
In der kleinen Kippenpause stand ich mit diesem vorwitzigen kleinen Nerd unterm Regendach, dessen Augen hinter einer viel zu großen schwarzen Feldhockeybrille verschwanden. Man wusste nie genau, was er ausheckte oder warum sonst er so frech grinste, aber er war kein übler Bursche. Mitte Zwanzig und keine Ahnung, was man mit dem restlichen Leben anstellen soll, nachdem man die ersten Schritte samt und sonders in den Sand gesetzt hat - meine Güte, sonst noch was.
Wir unterhielten uns über Rock-Musik, unsere Vorlieben, unsere Abneigungen, und als die Sprache auf mein Alter kam, und er ein bisschen rechnete, machte er große Augen.
“Moment mal.. dann hast du ja.. hast du ja die Siebziger voll miterlebt..!”
Er konnte es kaum fassen, dass da jemand LEIBHAFTIG vor ihm stand, der Led Zeppelin, den Beginn der Punkbewegung und Wir Kinder vom Bahnhof Zooüberlebt hatte - auch wenn die ganze Ära längst nicht so schräg war wie viele der Youngster glaubten. Dieser ganze Retro-Look, der unseren Alltag in Mode, Design und Musik befeuert, wird von gewaltigen Interessen gelenkt und hat in erster Linie mit Bilanzrecht zu tun. Plateau-Schuhe etwa sah man in den Siebzigerjahren eher auf Rock-Konzerten. Es gab sie auch in der Fußgängerzone und auf dem Schulhof, sicher doch, aber sie waren nicht so verbreitet wie braune Halbschuhe, die gerade in einen Hundehaufen getreten hatten.
Das nächste Rock-Konzert war schon immer der natürliche Laufsteg für die hohen Treter, hier zeigte sich die In-Crowd, hier durfte der Hipster blockübergreifend auf riesigen Silberlingen auflaufen.
Jeder, der etwas auf sich hielt, arbeitete sorgsam auf das nächste große Konzert hin, auf den nächsten Gig von Lou Reed, Laurie Anderson, von Madness und Bob Marley. Und Zappa. Natürlich.
Frank Zappa and the Mothers.
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So viele schillernd gekleidete Verrückte auf einem Haufen wie beim vom Meister persönlich abgebrochenen Konzert 1977 in der Kölner Sporthalle hab ich nie wieder irgendwo gesehen. Wo man auch hinschaute, Diven der Sonderklasse und Pan Taus mit Melone und tonnenweise Haarspray, überall Witz und Zügellosigkeit. Verkleidung als letzte Zuspitzung des Pop. Die Konzerte-Ereignisse der Siebzigerjahre waren der letzte Nachhall von Bill Haley 1958 in Berlin, als die rasende Zuschauermenge mit Knüppeln, Brettern und Stuhlbeinen bewaffnet den Sportpalast zerlegte.
"WOLLT IHR DEN TOTALEN ROCK'N ROLL!??"
Ja, das wollten sie, 1958. Und zwanzig Jahre später war das Kindchen zu bestaunen: Das Kölner Zappa-Konzert 1977 wurde abgebrochen, weil angeblich eine volle Bierflasche auf die Bühne flog. Wir standen weiter hinten im Zuschauerraum und bekamen nur einen kleinen Tumult zu sehen und dass die Band Hals über Kopf die Bühne verließ; wenig später ging das Hallenlicht an. Niemand wusste, was los war. Der Abend war zu Ende, bevor er richtig losgegangen war.
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Trotz Patti Smith, Punk und Led Zeppelin, trotz der rollenden Basslinien der Disco-Ära und was es sonst noch alles so gab in den wilden 70ern, (Bowie, Glitter-Rock, Stadion-Rock, Bohemian Rapsody, frühe Dire Straits, Noddy Holder), die prägende Kraft dieses Jahrzehnts war Zappa.
Mit seiner strikt antibürgerlichen Haltung und dem Hass auf sein Amerika, das die Welt mit Plastik überspülte, war Zappa die alles überstrahlende revolutionäre Freiheitsstatue der Popmusik - überlebensgroß, geschmacklos, dekadent, wahrheitsliebend.
Als 1981 “Bobby Brown” erschien, sein einziger echter Single-Hit, war der ganz große Zappa-Kult längst Vergangenheit.
Vier Jahre zuvor marschierten wir Abend für Abend beim Rüttgers mit der krausen Matte ein, ein Haufen verkiffter ungewaschener Jünglinge, die nicht genug bekommen konnten von Haschischrauchen, Trips werfen und Zappa-Hören.
Rüttgers wohnte als erster in der eigenen Bude, nachdem ihn sein psychopathischer Vater in einer Nacht-und Nebelaktion, die wir alle miterleben durften, rausgeworfen hatte, die Treppe runter, paar Klamotten hinterher. LASS DICH NIE MEHR BLICKEN, ARSCHLOCH! DU MACHST DEINER MUTTER NUR KUMMER! (Gut, diesen Satz haben wir alle gehört. Wir haben ihn quasi mit der Vatermilch aufgesaugt. Aber hier war er gefallen wie ein Würfel in der Nacht, und er zeigte Folgen.)
In Meigen, keine hundert Meter von den Eltern entfernt, bezog Rüttgers eine kleine Genossenschaftswohnung, die sich schnell zur lokalen Zappa-Zentrale mauserte. Rüttgers im Tross auf die Bude rücken, wo aus allen Tüten, Pfeifen und Shilums gekifft wurde, was das Zeugs hielt, zählt zu den schönsten Erinnerungen an das legendäre Jahr 1977, als die RAF in Berlin Polit-Bonzen entführte, die wir nicht kannten, von denen wir nie gehört hatten, die uns schnuppe waren - in der bergischen Diaspora wurden keine Steine geschmissen. Bei uns hieß es:
RÜTTGERS, SCHMEISS ZAPPA UND DIE MÜTTER AUF DEN PLATTENTELLER!!! UND DANN MACH GEFÄLLIGST NOCH EINEN RUND, DU PENNER!!!
Wer jemals nächtelang gemeinsam gekifft und gegrölt und gesungen hat, vergisst es nie wieder, auf alle Ewigkeit bleibt ein rührendes Gefühl der Zuneigung zurück. Man kann nicht gemeinsam die Nächte durchmachen bis zum Sonnenaufgang, ohne bedingungslos und von Grund auf zu lieben. Und Jungs mit Sechzehn oder Siebzehn lieben bedingungslos und von Grund auf, besonders sich selbst, die Kumpel und ein gemeinsames Idol.
Der prägendste Zappa-Song befindet sich auf dem Live-Album Fillmore East, The Mothers, 1971. Do you like my new car? ist eher ein Theaterstück. Getrieben von einer lässigen kleinen Straßenmelodie liefern sich zwei Kerle mit schneidigen Bühnen-Stimmen ein Wortgefecht, eine Art Talking Blues. Wir saßen im Kreis auf dem Boden, flankiert von den großen Magnat-Boxen mit dem Bullen obendrauf und waren hin und weg.
Keine andere Rock-Nummer schaffte es unsere Phantasie so sehr anzuregen wie Do you like my new car? Ein Song, der in der Mitte von einem chaotischen Instrumental-Intermezzo zerschnibbelt wird, durch das Frank Zappa die Zuhörer zwingt, wie durch einen unwegsamen gefährlichen Tunnel, um uns schließlich geläutert und erfrischt zum Ur-Groove zurückzuführen.
Do you like my new car? ist eine großformatige Comic-Show, in der sich alles um ein neues futuristisches Auto namens Fillmore dreht. Eine Big City-Limousine, die durch Hollywood kurvt und alles aus dem Weg schafft, was nicht da hingehört.
Nach dem Hören von Fillmore East waren wir regelmäßig so erledigt, als hätte man uns einen Fight über 12 Runden abverlangt. Wir schleppten uns ausgepumpt über die Ziellinie und waren für den Rest der Session versaut für jegliche andere Musik.
Zappa war der rotzfreche Gockel aus der Raucherecke, der sich über alles lustig machte und bei dem die blassen Blödmänner aus der Bibelstunde ebenso ihr Fett abbekamen wie die Mädels, die sich Clerasil ins Gesicht klatschten, weil sie es nicht besser wussten, aber zu wissen glaubten. Die Physik-Heinis, die Sport-Heinis, die Heini-Heinis, Zappa hatte für jeden Heini ein treffendes As im Ärmel.
Mit der Zeile You can tell all the girls they can kiss my heini sprach er den schroffen Siebzigern mehr aus dem Herzen als alle Saturday Night Fevers, Nevermind the Bollocks und Grandmaster Flashs zusammen.
Zappa war düster und kompliziert, er war radikal, er war boshaft und wenn er Lust hatte, war er eingängig.
Er hasste Plastik.
Das körnige Schwarzweiß-Poster, das Seine Haarigkeit Frank Zappa nackt auf dem Scheißhaus sitzend zeigt, es klebte in den Siebziger Jahren WIRKLICH auf jedem vierten WC, inklusive Steuerbehörde, Davidswache und Puff in Barcelona. Olé! Rekordwert.
Bis heute.
Als ich im Fernsehen das erste Mal einen Film der Marx-Brothers sah, war ich irritiert. Dieser beknackte durchgedrehte Kerl mit dicker Zigarre, obszönem Ziegenbart und zynisch-frischen Dada-Grinsen, war das nicht Zappa..!?? Was zum Teufel hatte Zappa in einer Komödie aus den 40er Jahren zu suchen? Ja, wie alt war der denn..??? Fortan, und bis zum Ende aller Screwball-Komödien, blieben Frank Zappa und Groucho Marx für mich ein und dieselbe Person, eine Erkenntnis, auf die ich bis heute nichts kommen lasse.
Wobei es gesagt werden muss. Mit dem gemütlichen Ablachen früherer Zeiten haben die heutigen, auf Power getrimmten Marihuanasorten nur noch wenig gemein.
Obwohl.
Moment. Gemütlich ablachen?! WIR!? Dass ich nicht lache. War es nicht 1977, als wir beim Rüttgers mit der krausen Matte einen Afghanen rauchten, der direkt aus der finstersten Fabrik des Teufels zu kommen schien? Der einem die Augen von innen verschnürte, der einem Wurfsterne und Dreizack in den Leib trieb?
Und was war mit dem sagenhaften Pfund Sensemilla, im Schrebergarten von Benzinis Opa gezüchtet und geerntet und in zwei heißen Septembernächten verbraten, dass wir alle dachten, au weia, das wird nie wieder, da bleibt was zurück im Kopf, das kann ja nicht gutgehen? Und tatsächlich, es ging nicht gut. Es blieb was zurück. Es blieb eine ganze Menge zurück. Ich danke dem Herrgott für alles, was je zurückblieb in meinem Kopf.
Danke, o Herr!
Gelacht haben wir beim Rüttgers wie im Leben vermutlich nie wieder. In der kleinen Erdgeschossbude stank es wie im Ziegenstall, wenn zwölf Jungs abends das Rollo herunterließen und sich dicht gedrängt gegenseitig Kopfschüsse aus dampfenden Shilums verpassten bis zum finalen Lachkollaps, wobei Gastgeber Rüttgers den Einpeitscher gab. Er war die Nordkurve von Frank Zappa. Er kannte sämtliche Texte in-und auswendig, und wir folgten ihm ergeben. Noch heute wundere ich mich, wie selbstverständlich mir manche Text-Passage von Zappa in den Sinn kommt, plötzlich und ohne erkennbaren Anlass, einfach nur, weil ich irgendwo hergehe und etwas in mir wird animiert zu trällern:
WELL, I WAS BORN TO HAVE ADVENTURE
SO I FOLLOWED UP THE STEPS
Meine Pubertät war ein Feuerwerk. Selbst mein Haar explodierte. Es schoss in Tausendundeine Richtung, es franste aus, verkam zu einer Ansammlung gewaltbereiter weißer Nigger, Locken wie Ausschreitungen.
Rüttgers, ältestes von vier Geschwistern, kämmte sich das dichte Kraushaar zu einer Afro-Krone mit Seitenscheitel hoch, was ich in dieser Form nur noch ein einziges Mal gesehen hab, beim Sänger von Boney M, der gar kein Sänger war, wie sich später herausstellte. Rüttgers hingegen war ein echter Shouter, er war die begnadete europäische Autokino-Stimme von Frank Zappa, wenn der Maestro daheim in Nordamerika im Bett lag, Zigarren paffte und einschlief. Obwohl, Zappa schlief nie.
Rüttgers hatte ständig Trouble mit den Nachbarn, die nachts kein Auge zutaten, es muss die Hölle gewesen sein für die armen Anwohner. Gelächter, Geschepper und Gegröle, Klospülungen, Mütter, Gekiffe die ganze Nacht.
Und Banane-Martin.
Banane-Martin war der Knaller, immer auf der Suche nach Brösel und Pillen, ein Fall von schwerem Haschischaucher. Jeden Abend, als Showdown quasi, führten Banane-Martin und Rüttgers einen Einakter auf, im bekifften Kopf.
Es entstand aus einer simplen kleinen Situation heraus, doch mit der Zeit dickte die Sache an, wie ein Schneeball, der durch den Schnee rollt und mehr und mehr Masse ansetzt bis zuletzt ein riesiger Jux übrigbleibt und alle den Lachflash bekommen und sich bepissen vor Vergnügen - dabei war alles, was wir jeden Abend zu sehen bekamen, Bauerntheater.
Den Anfang machte Rüttgers. Zugedröhnt zog er sein Brotmesser aus der Besteckschublade und wackelte von hinten auf Banane-Martin zu, der am Kopfende des Tisches saß und schon wusste, was kommt: Er duckte sich weg mit seinem ungewaschen schlotternden langen Kifferhaar. Er wusste nur zu gut, was nun folgte, doch bekifft war Banane-Martin nicht in der Lage sich zu wehren, bekifft war er hilflos, er war ein greinendes Äffchen auf der Drehorgel, und je näher Rüttgers ihm auf den Pelz rückte, das lange Messer in der Hand, von hinten, desto ärger wimmerte Banane-Martin, bis er zuletzt mit den Nerven am Ende vom Stuhl rutschte und den großen hysterischen Kiffertod starb, während Rüttgers, der Ripper mit der krausen Boney M.-Matte, ungerührt weiter auf Banane-Martin einstach, pantomimisch, dabei More trouble every day schmetternd von Zappas grandiosem Live-Album Roxy and elsewhere, während wir anderen Jungs längst den Überblick verloren hatten und alles und jeden anfeuerten im Zimmertheater: Wir drehten komplett durch, jeden Abend, und jede Vorstellung war garantiert ausverkauft, 12mal Afghanisches Bauerntheater, 12mal Kinder, bitteschön. Dankeschön.
Bitteschön.
Überm Rüttgers wohnte Holbein, ein undurchschaubarer bleicher Bursche, der versuchte LSD in Heimarbeit herzustellen.
Sein Gesicht war aschfahl bis auf die Bäckchen, die glühten fast wie auf dem Etikett von Rotkäppchen, dem Vitamintrunk, der in den Sechzigern in keinem Kinderzimmer fehlen durfte. Und nun saßen wir beim Rüttgers und genossen das Privileg, Rotbäckchen leibhaftig und bekifft unter uns zu haben, so bekifft mitunter, dass wir es mitten in der Nacht die Treppe hoch tragen mussten.
Kiffen war eigentlich nicht sein Ding. Holbein hatte, bevor er an uns geriet, keinerlei Kontakt zur Szene gehabt. Und auch an uns war er nur zufällig gekommen, er wohnte in dem Haus, in dem Rüttgers einzog. Holbein studierte Chemie in Bonn, aber man sah ihn selten zu Vorlesungen fahren, er blieb meist daheim. Wir wussten nicht, was er da oben trieb in seiner Dachwohnung, er erzählte kaum etwas. Außer dass es sich um Experimente handelte. Auch von Rüttgers, der sich doch sonst so leutselig gab, erfuhren wir in dieser Hinsicht wenig. Einmal hörten wir ihn im Treppenhaus lauthals schimpfen, DU JAGST UNS NOCH ALLE IN DIE LUFT!, worauf der bleichgesichtige Holbein seinen glänzenden Gestapo-Mantel zuknöpfte, den Gürtel festzurrte und beleidigt davonwatzte.
Dass es bei den Experimenten um LSD ging, erfuhren wir erst viel später. Holbein hatte sich auf dem Speicher eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, weil Derivate unter Lichteinwirkung verfielen, wie er mir und Pepe in einer vertraulichen Stunde anvertraute. Holbein, sonst so gehemmt, blühte richtig auf, als er von Massenformeln und Molekülen und Problemen bei der Vakuum-Herstellung sprach, und Karlos und ich glotzten ihn an wie einen Alien, wir kapierten nicht ein einziges Wort.
Holbein war eine Art LSD-Soldat, eine seltene Pflanze mit bleichem Fruchtstand. Weil er trotz mühsamer Recherche nicht an Mutterkorn herankam, unerlässlich für die Herstellung von LSD, versuchte er an eine Alternative zu gelangen, an den Samen einer Pflanze namens Morning Glory. Das klappte aber nicht. Es gab zwar Schieber, die mit LSD dealten, aber von Einzelheiten bei der Herstellung hatte niemand auch nur eine blasse Ahnung, geschweige denn hatte je einer von Morning Glory gehört.
Niemand, bis auf Betty aus Remscheid. Ausgerechnet Betty aus Remscheid, die auf Partys unbeteiligt in der Ecke zu stehen pflegte, mit Möpsen flach wie Harry-Brot. Betty meinte, Morning Glory kenn ich, logo, ist ne Teesorte, kann ich euch klarmachen, ist ein Früchtetee, wieviel braucht ihr? einen Karton? Doch als wir Holbein davon erzählten, fing er vor Wut an zu schnauben und zu zittern und stieß nur gepresst hervor, muss ich das LSD dann fünf Minuten ziehen lassen, oder was!?
Ich weiß nicht, was aus Holbein geworden ist, das Haus, in dem er und Rüttgers und ein Riesenhaufen Zappa-Platten wohnten, wurde schon 1978 abgerissen. Holbein verschwand irgendwo auf der Rheinschiene und wurde nie wieder gesehen, Rüttgers zog in die Nordstadt. Auch da trafen wir uns noch ab und zu zum Zappa-Hören, all die Cracks, Pepe, der alte Benzini, die Hansen-Brüder, Banane-Martin und Karlos und der Mitsubishi Boy und die beiden jüngeren Brüder von Rüttgers, doch es war nicht mehr das gleiche. Es war anders geworden. Die Achtziger Jahre brachen an.
Bobby Brown war fällig.