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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Oberitalien

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Zu den Absonderlichkeiten des Älterwerdens, zu den Dingen, an die man sich erst gewöhnen muss, wenn man älter wird, gehört die Tatsache, dass man im Laufe der Zeit zu einem Abbild seines Vaters heranreift. Dass man jetzt selbst dieser große, in Teilen unmassige weiße Körper wird, zu dem man als kleiner Bursche halb bewundernd, halb ängstlich hinaufblickte.

Und dass einem dabei im Sommerurlaub schon mal der Sack aus der Badehose guckt, ja, das gehört auch dazu.

Gardasee, Campingurlaub 1966.

Zur Mittagszeit war die Gluthitze auf dem Zeltplatz in Bardolino unerträglich. Die ganze Familie hielt Siesta, nur Mutter hatte noch mit dem Abwasch zu tun. Mein Vater, schwarzhaarig und kräftig, ruhte auf der Luftmatratze unter seinem Lieblingsbaum, er lag auf dem Rücken. Das Kofferradio dudelte San Remo-Schlager. Da sah ich es.

Etwas Sack lugte aus seiner Badehose.  Bloß ein Fitzel, eingeklemmt zwischen dem Saum der Badehose und dem Oberschenkel, wie eine verrutschte Bügelfalte – aber eine, die nicht richtig gebügelt worden war. Das fand ich ungehörig. Und es sah nicht sehr intelligent aus. Beinah.. töricht.

Vater schlief. Er schnoberte leise vor sich hin in der Mittagshitze Oberitaliens, er träumte und hatte nicht die geringste Ahnung, was da los war in seiner Buxe. Und hätte mir in diesem Moment ein Radioreporter ein Live-Mikrofon unter die Nase geschoben, 1966, Bardolino, Junger Mann, was ist denn so furchtbar verboten an diesem Anblick, ich schätze, ich hätte keine richtig gute Antwort gewusst.

Für sich genommen war es nur ein kleines Malheur, das mir da unter die Augen gekommen war – nichts besonderes. Spielkameraden war es passiert, mir selbst auch, natürlich, aber wir waren Kinder, da gehörte das dazu. Es war nicht wirklich peinlich, wenn sich ein kleiner Junge den Hodensack einklemmte. Aber ein erwachsener Mann?! Einem erwachsenen Mann hatte der Sack nicht aus der Badehose zu gucken, nicht mal eine kleine Sackfalte, es gehörte sich einfach nicht. Das war wie Finde den Fehler– und ich hatte den Fehler gefunden, auf Anhieb, fertig, aus.

Ich schämte mich so sehr für Vater, fast wäre ich zur Luftmatratze gerobbt und hätte die Badehose leicht angehoben, um der Haut Gelegenheit zu geben, in ihr Versteck zurückzuschnacken, aber das war mir dann doch zu heikel. Angenommen, er wäre wach geworden und sein Ältester macht sich gerade an seinem Skrotum zu schaffen, das hätte ihn womöglich zu irrigen Annahmen verleitet.

Hinzu kam, dass mir das Geschlechtsteil des Mannes insgesamt wie eine vorgelagerte Insel erschien, und da wollte ich nicht an Land gehen. Nicht am Gardasee. Nicht bei meinem Vater.

Apropos – was war eigentlich mit Mutter, die doch sonst überall ihre Augen hatte und eingriff, wo Not am Mann war? Unsere Blicke trafen sich bei sechsunddreissig Grad im Schatten. Etwa in der Höhe, in der jeden Abend Hunderte von nervösen Fledermäusen ihre Runden über den Zeltplatz drehten, so niedrig, dass ich fürchtete skalpiert zu werden.

Mutter saß am Campingtisch, sie machte den Abwasch, und sie lächelte, trotz der stickigen Hitze. Sie hatte alles mitgekriegt. Meine Blicke, meine Gedanken, Papas Sackfalte. Ich schaute schnell weg – so schnell ich konnte.

Ich war sechs Jahre alt, und ich war restlos bedient.


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