücken. Ich machte ein paar Schritte, blickte aus dem Fenster. Im Hof stand ein prächtiger roter Ahorn-Baum und leuchtete wie ein Hochofen, in dem Rücken-und Fußversehrte verbrannt wurden. Ich hörte Schritte. Die Tür schnappte auf.

"Guten Morgen! Doktor Stefan Lausch mein Name!"

Volles Haar, sehniger Typ, Mitte dreißig. Lausch war der Sport-Mediziner im orthopädischen Gemeinschaftstrio. Sein Händedruck kam so prall rüber, als hätte er sich im Handballen ein Stück Kernseife eingenäht.

"Was haben wir denn Schönes?"

Bevor ich antworten konnte, las er schon die in der Patientenmaske eingetragenen Daten ab.

"Andreas Glumm, 48 Jahre alt, Bibliothekar.."

Bibliothekar? Har-har, na ja. Irgendetwas hatte ich angeben müssen, als Beruf. Womit man sein Geld verdient, und das war nun mal in der Bibliothek des Design-Instituts. Wo ich die Talente einsammelte, wie Geld früher mal genannt wurde. Die Ziffern auf dem Kontoausdruck. Die Lohntüte. Kopeke für Kopeke. Mücken, Moneten.

"Und, wo brennt's? Akute Rückenbeschwerden..?"

Ich sah zum Ahornbaum und erzählte dem Doc, welche Probleme mein Kreuz neuerdings machte. Das mit dem Überbein im Oberschenkel behielt ich vorläufig für mich, Schulmediziner reagieren schon mal allergisch auf Schlußfolgerungen des Laien. Es folgte eine Reihe Übungen. Der Doktor wollte sehen, ob ich mit den Fingerspitzen noch den Boden erreichte. Yes, keine Thematik. Tat es weh, wenn ich im Liegen die Beine durchdrückte? Tat das vielleicht weh? Nein? Jetzt vielleicht? Und wenn ich so mache? Immer noch nicht? Und jetzt? Wie ist es jetzt!? TUT DAS ENDLICH WEH!??

"Nein. Eigentlich nicht."

Vielleicht hätte ich es nicht sagen sollen. Nicht so direkt. Ab jetzt war ich in seinen Augen ein Simulant, der einen gelben Schein abgreifen wollte. Jedenfalls tat er meine Vermutung, dass es sich um einen weiteren Bandscheibenvorfall handelte, als eher unwahrscheinlich ab.

"Ich denke, es handelt sich um eine Wölbung der Bandscheiben. Was arbeiten Sie noch mal, als was war das.. Bibilothekar..? Also überwiegend eine sitzende Tätigkeit. Hm. Schön. Na gut, na gut. Ich ziehe Sie diese Woche aus dem Verkehr und überweise Sie zum CT. Brauchen Sie was gegen die Schmerzen? Soll ich Sie spritzen?"

Och, der war ja doch ganz in Ordnung: So schnell hatte ich die Unterhose lange nicht unten.

"Gut so?" fragte ich scheinheilig und zog die Buxe noch weiter runter, angeblich um Platz für die schmerstillende Spritze zu schaffen, und tatsächlich: Sofort lugte die ansonsten im Hintergrund agierende Arzthelferin verstohlen rüber. Luder! Die soll bloß im Treppenhaus auf mich warten! Wenn ich es bis dahin schaffte, ohne zusammenzuklappen, verdammt!

Computer-Tomografie. Die Radiologen-Praxis war gleich um die Ecke. Auf dem Weg dorthin hörte ich leise heisses Nudelwasser in meinem Kopf knistern. Geblubber. Oder war ich einfach nur nervös? Nervosität verursachte schon mal seltsame Geräusche, und es roch lecker.

Gebutterte Nudeln.

Enge Kabine in der Radiologen-Praxis. Wobei, was heißt Praxis? Ganzes Haus, drei Etagen. Abfertigung wie auf dem Flughafen, Mammografie-Massenbetrieb.

"Jacke und Hose aus, Schuhe aus. Wertsachen bitte in der Safe-Box verschließen. Dann hinsetzen. Ich hole Sie ab."

Als ich halbnackt auf dem Bänkchen Platz nahm, musste ich plötzlich pinkeln. Na toll. Hose wieder an, Schuhe wieder an, über den Flur zum Patienten-Klo, mit fliegenden Schnürsenkeln. Ich pisste wie eine Kuh im Stehen. Dann zurück durchs Wartezimmer, im Langlaufschritt, damit ich mir nicht auf die Schnürriemen trat und aufs Maul flog. Kabine. Schuhe aus, Hose aus. Es roch schon ein kleines bißchen nach mir.

Kaum saß ich auf dem Bänkchen, wurde mir kalt. Ich zog den Pullover an, und wie von unsichtbarer Hand wurde die Tür aufgeschoben, "Herr Glumm...?", und man führte mich in einen großen hellen Raum. War das warm hier. Ich sah einen stabilen Untersuchungstisch, der in einen großen Ring führte, dahinter die große weiße Maschine, deren Schlund offenstand und auf mich wartete.

"Einmal bitte hinlegen.."

Das Bedienpersonal sah aus, als wäre es an einem Mittwoch geboren worden. Seither war es mittwochs immer müde und wollte zurück ins Bett, schon am Morgen. Nun war es ja Mittwochmorgen, ein Mittwoch im Oktober. Das Personal war müde.

"Ist das warm hier", sagte ich, "da wird man ja müde", und zog den Pullover aus.

"Den können Sie hier ablegen", sagte die Sprechstundenhilfe. "Aber es lohnt eigentlich nicht. Können Sie in der Hand halten."

"Warum lohnt das nicht?"

"Dauert nur zwei Minuten."

"Nur zwei?"

"Ja. Zwei."

"Die in der Orthopädie haben was von zehn bis fünfzehn Minuten gesagt."

"Nur zwei Minuten. Kein Problem."

"Und mit dem Kopf muss ich nicht in der Röhre?"

"Nein." Sie zeigte mir die Apparatur. "Sie bleiben mit dem Kopf draußen, nur ihr Körper verschwindet da drin. Sind Sie schon mal operiert worden?"

"Nee."

"Gut. Dann legen Sie die Knie über das Kissen hier und entspannen sich."

Die Liege fuhr automatisch nach vorn, einen halben Meter, bis ich mit dem Kopf die Maschine erreichte. Es war, als würde der Rest meines Körpers in einen überdimensionierten Verlobungsring verschwinden. Kam jetzt etwa die langersehnte Verlobung zwischen mir und der Gerätemedizin?! Wurde ich endlich mit der Technik vermählt!? Mit dem Somaton CT: SENSATION 16!

Um den Referenzpunkt festzulegen, wurde ich kurz gelasert.

"Nicht in den Laserstrahl gucken!"

Viertelstunde später, Sprechzimmer. Einer der Radiologen, ein großer Kerl und Schnellsprecher, grauer Kinnbart, hockte vor einer Batterie hochauflösender Monitore und teilte mir das vorläufige Ergebnis der CT-Untersuchung mit.

"Sie sind schon mal operiert worden?"

"Nein."

"Gut. Davon hab ich nämlich auch nichts sehen können."

Dann blickte er mir so ernst ins Gesicht, so grimmig, als hätte er einen Zentner Krebs entdeckt. Extrem bösartigen streuenden Arschlochkrebs.

"Man sieht deutliche Wölbungen an den Bandscheiben, es scheint aber noch kein Prolaps zu sein."

"Kein Prolaps?"

"Kein Bandscheibenvorfall. Ich würde sagen, das kann noch konservativ behandelt werden."

"Konservativ?"

Er stöhnte leise und schnell. "Ja. Muss nicht operiert werden. Wenn Sie Glück haben."

"Wenn ich Glück habe?"

"Ja! Wenn Sie Glück haben! Und wenn Sie mich fragen, sehen Sie aus wie ein Glückspliz!"

Er kam mir vor wie ein Pilot, der Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat im engen Luftraum zwischen den Lendenwirbeln unterwegs ist und sich dabei langsam aber sicher mit den immergleichen vorläufigen Diagnosen zu Tode langweilt. Er tippte mit dem Stift auf einen Monitor und sabbelte was von Schichtaufnahmen und Gallert-Flüssigkeit und einer dicken saftigen Apfelsine. Er zeigte mal hier hin, mal dort hin, erwähnte "unerwünschte Abnormitäten" und was weiß ich.

"Aber was letztlich bei Ihnen gemacht wird, entscheidet natürlich der Doktor..", er warf einen schnellen Blick auf mein Patientenblatt, ".. Doktor Lausch."

Als ich die Praxis verliess und nach Hause ging, fragte ich mich unterwegs, was er wohl mit der Apfelsine gemeint haben könnte und warum er nicht Orange gesagt hatte wie jedermannn sonst heutzutage. Alle sagten doch Orange statt Apfelsine, und so gut wie niemand fand noch irgendetwas astrein. So war das wohl, und ich wusste nicht, warum.


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