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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Die Dynastie der schönen Nachmittage

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Es wurde Frühling. Vater und ich saßen auf dem Balkon im Dachgeschoß, ließen den Blick über die Stadt schweifen, schlürften heißen Kakao und aßen Apfelkuchen. Aber ohne Sahne. Die Sahne hatte Mutter immer geschlagen, sie war nicht mehr unter uns, es war keine Sahne mehr nötig. Ohne Sahne war auch lecker. Einfach den Kuchen aus der Gefriertruhe nehmen und auftauen lassen. Außerdem hatte keiner von uns Lust, den Mixer anzuwerfen. Die ganze Arbeit, bloß für Sahne.

Wir beobachteten zwei Zitronenfalter, die sich fröhlich in der Luft balgten.

"Hörst du eigentlich auch die vielen Vögel?" fragte ich Vater.

"Welche Vögel?"

"Na, hier ist doch jede Menge Gezwitscher in der Luft. Hörst du gar nichts davon..?"

Er lauschte angestrengt, die Augen rollten hin und her. Er gab sich alle Mühe, doch es war nichts zu machen, er hörte immer schlechter. Es gab Tage, da musste ich jeden einzelnen Satz wiederholen, eine anstrengende Sache für alle Beteiligten. Hörapparate kamen ihm trotzdem nicht ins Ohr. "Die machen alles nur noch schlimmer", sagte er. Angeblich seien die Nebengeräusche überproportional laut und würden nur die ganze Kulisse zukleistern.

"Hörst du die denn.. gar nicht?"

"Die Vögel?" Er schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht einen Piep."

"Das ist aber blöd", sagte ich.

"Ja, das ist blöd", sagte Vater.

Er blickte über die Balkonbrüstung in den blauen Himmel, wo ein paar Schleierwolken vorüberzogen, im lockeren Verbund.

"Und was ist mit den Wolken?" meinte er. "Machen die auch so'n Krach?"

 

*

Vater kam zunehmend mit den Tageszeiten durcheinander. Wenn ich ihn nachmittags am Telefon erwischte - was an sich schon ein Glücksfall war, weil er das Klingeln meist überhörte - hatte er gerade ein Schläfchen gehalten und war der Auffassung, es sei früh am Morgen und er müsse die Heizung anwerfen und frühstücken. "Ich han richtig Schmeit", sagte er auf Platt, ich hab richtig Appetit.

Es dauerte, bis ich ihn auf die richtige Spur brachte.

"Es ist fünf Uhr durch, Papa.. Du hast längst zu Mittag gegessen."

"Wer?"

"Na, du."

"Ich? Zu Mittag..? Ich.. hab schon.. zu Mittag gegessen, sagst du? Um fünf Uhr früh??"

"Es ist fünf Uhr Nachmittag."

"Nachmittag..."

Während er sprach, arbeitete es ihm. Er suchte nach Anhaltspunkten, die bestätigten, was ich sagte. Nach Resten einer warmen Mahlzeit, nach Fleischfasern, die in seinem Mundraum vagabundierten, nach einem Klecks Apfelmus auf der Trainingshose. Nach Besteck vielleicht, das er aus Versehen mit ins Wohnzimmer genommen hatte, wo er nun saß und mit mir telefonierte.

"Mittagessen..", hörte ich ihn murmeln.."Nein. Ich hab heut noch nichts zu Mittag gehabt."

"Doch, bestimmt. Es ist fünf Uhr durch, und das Mittagessen kriegst du immer gegen zwölf gebracht."

"Richtig!" warf er ein.

Wir warteten. Ich wartete, ob noch was kam von ihm, Vater wartete grundsätzlich, aber daran hatte er sich gewöhnt. Gewöhnen müssen, weil das Leben jenseits der Achtzig zu einem großen Teil aus Warten besteht. Das fragliche Mittagessen hingegen setzte ihm zu.

"Das begreif ich nicht", hörte ich ihn leise mit sich selbst ringen, auf Platt natürlich, "ich begriep dat nit..", und ich ärgerte mich, ihn überhaupt gefragt zu haben, da jedes kleine Sich-nicht-erinnern-können für Demenzkranke eine Niederlage darstellt. Andererseits war er jedes Mal stolz wie Oskar, wenn er sich plötzlich erinnerte, dass der Menu-Bringdienst ja doch schon dagewesen war und welches Gericht er gebracht hatte. Was gar nicht so einfach zu merken war, weil alles gleich schmeckte, für Vaters Geschmack, "da können die ihre biligen Puffbohnen noch so sehr Prinzessböhnchen nennen."

 

*

Ich hatte angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich erst am folgenden Tag zu ihm käme und nicht heute, wie ursprünglich abgemacht.

"Ich komme morgen, Papa, dann hast du ja Geburtstag."

"Geburtstag? Ich..?"

"Ja. Morgen, du hast morgen Geburtstag."

"Was ist denn morgen?"

"Dienstag."

"Aha.. Und wann kommst du?"

"Morgen", sagte ich. "Dienstag."

"Dienss..tag..", wiederholte er so langsam, als müsse er die neue Info erst verarbeiten und mitschreiben. "Gut.. Morgen ist.. Dienstag. Aber du kommst.. heute?"

"Nee, morgen. An deinem Geburtstag."

"Ah so.. ja. Klar."

Die Telefonate häuften sich, die sich auf diese Weise in die Länge zogen, bis ich es mir abgewöhnte, Vater mit blöden Fragen in Verlegenheit zu bringen, Fragen, die mit Terminen und Uhrzeiten zu tun hatten und nur Unfrieden stifteten.

 

*

Als wir Kinder klein waren bereitete es Vater diebische Freude, sich vor uns aufzubauen wie Lehrer Lämpel im Großen Wilhelm Busch-Album und den Spruch zu bringen, von dem ich bis heute nicht weiß, woher er stammt. Ich habe recherchiert, ich habe gegoogelt, ich hab nirgends auch nur eine Spur des Verfassers gefunden. Und dass Vater ihn selbst erfunden hat, glaube ich nicht. Auch meine Geschwister sind da skeptisch.

Wer anderen in der Nase bohrt, sprach Vater, ist selbst ein Schwein.

Was er damit genau ausdrücken wollte, blieb im Dunkeln - vermutlich, dass jeder gefälligst vor der eigenen Haustür kehren solle. Aber das war ja auch nicht so wichtig. Sinnsprüche und Tellerwahrheiten bildeten die Ausnahme in der Familie. Es blieb jedem selbst überlassen, dem Leben sein Geheimnis abzuknöpfen. Es gab lediglich so etwas wie stille Übereinkünfte, auf die man sich verständigte. Etwa die Überzeugung, dass der Virus Mensch eines Tages das All erobert, und dann Gnade Gott den anderen Planeten. Bis dahin aber blieb man mit seinem Hintern am besten dort, wo man gerade war, und harrte der Dinge.

Wer anderen in der Nase bohrt, ist selbst ein Schwein..

Als Knirps sah ich jedes Mal riesige Zwitterwesen und Sauhunde vor mir, die sich gegenseitig in den Nüstern pulten, wenn Vater mit aller Inbrunst seinen Lieblingsspruch brachte.

Ein ungeheuerlicher Vorgang, und ich blickte Vater mit großen Augen an.

 

*

Seit Mutters Tod nach Weihnachten 2010 war er alleinstehender Witwer, herz- und zuckerkrank, von Asthma geplagt und zunehmend dement, in einer neunzig Quadratmeter großen Wohnung unterm Dach. Ein alter Mann, der nicht mehr viel zu tun hatte, außer warten, dass jemand aus dem Kreis der Familie zu Besuch kam. Am Ende des Lebens bleibt nur die Familie. Wehe dem, der zeitlebens geschludert hat in dieser Richtung, der ist erledigt. Der ist dreimal tot, bevor er tot ist, weil niemand mehr auf der Welt ist, der sich für dich interessiert. Und wofür ist man sonst auf der Welt. Was bleibt, wenn dich niemand mehr nach deiner Meinung fragt. Wenn sich niemand mehr erkundigt, sag mal, wie würdest du das tun, wie siehst du die Sache.

Solange Vater gesund gewesen war und Mutter noch lebte, zog er sich gern in die Stille und berührende Enge seines bis unter die Decke vollgestopften Hobbykellers zurück und bastelte die großartigsten Puppenhäuser und Kasperletheater für seine Enkelkinder, echte Zauberapparate. Vater war immer ein Mann der Tat gewesen, doch im Alter waren es ausgerechnet die Hände, die ihn, vom Gedächtnis mal abgesehen, im Stich ließen. Er konnte nicht mal mehr eine lumpige Mineralwasserflasche öffnen, ohne Zuhilfenahme einer Wasserpumpenzange. Orgelspielen ging nicht mehr, Basteln war vorbei - so blieb am Ende nur Warten, dass jemand kam und ihn besuchte.

Dass er sich selbst aufmachte, um Leute zu besuchen, war Geschichte. Sein letzter Versuch in dieser Richtung - er wollte eine alte Bekannte aufsuchen, die an der Hasseldelle wohnte, einen guten Kilometer entfernt - endete mit einem Schwächeanfall samt anschliessendem Sturz in die Hecke. Vater konnte noch froh sein, dass eine aufmerksame Autofahrerin anhielt und ihn einsammelte und wieder nach Hause brachte.

Von sieben Tagen die Woche war er nun an sieben Tagen zu Hause, es sei denn, es standen Termine beim Arzt an oder meine Schwester holte ihn ab und unternahm kleine Ausflüge mit ihm. "Ich bin ein richtiges Hausschwein geworden", beschwerte er sich. Dennoch erlaubte ich mir Montags schon mal den Gag, Vater zu fragen, was er denn übers Wochenende so alles angestellt habe.

"Oh, ich bin hübsch zu Hain use geblieben!" flötete er lakonisch.

"Schön. Dagegen ist nichts einzuwenden", entgegnete ich.

 

*

Pflegestufe 1 bedeutete: Morgens und abends kam der Pflegedienst in die Wohnung, blieb aber selten länger als zehn Minuten. Da Vater noch selbständig gehen und sich waschen konnte, sparten die Pflegekräfte bei ihm jede Minute ein, die andere Patienten nötiger hatten. Ja, sie machten ihm sogar ein schlechtes Gewissen, wenn es bei ihm mal länger dauerte, "das muss ein Bettlägriger gleich büßen."

Ich kam im Schnitt dreimal die Woche zur Schillerstraße und blieb den ganzen Nachmittag. Meine Schwester, die Ernährungslehre unterrichtete, kam Freitags und am Wochenende, ihre Tochter, Studentin, wenn sie in der Stadt war. Mein Bruder war aus Vaters Versorgung größtenteils ausgeklammert, da er als Software-Administrator in Köln arbeitete und unter der Woche kaum vor 20 Uhr zu Hause war. Hinzu kamen seine beiden Jungs im Grundschulalter, seine Frau, die als Krankenschwester auf halber Stundenzahl arbeitete, sowie Walburga und Lily, zwei französische Langfellschafe, die das Gras am Berghang hinterm Haus kurz hielten und jedem Besucher persönlich vorgestellt wurden. Mit anderen Worten, der Bruder war zeitlich ausgereizt und vieles blieb an mir hängen.

Die Wochentage, an denen ich Vater besuchte, wechselten, doch der Montag war eine feste Bank.

Wenn du von deinem Vater kommst, bist du meist aufgelockert und irgendwie.. zufrieden, so die Gräfin damals.

Natürlich gab es Tage, wo ich lieber zu Hause geblieben wäre. Wo ich knurrte, dass ich SCHON WIEDER los müsse, wo ich doch gerade erst so schön am Schreibtisch in Form gekommen war. Aber hatte ich mich einmal aufgerappelt und kam zur Schillerstraße, den treuen Hund an der Seite, war es jedes Mal in Ordnung. Ich freute mich darauf, Vater zu sehen und Zeit mit ihm zu verbringen. Darin hatte ich es mal zur Meisterschaft gebracht, das war lange Jahre mein Ding gewesen, das Verbringen und Verplempern von Zeit, doch nun war mein alter Vater der letzte, mit dem es noch halbwegs funktionierte, das Beisammensitzen und den Tag hinterm Horizont verschwinden zu sehen.

Nichts bleibt wie es ist, schon klar, doch manchmal, in Ausnahmefällen, könnte es ruhig etwas länger bleiben, wie es ist.

Hinzu kam: ich meine, was bleibt dem ältesten Sohn einer gestandenen Klempnermeister-Legende übrig, als das Leben zu verplempern, wenn es schon nicht zum Klempner gereicht hattte, rein vom phonetischen Standpunkt aus gesehen. Das Leben verklempnern hatte sich früh erledigt, wegen meiner exorbitant linken Hände. Es ist bis heute so schlimm, dass ich selbst handwerklich geprägten Begriffen wie FERTIGUNGSHALLE grundsätzlich skeptisch gegenüber stehe. Oder hier, BARRIEREFREI.

 

*

Während meine Schwester unseren alten Vater so oft wie möglich ins Auto verfrachtete, ihn ins Oberbergische karrte und irgendwo einkehrte, wo Kaffee und Kuchen gereicht wurde, leistete ich ihm zu Hause Gesellschaft. Ich war sein persönlicher Gesellschafter. Wir verdrückten warmen Apfelstrudel, tranken heißen Kakao und lasen Zeitung auf dem Balkon hoch über den Dächern der Stadt. Manchmal trugen wir ähnliche Thermohemden.

Am liebsten war mir, wenn er aus alten Zeiten erzählte. Das waren echte Highlights. So erfuhr ich, dass Opa ständig Jagd auf Ratten gemacht hatte, mit der 6mm-Pistole legte er sich auf die Lauer und schoss auf das Gelichter, das aus dem nahen Bärenloch rüberkam und im offenen Abwasserkanal nach Nahrung suchte. Bei solchen Erinnerungen schwebte ich förmlich über dem Balkon und sah mich an Vaters Lippen hängen, genauso fasziniert wie Mutter zu ihren Lebzeiten an seinen Lippen geklebt hatte.

Die kleinen Erinnerungen hatten es mir besonders angetan, Dinge, die er unbedeutend fand und eher nebenbei erwähnte. Etwa dass es bis in die Dreißigerjahre auf der Solinger Seite von Kohlfurth eine Kneipe namens "Der liebe Jüng" gab, wo es nach feuchter Pappmaché und Sägespänen duftete, wie im Saloon.

Nicht weit vom "lieben Jüng" lag das sagenumwobene Kohlfurther Strandbad an der Wupper. In meiner Phantasie besitzt es bis heute schon deshalb hohen Stellenwert, weil es seine Pforten längst geschlossen hatte, als ich 1960 zur Welt kam. Ich kenne es nur vom Hörensagen. Ein Naturbad, das von eiskaltem Bachwasser gespeist wurde und wo man mit einer 10er-Karte locker über den Sommer kam, weil die Betreiber es mit dem Eintritt nicht so genau nahmen.

Auch kleinere Familiengeheimnisse lüfteten sich an den Nachmittagen auf dem Balkon. So war mir neu, dass der Cronenberger Onkel mit der schwarzen Hand schwul gewesen war. Einmal im Jahr nahm er sich eine mehrwöchige Auszeit vom Eheleben und fuhr ins nahe Antwerpen Männer küssen, während seine Frau, Tante Christel, den Lebensmittelladen weiterführte und nach aussen hin so tat, als wäre der liebe Gatte in Kur.

Ich seh den Onkel noch bei meinen Großeltern in der Küche sitzen, mit der steifen Hand, die in einem schwarz-glänzenden Lederhandschuh steckte. Eine schwarze Hand, aus der ich Pfefferminzbonbons entgegennahm, immer einzeln, wie bei einer Taubenfütterung. Erst vierzig Jahre später verstand ich, dass es sich um eine Prothese handelte, über die ein Handschuh gestülpt war. Eine Kriegsverletzung, Erster Weltkrieg.

Er war kein unfreundlicher Mann, die schwarze Hand, während Tante Christel eher verkniffen rüberkam. Vom jahrelangen Stehen im Lebensmittelgeschäft hatte sie ein Elefantenbein, das sie mit Bandagen umwickelte, während man beim Anblick des anderen Beins dachte, hups, da kommt der Storch, weil es so dünn und knickrig geblieben war. All das sowie die Sorge um den schwulen Ehemann in Zeiten des Nationalsozialismus sorgten dafür, dass Tante Christel mit schweren Seufzern durchs Leben navigierte, eine Angewohnheit, die sie auch nach dem Krieg nicht ablegte.

 

*

Das kleine windschiefe Häuschen am Stöckerberg war vor dem Krieg ein stattliches dreigeschossiges Schieferhaus gewesen, in der Bombennacht 1944 fiel es in Schutt und Asche. Mein Großvater baute es 1946 eigenhändig wieder auf, doch weil nach dem Krieg Geld und Material knapp waren, reichte es nur noch zum einstöckigen Häuschen, in dessen Keller später die Werkstatt meines Vaters untergebracht war, der sich als Gas-und Wasserinstallateur selbständig gemacht hatte.

“Bei deinem Opa in der Küche fühlte man sich wie in einer Puppenstube”, meint die Gräfin, die Großvater zum 90. Geburtstag ein klingendes Glückwunschtelegramm überbrachte, damals jobbte sie als Eilbotin bei der Deutschen Post. “Wenn man das Häuschen betrat, erwartete man automatisch winziges Geschirr und Messerchen.”

Opa hatte ihr persönlich geöffnet, obwohl das Häuschen voller Gäste war an diesem Tag im Mai 1990. In der  Hand hielt er eine angebrochene Flasche Korn, und er liess sich nicht davon abbringen, dass sie ihm zu Ehren einen mittrinken müsse, “Depeschen ausfahren hin oder her.”

“Also musste ich mich in der Puppenstubenküche auf die Eckbank zwängen und zwischen den alten Männern ein Schnäpschen trinken. Und da erst erkannte mich dein Opa und wusste, wo er mich hinstecken sollte. Du bist doch dat Kleen vom Andreas, dröhnte er und schenkte noch einen ein. Ich muss noch fahren, protestierte ich, doch das liess er nicht gelten. Wenn die Schmiere dich anhält, schiebst du alle Schuld auf den aulen Bock aus dem kleinen windschiefen Häuschen am Stöckerberg. Dat klapptschon.”

 

*

Wenn sich die Verwandtschaft bei Opa und Oma sammelte, hockte ich als Pico unterm Küchentisch und staunte angesichts all der muffigen Alte-Tanten-Beine, die in Nylonstrümpfen steckten. Ganz schlimm roch es aus den halben Strumpfhosen, die bis knapp übers Knie reichten und ins Wabbelfleisch weiblicher Oberschenkel übergingen. Ich war fasziniert und beschämt zugleich. Ich nahm ein tiefes Näschen und kauerte untem Tisch, bis wir aufbrachen.

 

*

Mein Bruder schildert, wie er als kleiner Hosenmatz bei einer Familienfeier unterm Tisch saß und mit Autos spielte, als neben ihm plötzlich ein Gebiss zu Boden ging. Onkel Willi hatte es beim Lachen verloren. Mein Bruder hob die Prothese vom Teppich auf, "ich dachte erst, das wär Legospielzeug", und reichte sie Onkel Willi hoch, der meinem Bruder im Gegenzug ein Fünfmarkstück in die Hand drückte.

"Du bist ein lieber Jung."

 

*

An Sonntagen besuchten wir gelegentlich Tante Christel und die schwarze Hand, die in Wuppertal-Cronenberg einen Lebensmittelladen führten. Die Tante nahm mich beiseite und führte mich in den Laden, den sie extra für mich aufschloss. Das imponierte mir, auch wenn sie kein Licht machte und die Räume schummrig blieben, denn sie war geizig, die Tante, und Elektrizität teuer.

Vorbei an der Wursttheke ging es zu den Süßigkeiten. Lose Ware, die Tante Christel mit dem Schäufelchen auflud und in eine kleine weiße Papiertüte füllte, extra für mich. Darunter Pfefferminzdragees, logisch, waren ja billig, aber auch Erdbeerschaumgummi und Pastillen, die nach lila Zucker schmeckten. Was sagte man dazu?

Da sagte man danke, Tante.

 

*

Bei aller Einsamkeit, die ihm seit Mutters Tod zusetzte, sobald Menschen in seiner Nähe waren, zu denen er ein Band hatte, taute Vater auf. Wie oft saßen wir nachmittags auf dem Balkon, teilten uns die Zeitung, und wenn Vater auf ein Wort stieß, das er nicht kannte, wurde er neugierig und er erkundigte sich nach der Bedeutung. Englische Begriffe erriet er gern, auf Basis seiner Grundkenntnisse aus britischer Kriegsgefangenschaft. Bei Heart Attack etwa war er sich sofort sicher: harte Attacke!

Manches blieb ihm allerdings ein Rätsel. Etwa das Internet in seiner Gesamtheit. Zwar demonstrierte ihm mein Bruder am Laptop, was das Internet so alles kann und wofür es taugt, doch so richtig leuchtete es Vater nicht ein. Das Internet war nicht fassbar für ihn.

"Wenn du das Internet selbst ausprobieren würdest, wüsstest du ganz schnell, wie der Hase läuft", sagte ich, doch Vater winkte ab. Er hatte für sich beschlossen, das Internet für die große neumodische Erfindung zu halten, für die er zu alt war, um noch einzusteigen, damit war die Sache besiegelt. Lediglich wenn ihm ein Wort wie Google dauernd in den Schlagzeilen begegnete, wollte er mehr darüber wissen.

"Was ist das, Gogle?" 

"Gugel", verbesserte ich.

"Gugel?"

"Ja. Gugel führt dich durchs Internet, es kennt sich da gut aus. Gugel ist wie ein Schleppkahn, der dich weltweit in jeden Hafen bringt, den du suchst."

"Hoyy!" sagte Vater. "Ist das denn so groß, das Internet?"

 

*

"Dieses Bemühen Schritt zu halten in diesem ganzen täglichen Wahnsinn, das haben dein Vater und du gemein, das ist schon ein bisschen rührend", so die Gräfin. "Dieses erst dann aufwachen, wenn die Dinge längst Geschichte sind, das liegt bei euch in der Familie. Nur dein Bruder checkt die Dinge schneller. Deine Schwester auch. Also, du und dein Vater, ihr seid echte Kriechtiere. Ihr seid so langsam, da sind die meisten Leute ja im Stehen schneller."

Was mich betrifft, ich habe tatsächlich eine verlangsamte Wahrnehmung. Tiefenwirksam erst in dem Moment, wo ich allein bin und mich konzentrieren kann, wenn alle Geschwindigkeit der Welt abgeschüttelt ist und ich mich im Nachhinein ganz dem Objekt hingeben kann. Solche Leute nennt man Aufschreiber.

 

*

Anfang Juni 2013 stürzte Vater in der Küche und zog sich eine Platzwunde am Kopf zu. Was damals genau passiert war, blieb unklar, eins aber stand fest: Er hatte es hernach noch auf die Reihe gekriegt, das Blut vom Küchenboden aufzuwischen, damit weder wir Geschwister noch der morgens und abends nach dem Rechten sehende Pflegedienst Verdacht schöpfen konnte, dass er hingefallen war. Bloß nicht ins Krankenhaus war seine Devise. Bloß nichts ins Altenheim. Hauptsache in der alten Wohnung bleiben.

Eine Devise, die wir teilten.

Es gab Überlegungen, Planspiele, Vorschläge. So fragte Vater die Gräfin und mich, ob wir uns vorstellen könnten, bei ihm einzuziehen und ihn quasi im Vorbeigehen mitzuversorgen. "Ich mache doch nicht viel Arbeit", sagte er, und wie er das sagte, hatte ich dieses schummrige Gefühl im Bauch, das sich immer dann meldet, wenn Liebe zu stark zu werden droht und die Perspektive verschiebt. Wenn man zu Entscheidungen neigt, die man eines Tages eventuell bereut. Doch für drei Leute und einen Hund war Vaters Wohnung definitiv nicht geeignet, die Räume waren zu ungünstig aufgeteilt, das sah Vater letzten Endes auch ein. Niemand hätte je wirklich seine Ruhe gehabt. Nein. Tut mir leid, Papa, es geht nicht.

Auch mein Bruder und seine Frau stellten sich die Frage, ob ihre Hazienda in den Wupperbergen für eine zusätzliche Person ausreichen würde, doch das alte Haus war zu verwinkelt und die Innentreppe zu steil, es wäre für Vater gefährlich gewesen. Außerdem waren da die beiden kleinen Rabauken, beide im Grundschulalter und gestählt in endlosen Konkurrenzkämpfen und Lärmorgien.

Nein, wir machten uns die Entscheidung fürs Altenheim nicht leicht, doch die behandelnde Haus-Ärztin setzte uns irgendwann die Pistole auf die Brust. Sie könne keine Verantwortung mehr für Vater übernehmen, solange er allein zu Hause war, wir sollten uns schleunigst was einfallen lassen. Zum Glück fanden wir schnell einen Heimplatz, der zudem in der Nähe meiner Schwester lag.

 

*

Vermutlich hatte Vater in der Küche gehockt, eine Tomatenbutter mit Zwiebeln gegessen und war dabei vom Drehstuhl gerutscht und auf den Boden aufgeschlagen. Ob er dabei kurzfristig ohnmächtig gewesen war, niemand konnte es mit Bestimmtheit sagen. Irgendwann nach dem Sturz musste er sich aufgerappelt haben, um das Blut vom Linoleumboden aufzuwischen, mit Taschentüchern, die ich im Abfall gefunden hatte. Übersehen hatte er dabei nur einen kreisrunden Klecks in der Mitte der Küche, der ihn schliesslich verriet.

Ich war gegen halb vier mit dem Hund zur Schillerstraße gekommen. Wenn ich die Wohnungstür aufschloss und nachschaute, wo Vater sich aufhielt, musste ich vorsichtig zu Werke gehen, wie ein Ermittler, der erstmals den Tatort aufsucht und nicht weiß, ob der Täter sich vielleicht noch in den Räumen aufhält. In seinem einsamen Mittagsschlaf war Vater oft dermaßen tief versunken, dass er beinahe einen Herzschlag erlitt, wenn man plötzlich vor ihm stand und hallo sagte.

Hallo Papa.

"Mannn.. hast du mich erschreckt..! Bist du verrückt!? Das kann man doch nicht machen!"

Wie man es denn machen sollte, verriet er allerdings nicht.

Heikel war es, wenn er sich zum Mittagsschläfchen ins Esszimmer zurückgezogen hatte, da schlief er besonders tief und fest - man kriegte ihn einfach nicht wach. Da konnte ich beim Betreten der Wohnung noch so laut PAPA! dröhnen, ICH BIN'S! Oder gleich den Hund vorschicken, SUCH DEN ALTEN MANN! WO IST DER ALTE MANN?! Aber dann war die Gefahr groß, dass Vater wach wurde und plötzlich stand ein Riesenköter vor ihm und zog die Lefzen hoch, und er starrte mitten hinein.

Wie ich es auch versuchte, das Aufwecken blieb ein Problem. Im ersten Moment, im Auftauchen aus tieferen Traumschichten, war ich für Vater stets ein Fremder, den er nicht kommen gehört hatte, der ihn überfallen und ausrauben wollte. In Amerika, mit der Pumpgun unterm Kopfkissen, hätte er mich locker zwanzig Mal erschossen.

 

*

Vater lag unter Decken begraben auf dem Sofa, er schlief tief und fest, ein vertrauter Anblick. Nur sein Kopf war zu sehen und das wirr abstehende weiße Haar - ein Dirigent, der sich zwischen zwei Aufführungen aufs Ohr gehauen hat, um sich zu erfrischen.

Ich stand über ihm und beobachtete seinen Schlaf. Manchmal blieb ich minutenlang so stehen, still, bewegungslos, den Blick auf seinen alten geschundenen Körper gerichtet. Wie ein Herzschlag-Bussard kreiste ich über ihn und wachte über seine Herzschlagfrequenz, da man in Vaters Alter, in seinem Zustand nie ganz sicher sein konnte, ob die Wolldecke, die sich da im Rhythmus der Atemzüge hob und senkte, sich nun wirklich im Rhythmus der Atemzüge hob und senkte oder ob ich mir das ganze nur einbildete und Vaters Körper längst schon - oder unlängst - erkaltet war. Ich war wie ein Luftbild-Archäologe, der aus einem Meter Höhe Muster zu erkennen versuchte im Schädel des Ahnen. Hirnströme.

Oh, welch süße sorglose Tage dagegen, wenn ich ans Sofa trat und er laut und wild schnarchte und jäh die Augen aufriss und hellwach war!!

Ach du bist es!

 

*

Manchmal hatte ich die Nase voll. Ich hatte alles mögliche probiert, um ihn schonend wach zu bekommen, doch es war nichts zu machen, er reagierte auf nichts, bis ich kurzentschlossen an seiner Schulter rüttelte wie an einer bösen Stiefmutter.

"JAA.. BIST DU DENN..? DES WAHNSINNS..? ICH HAB MICH VIELLEICHT ERSCHROCKEN!!"

So. Jetzt war er wach. Wenigstens das.

 

*

Ich erkannte einen dunklen Fleck am Haaransatz, wie Blut - getrocknetes Blut. Ich bückte mich. Das Blut verklebte sein graues Haar. Er stöhnte leise im Schlaf. Ich ermunterte den Hund laut zu bellen, damit Vater aufwachte, doch der Hund kapierte nicht, was ich von ihm wollte, da das Bellen in diesen Räumen sonst eher untersagt war.

Ich stand vor der Schlafcouch, sagte laut "Vater!", zupfte unschlüssig an der gesteppten Decke, was natürlich nichts brachte, dafür ist der Schlaf ein zu mächtiger Altersbegleiter, da hilft es wenig, unschlüssig an der gesteppten Decke zu zupfen. Ich griff zum finalen Mittel. In der Küche hing ein Wasser-Boiler aus den Sechzigerjahren. Sobald das Wasser heiß wurde und zu kochen begann, setzte Daueralarm ein, ein Inferno, dass dem Haus fast das Dach wegflog, und tatsächlich: sofort war Vater wach, mit schreckensweit geöffneten Augen.

"WER IST.. WAS IST LOS..?!" keuchte er, aus dem Nachmittags-Traum gerissen.

"Na, das frag ich dich..", sagte ich.

"WAS??!"

Ich liess ihn erstmal zu sich kommen. Er stöhnte und schmatzte. Nach einer Weile stieß er die Decke weg, streckte die Hand nach dem Hund aus.

"Ach, da ist ja auch der Hund.. Hallo.. Molli."

Frau Moll schleckte genüsslich Vaters Hand, rauf und runter, wie einen dicken Fleisch-Lolli. Sie liebte seine milchige, nach Aprikose duftende Creme, die der Pflegdienst gern mal auftrug.

"Sag mal, Papa.. was hast du am Kopf gemacht..?"

"WAS??!"

"WAS HAST DU AM KOPF GEMACHT?"

Er saß jetzt halb auf dem Sofa, halb hing er durch und winkte verschlafen ab.

"Ach so.. ja. Weiß auch nicht, was da passiert ist.."

Er versuchte das Thema nicht weiter zu berühren, "na, Molli, wo warst du denn so lange?", doch ich nagelte ihn fest.

"Bist du hingefallen?"

"WAS?!"

"OB DU GESTÜRZT BIST! DU HAST DA EINE DICKE PLATZWUNDE AM KOPF! DA MÜSSEN WIR WAS MACHEN. DAS KÖNNEN WIR NICHT EINFACH SO LASSEN, PAPA! WAS HAST DU GEMACHT?"

Er nickte müde. Ja, ich weiß.. Da war so was. Da ist so was.. geschehen.. Unangenehme Geschichte. Scheint die Sonne..? Setzen wir uns draußen auf den Balkon? Ja?

"Sollen wir Appelkuoken auftauen..?"

Seine Augen waren rot und müde, wie die Scheinwerfer eines betagten Doppeldeckers, der den Himmel so oft abgeflogen war, dass ihm jeder noch so kleine Winkel bekannt war, jedes noch so kleine feindliche Luftschiff hatte er gesehen. Lass mich einfach in Ruhe, sagten diese Augen. Ich hab alles gesehen.

"Was ist passiert, Papa?"

Er konnte sich nicht erinnern. Ich schaute mir die blutverschmierte, verklebte Wunde aus der Nähe an. Es war nicht zu erkennen, was darunter los war. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung. Zum Glück war ihm nicht übel, er hatte auch kein Kopfweh, und schwindelig war ihm sowieso ständig, vom Zucker.

Um rekonstruieren zu können, was geschehen war, klapperte ich die Wohnung ab und fand schliesslich den kreisrunden Fleck Blut auf dem Küchenboden und die mit Blut besudelten Tücher im Abfall.

"Du bist in der Küche gestürzt", sagte ich, holte eine Schüssel warmes Wasser und einen Waschlappen. Vater versank auf dem Sofa, ein Häufchen Elend. Er blickte mich aus großen ängstlichen Peter Lorre-Augen an.

"Was machst du da..?"

"Ich versuch das Blut abzutupfen .."

"WAS?!"

"ICH VERSUCH DAS BLUT ABZUWASCHEN."

Es war aussichtslos. Das Blut war bereits eingetrocknet. Es gelang mir lediglich, die Kruste etwas aufzuweichen, worauf die Wunde wieder zu bluten begann. Es war halb sechs. Der Pflegedienst konnte jeden Moment einfliegen. Vielleicht reichte es, wenn die Pflegerin einen Blick auf Vater warf. Vielleicht auch nicht. Ich suchte die Telefonnummer des Pflegedienstes, entschied mich aber, lieber bei der Hausärztin anzurufen, deren Praxis um die Ecke lag, keine dreihundert Meter entfernt.

Wir sollten uns sofort auf die Socken machen. Wir haben bis 18 Uhr geöffnet. Ich legte auf und rief ein Taxi. Zu Fuß schaffte Vater es nicht mehr, auch keine 300 Meter.

Ich half ihm beim Anziehen, was nicht so einfach war, da er es hasste, gleich nach dem Aufwachen in eine hastige Aktion verstrickt zu werden. Der Hund spürte, dass die Situation brenzlig zu werden versprach, und dackelte die ganze Zeit hinter uns her. Er wollte nichts verpassen. Da die Gräfin Molli tags zuvor stundenlang gebürstet hatte, sah sie aus wie ein Riesenstofftier von der Kirmes, und wir mussten lachen, sals ich Vater davon erzählte.

Um zehn vor sechs war das Taxi da. Ein Taxi für eine Fahrt von 300 Metern. Da hilft nur üppig Trinkgeld, sonst hast du schnell ein Messer zwischen den Rippen.

Der Fahrer, ein mürrischer Türke, und ich nahmen Vater in die Mitte und führten ihn drei Etagen durchs Treppenhaus runter zum Wagen, wobei ich mit der freien Hand die Hundeleine halten musste, weil Frau Moll uns sonst zwischen den Beinen hin- und her gewuselt wäre. Ich kam mir vor wie ein Marionettenspieler, der Mühe hatte, die Fäden seiner Puppen auseinander zuhalten.

Natürlich wäre es einfacher gewesen, Frau Moll allein in Vaters Wohnung zu lassen, solange wir beim Arzt waren, doch leider neigte der Hund dazu, Hausgemeinschaften in Schutt und Asche zu kläffen, sobald er sich dort alleine aufhielt.

Nachdem Vater im Taxi saß, schickte ich den Wagen voraus und folgte zu Fuß mit dem Hund zur Vereinsstraße. Alles sehr umständlich. Da die behandelnde Haus-Ärztin nicht im Haus war, musste sich ein anderer Arzt aus der Gemeinschaftspraxis um Vaters Wunde kümmern. Während Vater, der sehr schwach und unkonzentriert wirkte, im Sprechzimmer auf den Doc wartete, trudelten ständig weitere Patienten ein, obwohl die sechs Uhr-Deadline längst überschritten war.

Ich hatte andere Probleme. Wohin mit dem Hund? Ich leinte Frau Moll draussen im Flur am Geländer an, sie machte es sich auf den Treppenstufen bequem, das war okay für sie. Es liess sich aber nicht vermeiden, dass Nachbarn, die in die oberen Etagen wollten oder von dort kamen, über den Hund hinweg steigen mussten, was Frau Moll auf den Tod nicht ausstehen konnte. Dann geriet sie in Stress und verlor schnell jegliche Contenance und Beisshemmung, auch wenn es bloß ein Beißen in die Luft war, eine Art Warnbeissen.

Was sollte ich tun? Den Hund mit in die Praxis nehmen verbot schon die Front der Arzthelferinnen, ein Trio blutjunger türkischer Frauen mit Kopftuch. Da konnte ich mir jegliche Diskussion sparen.

Ich teilte mich auf. Mal fand ich mich für einige Minuten im Sprechzimmer ein, wo ich Vater Gesellschaft leistete, mal war ich im Flur und kraulte den am Geländer angeleinten Hund.

Die ganze Aktion dauerte anderthalb Stunden. Irgendwann rief der Doktor mich zu sich, ein jovial auftretender Mann, leger gekleidet wie für den Everyday Award, der im Gespräch ständig zwischen Du und Sie lavierte und unentschlossen wirkte, wie er mit Vater verfahren sollte.

"Mir fehlen hier die Gerätschaften, um festzustellen, ob Ihr Vater eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Er kann sich ja nicht einmal daran erinnern, was überhaupt passiert ist. Vielleicht war er unterzuckert und ist eine Weile ohnmächtig gewesen, wer weiß."

Da Vater Diabetes hatte, war der Verdacht durchaus begründet, er bekam seit einiger Zeit Insulin gespritzt. Der Doktor tendierte dazu, Vater übers Wochenende ins Klinikum einzuweisen, zur Beobachtung, "dann sind wir auf der sicheren Seite. Wenn Sie mir jetzt natürlich versprechen, ich schlafe heut Nacht bei meinem alten Daddy, gut, dann können Sie ihn wieder mitnehmen."

"Dann machen wir das so", sagte ich, obwohl ich keine große Lust hatte, im ex-Ehebett meiner Eltern zu übernachten, aber darüber war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hauptsache, er musste nicht ins Krankenhaus, wo übers Wochenende eh keine Untersuchungen stattgefunden hätten.

Er bekam eine Tetanusspritze, die Wunde wurde gereinigt und desinfiziert. Genau in dem Moment hörte ich plötzlich lautes Gebell und Gepolter aus dem Treppenhaus.

"WEM GEHÖRT DER SCHEISS KÖTER!!?"

Mit einem unguten Gefühl stürzte ich durch die sich leerende Praxis Richtung Ausgang und stieß die Tür zum kühlen Treppenhaus auf.

"Der Hund gehört mir. Wieso?"

Frau Moll saß aufrecht auf dem untersten Treppenabsatz und hechelte gestresst, während ein Mann in meinem Alter etwas abseits im Flur stand, er war kaum zu bändigen.

"DER ALTE BOBTAIL DA WOLLTE MEINEN SOHN BEISSEN!"

Ich blickte mich um. Ich sah kein Blut, keine ausgebissenen Fleischstücke, keinen vereinzelten Zahn. Ja, da war nicht mal ein Sohn zu sehen. Da war.. eigentlich gar nichts. Ich beschloss Ruhe zu bewahren. Alles andere machte keinen Sinn.

"Das ist kein alter Bobtail", stellte ich klar. "Und wo ist denn ihr Sohn?"

"DER IST DRAUSSEN, SO EINE ANGST HAT DER GEKRIEGT! DER IST RAUSGERANNT! DER KÖTER WOLLTE MEINEN SOHN KILLEN!"

Ich fragte, was genau passiert war. Ich entschuldigte mich. Ich sagte, dass ich als Junge ebenfalls Schiss vor Hunden gehabt hätte, dass ich das gut nachvollziehen könne, dass es mir leid täte, dass der Hund niemals wirklich zubeißen würde, er würde nur in die Luft schnappen zur Warnung, wenn man über ihn hinweg steigt, etc. etc. Ich nahm allen Wind aus den Segeln. Ich hielt den Ball flach. Es war nichts passiert, und ich hatte andere Sorgen.

 

*

Während Vater mit versorgter Wunde noch in der Praxis saß, warteten Frau Moll und ich im Hausflur aufs Taxi, das uns wieder nach Hause bringen sollte. 300 Meter, fett Trinkgeld. Ich kraulte Frau Moll das Fell, um sie zu beruhigen. Ganz kleinlaut lag sie da, mit umgeklappten rosa Öhrchen.

Sie hatte nach dem Jungen geschnappt, der im Treppenhaus auf dem Weg nach unten über sie hinweg marschiert war, und ihn dabei in den Arm gekniffen. Der Vater, alarmiert von dem Geschrei, war aus der Wohnung im zweiten Stock gestürzt, direkt hinterher. Gut, ich hatte mich entschuldigt. Vater und Sohn waren nach oben gegangen, zurück in die Wohnung. Dachte ich. Bis ich ein Flüstern wahrnahm, das immer lauter, genervter wurde.

"Jetzt haben wir uns ausgesperrt, Vati.."

"..na, sauber.."

In dem Tohuwabohu hatte der Vater den Schlüssel in der Wohnung liegen lassen, und der Durchzug hatte die Tür zugeschlagen. Jetzt warteten sie auf die Tochter, die hatte einen Schlüssel. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, schließlich lag das ganze Schlamassel im Schwenkbereich meiner Schuld. Das alles wäre nicht passiert, hätte ich den Hund nicht im Flur angeleint.

Endlich kam das Taxi. Ich holte Vater aus der Praxis. Zum Glück war es derselbe Fahrer wie auf der Hinfahrt. Ich musste nicht viel erklären.


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