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Spaziergänge mit struppigen Hunden sind eine gesunde Sache, sagt der Doktor, allein schon wegen der vielen Hundehaare, die man beim Gehen einatmet und die sich weiträumig ums Herz legen und es abfedern. Lebt man zudem im Bergischen Land, im fiebrigen Wupperdelta, in der Neuen Eisenzeit, wo die Wälder wieder rauschen, bevor sie fallen, dann ist das Herz mehr als gewappnet.
Oder, wie der türkische Arbeitskollege Erhan zu sagen pflegte, bevor er sich beim Ein-Euro-Job in die Kulissen verdrückte: “Erhan jetzt spazirren gehen bla-bla!” Er streckte uns die Zunge raus und blieb verschwunden für den Rest des Tages. Sehr gesund. Diese Spaziergänge.
Spazierengehen.
Ein Wort, das fatalerweise in der Kindheit an die Tugendhaftigkeit verfüttert wurde, an biedere Sonntage mit Opa und Oma, dabei ist es doch ein wildes Streunen. ein Klettern, ein Raufen im Morast! ein Brennen! ein Erobern von Landschaft! ein den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt!
voran!
Erhan erzählte mir eines Tages, hinten in den Kulissen, wie er versucht habe, sich selbst zu hypnotisieren, indem er eine halbe Stunde lang ununterbrochen auf das rote Standby-Licht seiner Stereoanlage blickte.
“Und?” fragte ich, “hypnotisiert?”
“Eingepennt. Bla-bla.”
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“Das ist nicht schön!” schnaubt die Gräfin. Na, da hat sie recht. Das ist in der Tat nicht schön, wenn man aus der Haustüre tritt und es wabert ein Geruch durch die Luft, als habe der mopsige alte Mann von gegenüber Leberwurstbrötchen gegessen und in der Folge mehrmals kräftig aufgestossen.
“Ich hab überhaupt keine Lust mehr auf Spazierengehen”, jammert sie.
“Ja ich denn?” jammere ich.
“Leberwurst”, denkt der Hund, die Nase im Wind.
Spaziergang am frühen Abend! Zur besten Sportschau-Zeit! Leichter Regen! Eine Runde über die Felder. Es riecht nach Leder und Licht, nach Erde. Nach wenig Schlaf und 1x kess durch die Zellen klimpern. Nach Hundekot am Wegesrand, dick wie Sonntagsbuchstaben. Doch der Himmel hat die Ruhe weg. Alle drei Meter bleib ich stehen und notiere etwas. Eine Idee, ein Bild, ein kleiner Satz nur.
“Was schreibst du da dauernd?”
“Drei Meter Sätze”, sag ich.
Der Wald in den Wupperbergen ist eine große dunkle Schatztruhe, unverrückbar. Viel Schiefergestein. Aber Achtung! Man kann dreißig Mal an derselben Stelle rechts abbiegen und glauben, jeden kleinen germanischen Feuerbusch zu kennen, doch biegt man aus Versehen nur einen halben Meter vorher rechts ab, tut sich gleich eine neue Welt auf. Eine andere Welt.
Die laufende Nummer 31.
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Ich entdecke: Ein kleines Blatt, das AUGENSCHEINLICH keine Lust hat, zu Boden zu fallen. Es bleibt mitten in der Luft stehen, in Augenhöhe, regungslos. “Ich bin ein Wunder”, säuselt es wie angetrunken und von einem unsichtbaren Faden gehalten. Den Trick offenbart das Gegenlicht: das kleine Laubblatt ist tot vom Baum gefallen und hat sich in einem Spinnennetz verfangen, das quer über den Weg gezimmert wurde.
“Dass der Tod so schön sein kann, so leicht”, gluckst die Gräfin.
Jäh reißt ein Windstoß das Laub fort; einer Sternschnuppe gleich saust es um mich herum und kracht mir mitten auf die Stirn, samt zerrissenem Spinnennetz. Die Gräfin lacht frei heraus. Es sind kleine LSD-Tränen.
Ich steh da wie das Sterntalermädchen.
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Wir alle sind nur da Mensch, wo wir uns fallen lassen können ohne wenn und aber, ohne Stützräder, ohne Fixseil volle Suppe in den Augenblick hinein.
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Geschlagene anderthalb Stunden sind wir auf dem alten Postweg unterwegs. Dauernd bleibt einer stehen, um sich etwas anzugucken, der andere schliesst auf und schaut es sich auch an. Wir kreisen wie Satelliten um die eigene Geschichte.
“Das ist kein Gehen, das ist relativ flottes Stehen”, übernehme ich die Deutungshoheit.
Wir verlassen die gesicherten Pfade und kraxeln die Wupperberge rauf, der Hund begeistert voran. Das ist sein Metier. Unterwegs in unwegsamen Gelände, die Nase hart am Moos, ein Trüffelschwein. Eine Bodenmaschine.
“Molli riecht wie meine alte Blockflöte früher”, beschnuppert die Gräfin das Fell des Hundes, “wenn das Mundstück nass war, voller Speichel.”
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Erinnerungen an die Kindheit waren unsere Morgengabe, vom ersten Moment an. Wenn man sich kennenlernt, spürt man instinktiv, ob man in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und ob man das gleiche braucht im Leben. Als wir uns kennenlernten, war da dieses Muttermal über ihrer Oberlippe, diese Schokoperle. Ich hatte ein Grübchen, in dem ein Muttermal Platz hatte. Das ging in Ordnung. Das passte. Es konnte losgehen.
"Eigentlich sind meine kleine Schwester und ich wie auf Saltkrokan aufgewachsen", erzählte sie. "Wir hatten einen lieben Hund, wir hatten Wildnis und einen Bach hinterm Haus. Wir hatten sogar einen Opa, der die Hände hinterm Rücken herumlief und nach Zigarre roch, genau wie im Schweden der Astrid Lindgren, aber wir hatten keine so liebe Mutter. Ich wollte immer so eine Mutter haben, wie die blonde Mutter der kleinen Skrollan. Die war so empfindsam, nicht so zack zack und immer nur praktisch wie meine Mutter."
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Als Frau Moll noch klein war, gerade dem Welpenalter entwachsen, räuberte sie oft mit Spikey, einem Schäferhundrüden. Die Nahkämpfe der beiden verliebten Rüpel endeten oft mit Zahnfleischbluten und ausgerupften Fellbüscheln, so sehr knallten sie mit den Rippen aneinander, es schepperte richtig. Mit vier war Frau Moll auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Sie strotzte vor Kraft. Wenn sie ausnahmsweise mal einen Tag lang kaum vor der Tür war, brachten sich am nächsten Morgen sämtliche Katzen der Nachbarschaft in Sicherheit.
Doch Frau Moll ist nicht mehr so beweglich, sie knickt schon mal mit den Hinterläufen ein, gerät ins Stolpern, wird vergesslich.
“Unsere alte Oma”, ruft die Gräfin verliebt.
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Der Wald, ein Körbchen voll schräger Geräusche. Eicheln gehen zu Boden, Kastanien. Eine Krähe kräht im Fliegen mit ihrem Kumpan um die Wette.“Krah-krah!”
“Wenn man im Herbst vorüberfliegende Krähen hört, ist man innerhalb Sekunden im Mittelalter”, meint sie. “Dieser Herbst ist uralt.”
“Bronzezeit”, schätze ich.
Wir stöbern in Schonungen, entdecken einen verwunschenen, illegalen Grillplatz, wir rücken dem Wald tiefer auf die Pelle: über den alten Postweg, wo uns alle anderthalb Meter ein frischer Kuhfladen auflauert.
“Wie zum Teufel kommen Kühe in den Wald?”
“Zu Fuß”, vermute ich. “Die grillen hier. Das ist ein uralter Grillplatz der Kühe.”
Auf Laub geht man weich, wie auf frischen Leichen.
Ich kann nicht anders. Mir entfährt ein “kleil!”, weil sich mein Sprachzentrum auf die Schnelle nicht entscheiden kann zwischen “Klasse!” und “Geil!”, als die Gräfin sich die rote Lederleine von Frau Moll um die Hüfte wickelt, drapiert mit okkergelbem Laub tanzt sie die Herbst-Domina, im Napoleonmantel. KLEIL! Die Gräfin, ein seltsames, ein seltenes Arrangement von Frau.
Nasses Laub glimmt tief im Forst, abseits der Pfade, der Hund buddelt im Erdreich, im Windschatten unserer Worte.
Die Gräfin nimmt sich vor, in Zukunft nicht mehr so viel und sorglos zu plappern, “ach du Schande! mein armes Notizbuch!", sondern ihre Gedanken lieber sauber ins Nichts rascheln zu lassen.
“Na schön”, sag ich. “Dann lauere ich mit dem Notizbuch künftig im Nichts.”
Geht in Ordnung. Auch gut.
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Entlang der Bahngleise im Schotter nach Gegenständen fahnden, die Passagiere aus dem Regionalzug geworfen haben, der alle zwanzig Minuten zwischen Solingen, Wuppertal, Remscheid verkehrt.
Fundsache: 3 mumifizierte dunkle Rosen im Gleisbett.
“Guck mal, eine Rose.. ist noch ein bisschen schön”, sagt die Gräfin und legt sie zurück.
Sie vermutet, es könnte sich um eine Gedenkstelle handeln.
“Vielleicht ist hier mal jemand tödlich verunglückt. Was meinst du? Vielleicht ist das eine Kultstätte.”
Kann sein. Überhaupt, es kann vieles sein. Und es ist ja auch vieles. Gewesen, vor allem. Vergangenheit überall. Solange der Mensch lebt, produziert er Vergangenheit. Und je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Vergangenheit ist in der Welt. Es ist eine mächtige Überproduktion. Man weiss schon nicht mehr wohin mit all der Vergangenheit, all den nichtigen und großen Taten, den nichtigen und großen Gedanken. Die Deponien erstrecken sich über halbe Kontinente und gammeln und stinken vor sich hin, es ist ein Maximum an FRÜHER zu beobachten, wohin man den Blick auch wirft. Abraumhalden voller verbrauchter Anekdoten und toter Erinnerungen, ein Billionenspiel der Beliebigkeit.
Wir sind unfähig, uns der Vergangenheit zu entledigen. Wir sind Messies, wir horten Geschehenes und längst Geschehenes bis hin zu frühkindlichen Traumata. Und das bloß, weil wir die Zukunft nicht kennen, aber von allen Seiten beschworen werden, sie kennen zu müssen um unser Überleben zu sichern, das Überleben der menschlichen Rasse. In Panik multiplizieren wir alle Vergangenheiten und hoffen, das Ergebnis käme in etwa an das heran, was wir Zukunft nennen, und hundert Archen würden kommen und uns retten.
Ja sicher doch.
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Ein warmer Herbstschauer pixelt vorübergehend die Gegenwart. Die Haut. Es regnet Bleistifte.
"Graphit!” ruft sie.
Und mutmaßt sofort.
“Oder meinst du, der liebe Gott gurgelt? Es riecht sogar ein bißchen nach Odol.” Sie schnuppert an ihrem Ärmel. “Hier. Riech mal.”
“Leberwurst?” frag ich vorsichtig, weil ich nicht gut rieche.
“Odol! Blödmann!”
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Pferdegetrappel in der Ferne, ein Streifen Sonne fegt heiß über unsere Köpfe, als ur-plötzliches Bügeleisen.
“Wo kommt denn die Sonne auf einmal her..?”
Ist schon wieder verschwunden.
“War nur ne Bügelvisite.”
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Plötzlich Kuddelmuddel in der Luft. Zwei Vogelschwärme geraten aneinander, kurzfristiges Aufbrausen, denn genauso schnell wie es begonnen hat, wird die Kollision für beendet erklärt, und jeder fliegt wieder seines Luftraums.
Der Waldweg verläuft schnurgerade, ist eine Weile sogar mit Kopfstein gepflastert. Ein Biker kommt uns entgegen, mit Stirnlampe und Leuchtdioden an den Knöcheln. Fesch und sportiv rumpelt er übers Pflaster, und als wir auf gleicher Höhe sind und grüßen, stösst er nur ein klägliches “Moin..!” aus, wie ein defektes Hodenkehlchen.
“Schätze, sein Skrotum ist angegriffen von allerhand Überlandfahrten”, so die Gräfin.
Wir ziehen uns lieber in den wilden abseitigen Wuopperwald zurück. Eine Buche präsentiert längst vergangene Botschaften, eingeritzt in ihr Holz.
ONLY TO MY LADY-FRIEND.
Erstaunliche Daten: 23. 3. 1976. MARCH 1966. 22. 3. 1946. (!)
“..BELLA.. EYE OF MY..”
Manche Zeichen sind tief in die Baumrinde gesunken, lassen sich kaum noch entziffern, anderes wirkt wie gestern erst eingeritzt. Es ist diese plötzliche Präsenz, die verblüfft, die Wiederentdeckung eines Evergreens.
Selbst die Sonne sucht sich ein Loch in den Wolken und schaut uns zu.
MARCH 1946. HENRY U. BELLA. (Ich folge einem Pfeil zur anderen Seite des Stamms..) HENRY AND BELLA IN THE WOOS TONIGHT! Es wurde ein D vergessen im August 1946, IN THE WOODS TONIGHT. War es ein Soldat der Alliierten, der sich am bergischen Frollein (Bea) bediente?
“Hallooo.. ihr Zweiiiii!” hallt es durch die Wupperberge, eine erregte Walddurchsage der Gräfin, die bereits den Hang hoch ist. Ich blicke den Hund an, der Hund bellt mich an: nichts wie hinterher!
Feuerahorn raschelt unter unseren Füßen und Pfoten.
Der Herbst ist die einzige Jahreszeit, wo es im Wald brennt, aber niemand muss löschen, hatte sie am Morgen gemeint, als wir loszogen. Der Herbst ist der Feuerläufer.
Die Sache ist geritzt.