Wenn Kinder auf dem Schulhof etwas spielen, was man als Kind auch schon gespielt hat, freut man sich. Dass es noch Sachen gibt, die sich nicht ändern. Und dass man sofort einsteigen könnte, eine Runde mitspielen. Den Kids mal zeigen, wo der Krebs die Zangen ausschert. Wenn die einen nur ließen, verdammte Saubande.
Manchmal erfinden Kinder ein neues Spiel, das kennt man nicht. Dann bleibt man stehen und guckt eine Weile zu. "Wie heißt das Spiel?" ruft man. "Wer hat Angst vor der weißen Frau!" rufen die Kinder zurück.
Ach nee, ist kein Spiel. Ist die Lehrerin dahinten.
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Ich freue mich so sehr, dass ich eine Gänsehaut bekomme. wenn ich in den Sommerferien am großen Klauberger Bolzplatz hergehe und jede Menge Knirpse sehe, die kicken. Auch wenn es längst nicht mehr der original staubige 70er Jahre-Platz ist, auf dem das Klackern der Stollenschuhe schon von weitem zu hören war. Der Platz ist längst mit Kunstrasen überzogen, der eine Menge Begleitgeräusche schluckt. Bis auf das Geschrei. Das lässt sich nicht schlucken. Gib den Ball ab, du Penner. Attacke. Drei Ecken, ein Elfer.
Aua.
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1967 wurde ich 7 Jahre alt. In den USA brachten die Doors ihr Debut-Album auf den Markt und meine Eltern meldeten mich im Fußballverein an, beim RSV Solingen-Kohlfurth 1909. Der vereinseigene Platz, heute eine Pferdekoppel, liess sich von unserem Küchenfenster in der Hasseldelle gut beobachten. Entfernung Luftlinie: einige Kilometer. Ein fantastischer Ausblick. Es war, als erfasste man einen riesigen bewaldeten Kessel, und am tiefsten Punkt lag der Fußballplatz.
Im Zentrum des Dschungelbuchs.
Manchmal stand ich Sonntagmittags mit dem Feldstecher am Küchenfenster und guckte mir ein Spiel unserer 1. Mannschaft an, aber nur die Anfangsminuten. Dann wurde es mir zu anstrengend, das Carl Zeiss-Fernglas zu halten und den Ball auszumachen, der nur ein winziger Mückenschiss war, da ging ich lieber vor die Tür, irgendwo das eins null schießen.
Das war mir lieber.
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Der Fußballplatz in Kohlfurth, ich hab es schon mal erwähnt, war ein Unikum. Er bestand nur an den Rändern aus Rasen, in der Mitte war schwarze Asche ausgelegt. Wer dafür verantwortlich war, weiß ich nicht. Es wurde nie darüber gesprochen. Es war, wie es war: eine liebevolle Katastrophe. Ach was, es war nicht Fisch, nicht Fleisch, oder es war Fisch und Fleisch, ganz wie man will, jedenfalls war der Platz im Kohlfurther Talkessel ein verdammter Acker, gefürchtet bei den Gastmannschaften, die den ständigen Wechsel des Belags verfluchten. Konnte man an den Flügeln auf Gras seine gute Technik ausspielen, musste man sich in der holprigen Platzmitte Meter für Meter durchwurschteln. Der Ball versprang andauernd, wenn man sich nicht auskannte. Man musste den Schotter in sein Spiel miteinbeziehen. Ich hab noch heute in beiden Knien sechs oder sieben schwarze Aschekörner. Auch wenn sie mit den Jahren immer tiefer ins Fleisch versinken und schwächer werden, man sieht sie noch, und man wird sie vermutlich noch auf meinem Sterbebett sehen, wenn irgendwer die Totenhose aufschneidet und nachsieht, was zum Henker in meinen Knien los ist.
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Der RSV bot noch eine weitere Besonderheit. Zwischen Umkleidekabine und Platz galt es eine Wegstrecke von einem Kilometer zu überwinden. Lauter Felder und Rüben-Äcker, die bei Regen schnell zu Schlammwüsten mutierten. Man hatte den erbarmungswürdigen Platz noch nicht betreten, sah aber schon aus wie ein Schwein. Und wenn die umliegenden Kohlfurther Bauern im Frühjahr ihre Gülle auf selbstgebauten Dieseltraktoren ausfuhren, waren die Teams endgültig mit den Nerven am Ende.
Wir waren schon eine gefürchtete Heimmannschaft.
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Von der E- bis zur C-Jugend war ich jede Saison aufs neue Torschützenkönig, und doch kann ich mich nur an wenige Treffer explizit erinnern. Darunter diese völlig verunglückte Elfmeter in Baumberg am Rhein, wo ich mehr in den Boden trat als vor den Ball. Die entsetzten Aufschreie meiner Mitspieler im Rücken (es war ein Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die nächsthöhere Spielklasse) glotzte ich der Gurke hinterher, die feixend in Richtung Torwart holperte, es sich kurz vor der Linie anders überlegte und eine grobe Unebenheit des Platzes nutzend von einem rheinischen Erdhubbel abhob und dem verdutzten Keeper durch die fangbereiten Arme glitt:
eins null.
(Aufstieg. Auf Armen getragen. Stiefel getrunken, stinkebesoffen.)
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Einer unserer ersten Trainer hiess Becker. Ein untersetzter 60jähriger Schlosser mit Schiebermütze und riesigen Ohren. Er mochte uns alle nicht besonders, doch den dicken Luca hatte er gefressen.
"Luca, fauler Hund!" rief Becker vom Spielfeldrand aus, seine Ohren wackelten wie Haus-Schlappen. "Dir kann man ja beim Laufen die Schuhe besohlen!" Und wenn Luca neben das Tor geschossen hatte, stöhnte der Trainer nur: "Der dicke Itakker trifft nicht mal aus drei Metern einen Möbelwagen!" Und bei einem zu lasch ausgeführten Freistoß: "Luca, fester! Dein Ball kriegt ja unterwegs Junge!"
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Der RSV Kohlfurth (Rasspe Sport-Verein) war 1909 aus dem Betriebssport hervorgegangen. Die Firmenleitung von Rasspe, einem mittelständischen Hersteller von Landwirtschaftsmaschinen, hatte das Firmen-Emblem, ein Pfeifenkopf, aus dem Dampf steigt, weithin sichtbar am höchsten Schornstein des Betriebsgeländes anbringen lassen. Alteingesessene Spötter nannten den RSV Kohlfurth daher bald nur noch "Ormsnut", Solinger Platt für:
Atemnot.
Für die traditionsreichen Solinger Vereine wie die Union oder die 1. Sportvereinigung, die in schmucken Trikots aufliefen und vor Arroganz kaum aus den Stutzen kamen, waren wir die Prolls aus der Nordstadt, die Kohlfurther Juffen. Dabei war der RSV ein Arbeiterverein durch und durch, beinahe britisch in seinem trotzigen Stolz.
Dass ich im Gegensatz zu vielen meiner Mitspieler keine Schlosserlehre bei Rasspe absolvierte, sondern das Gymnasium besuchte, wurde mir erst bewusst, als unsere Klasse kurz vor der Mittleren Reife 1977 eine Betriebsbesichtigung bei Rasspe durchführte. Da standen all meine Fussball-Kameraden im Blaumann vor lauten, ölverschmierten Pressen und grüßten verschämt, während ich mir reichlich schnöselig vorkam mit meinen sauberen Händen.
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1969 zog unsere Familie zur Schillerstrasse. Ich blieb dem RSV treu, konnte aber den Fußballplatz nicht mehr sehen, wenn ich aus dem Küchenfenster guckte. Statt einem nebelverhangenden Talkessel in der Ferne, was ungefähr einem Gedicht entsprach, sah ich nun Häuser gegenüber; harte Prosa.
Immerhin fand ich in der neuen Umgebung schnell Anschluss. Zwei Nachbarjungs nahm ich sogar mit zum RSV, Pille Hilger und Wiwi Wupperbusch. Wir drei waren Fußball-Affinados, Fußball war unser Leben. Wenn wir kein Training und kein Spiel hatten, trafen wir uns nachmittags unten im Klauberg, auf dem großen staubigen Bolzplatz, und spielten bis es so finster war, dass man die eigenen Füße nicht mehr sehen konnte und in die Erde trat.
Bei schlechtem Wetter blieb nur das Kinderzimmer, wo ich meine eigene Bundesliga ausspielte. Als Tor diente der Cocktailtisch, der heute noch neben dem Bett steht: 1 Meter lang, 50 Zentimeter hoch, mit dicker Tischplatte, die perfekt als Latte diente. Am liebsten war es mir, wenn ich gegen die Latte hämmerte und der Ball dann krachend zurückprallte ins Zimmer und ich die Pille im Nachschuß volley aus der Luft versenkte, genau in den Winkel. Das gab reichlich Wiederholungen in Zeitlupe, in der späteren TV-Aufbereitung.
Vor dem Tor platzierte ich kleine Couch-Kissen, die Torwart und Abwehr darstellen sollten. Auf dem Spielfeld lagen noch mehr dieser Kissen herum, alles Gegenspieler, die ich geschickt umdribbeln musste. ("Hör das Fummeln auf, Glummi!" brüllten die Zuschauer bewundernd.) Die meisten Bälle, ich hatte ein ganzes Arsenal zur Verfügung, waren nicht größer als eine mittlere Orange.
Ich spielte auf Strümpfen und beschäftigte während der Partie (2x5 Minuten) einen Reporter in meinem Kopf, der außergewöhnlich sonor das Geschehen auf dem dunkelgrünen (!) Kinderzimmerteppich kommentierte. Bei entscheidenden Spielen, wenn es also um die Wurst ging oder den Europa-Cup, artete die Berichterstattung in meinem Kopf schon mal zum Tumult aus, aber mit Shakehands nach dem Abpfiff.
Ich war stets ein fairer Sieger.
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So errang der RSV Kohlfurth mit A. Glumm als Mittelstürmer und Spielmacher in Personalunion sowohl den deutschen als auch den europäischen Meistertitel in der Saison 1970/71, in der Saison 1971/72 und in der Saison 1972/73. Zudem wurde A. Glumm (Kohlfurth) weltweit dreimal hintereinander Torschützenkönig aller Klassen.
War es da bei all den Erfolgen verwunderlich, dass meine Passion für Fußball mehr und mehr wich und ich umsattelte und Anhänger der Popmusik wurde?
Es dauerte nicht lang, und ich stellte mit dem gleichen Fanatismus, mit dem ich meine Kinderzimmer-Bundesliga ausgespielt hatte, nun Samstag für Samstag meine eigenen Pop-Charts auf, und mein Schulheft mit den Fußball-Tabellen ging verloren. Ich würde heute ein stolzes Sümmchen, das mir jemand leihen müsste, dafür bieten, hätte ich das dicke schwarze Heft noch einmal in den Händen, voller Statistiken und Zuschauerzahlen und kurzen Spielanalysen, doch es ist verloren, wie viele Dinge meiner Kindheit.
Eigentlich ist alles verloren, sag ich niedergeschlagen. Blödsinn, meint die Gräfin. Nichts ist verloren. Im Gegenteil. Du bist durchdrungen von deiner Kindheit. Das ist dein Kapital.
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Das Heft ist nie wieder aufgetaucht, weder bei meinen Eltern im Keller noch bei uns auf dem Speicher, und damit sind die Möglichkeiten, wo es theoretisch auffindbar sein könnte, ausgereizt und total erschöpft. Ich vermute, es ist irgendwann mal achtlos entsorgt worden, wie eine x-beliebige Sozialkunde-Kladde, mit der bei einer Aufräum-Aktion keiner etwas anfangen konnte. Ich finde, so etwas dürfte nicht sein. Papiere aus der Kindheit sollten weltweit und zentral archiviert werden.
Möglicherweise müsste man für den Platz, den man dafür benötigt, eigens ein ganzes Land opfern und okkupieren, eigens für all die Kinderpapiere, nach denen man eines sentimentalen Tages sucht. Ein Land in der Größe Paraguays. Dann könnte man da anrufen und sagen, hallo Paraguay, hier ist Glumm, ich war 70/71, 71/72 und 72/73 Torschützenkönig in meiner eigenen Kinderzimmerbundesliga, da müsste es noch ein Heft geben, seid ihr so nett und sucht mir das mal raus, danke sehr.
Das wäre hilfreich.