Morgens um halb neun, gleich nach dem Nachtdienst im Turm-Hotel und der Gepäckabfertigung für eine 40köpfige amerikanische Reisegruppe, nahm ich den Obus Richtung Freibad. Am Pfaffenberg stieg ich aus und trödelte bergab durch den Wald, ein großes weißes Hotel-Handtuch unterm Arm, Notizbuch dabei, Päckchen Tabak, die Badehose drunter. Ich sah mich schon relaxed auf der Decke liegen, Bier trinken und zwischendurch ins Wasser fallen.. – stattdessen war der Eingang verrammelt.
Öffnungszeiten in der Woche:
11-20 Uhr
Schon auf dem Waldpfad hatte ich mich über die ungewohnte Stille gewundert. Normalerweise wurde das Kindergeschrei um so lauter, je näher man dem Freibad kam, doch davon war diesmal nichts zu hören gewesen. Kein Gekreische, keine spitzen Schreie beim Nachlaufenspielen, kein Geplansche, nichts, gar nichts.
Was tun..? Sollte ich zwei Stunden am Eingang rumlungern..?! Den ganzen Weg zurücklatschen, berghoch, für nichts? Ich stand am Gitter und ließ mich vom Anblick des Schwimmerbeckens einlullen, vom teenagerblauen Schimmer des Wassers. Ich beobachtete Libellen, die über die Wasseroberfläche rotierten und Loopings zeigten, ein zackiges Zirkusgeschwader. Und dann sah ich ihn. Ein Mann im Trainingsanzug. Er marschierte auf der hinteren Liegewiese auf und ab, in den Händen eine Art überdimensionierten Frittenpieker.
Ich rüttelte am Gitter. “Halloo!? Hee!”
Er reagierte nicht.
“HALLOOO!!”
“JA..??”
“SAGEN SIE, KÖNNTEN SIE MICH REINLASSEN?”
“Ist zu!”
“WAAS?!”
“IST NOCH ZU! WIR MACHEN ERST UM ELF AUF!”
“JA , WEISS ICH, HAB DAS SCHILD GELESEN.. ABER ICH BIN EXTRA ZU FUSS RUNTERGEKOMMEN..”
Er stierte zu mir rüber, unentschlossen.
“ZU FUSS, ICH BIN EXTRA ZU FUSS..!“ wiederholte ich.
“SCHON GUT, SCHON GUT. ICH KOMME JA SCHON..”
Er ließ sich Zeit. Ich sah ihn an den Umkleidekabinen vorübertrotten, in die der Mitsubishi Boy in den frühen Siebzigern seine legendären Löcher gebohrt hatte, in perfekter Muschihöhe, in mühsamer Kleinarbeit, mit dem Handbohrer – aus Versehen aber zum größten Teil in Knabenkabinen. Ich wartete. Der Bademeister rief etwas in meine Richtung. Ich verstand nicht. WAAS!? Ich solle zu einer anderen Toreinfahrt kommen, rief er. Der um die Ecke.
In Ordnung.
Ich ging um die Ecke. Ein Gittertor schob sich automatisch auf, ein Stück nur, und dann stand er vor mir, der Bademeister – mit einer Töle, die er stramm und kurz an der Leine hielt. Wo hatte er die denn so schnell her..? Ein Boxer-Mix war das. Ein Mordsvieh. Hektor. Unter Garantie Hektor. Für solche Hunde ist kein anderer Name vorgesehen.
“Was gibt’s?”
“Können Sie mich reinlassen?”
“Wir machen erst um elf auf.”
“Schon, ja.. aber ich komme direkt vom Nachtdienst..! Ich bin vom Pfaffenberg zu Fuß runter.. den ganzen Weg. Ich dachte, ihr macht um neun auf.. Können wir nicht eine Ausnahme machen?”
Die Töle hechelte mich an. Wuppertaler SV las ich auf dem blau-roten Trainingsanzug des Bademeisters. Ein abgewetztes Teil, so aus der Nähe. Ich sagte nichts mehr. Ab jetzt war jedes Wort zu viel. In kniffligen Momenten sollte man stets dem Gegenüber das Gefühl geben, er habe das Heft in der Hand.
“Na gut, aber ins Wasser erst ab elf. Vorher ist das Schwimmen untersagt.”
“Okay! Kein Problem. Ich will mich nur was auf die Wiese legen..!”
Ich drückte ihm das Eintrittsgeld in die Hand, hinter mir schnurrte das Tor zu – drin war ich. Ganz allein, mutterseelenallein, im Schellberger Strandbad, Montag früh, August 1986, neun Uhr. Nur das Plätschern der Brunnen im Kinderbecken war zu hören und das Knistern der Stromleitungen, die sich übers ganze Gelände schwangen, von Strommast zu Strommast.
Das Gras, noch feucht von der Nacht. Völlig übermüdet breitete ich das weiße Handtuch aus, zog das T-Shirt aus und schlief auf der Stelle ein. Ein windiger Schlaf. Der Himmel bedeckte sich, ich spürte es im Traum. Unter den Strommasten sammelten sich erste Stechmücken und machten sich ausflugfertig für elf Uhr, für die erste Blut-Tombola des Tages. Einmal wurde ich jäh wach und glaubte den Bademeister schimpfen zu hören, “ja, gottverdammich! Wieso springt der nicht an?!” Kurz darauf startete ein Auto und entfernte sich knatternd den steilen Schellberg hinauf. Vielleicht fuhr der Bademeister Würstchen kaufen, dachte ich. Für den Kiosk. Für um elf.
Es dauerte keine Minute und ein paar prüfende Blicke, ob der Kerl auch wirklich weg war, schon war ich unten am Beckenrand und begab mich mit einem sportlichen Köpper ins Wasser. Keep it on the cool side! Ich machte einige Tauchgänge, schnappte nach Luft, hörte Gebell. Gebell..? Hektor!! Es dauerte keine Minute, und ich lag wieder auf meinem Handtuch in Hanglage, und schlief weiter, ominöse Träume träumend.
“He – woher kenn ich dich noch mal?!”
Die Frage schien von weit her zu kommen, gedämpft, wie durch einen Holzperlenvorhang. Ich schob die Augen auf und blinzelte. Ein Kerl mit schmuddeligem T-Shirt und Bierplauze stand direkt über mir, Jeans, ein Bier in der Hand. Geh mir aus der Wolke, knurrte ich in Gedanken. Du dicker Flegel.
“Ich kenn dich doch irgendwoher”, wiederholte er. “Woher kenn ich dich?”
Hatte der auch noch was anderes auf Lager? Ich stütze mich auf dem Ellbogen auf und guckte mir den Knaben an. Auf seiner Schläfe wuchs eine Warze, darauf ein Büschel Haar – er sah aus wie der Hexer.
“Vielleicht kennst du mich aus dem Mumms”, murmelte ich. “Die meisten Leute kennen mich aus dem Mumms..”
„Und wie heißt du?“
„Glumm.“
„Glumm? Aus dem Mumms. Ist nicht dumm!“
Er lachte und setzte sich zu mir auf die Wiese. Ein bisschen zaghaft, weil ich ihn nicht eingeladen hatte, sich hinzusetzen, ein bisschen unentschieden. Aber einen abweisenden Eindruck machte ich auch nicht. Trotz seines immensen Bauches bewegte er sich erstaunlich flink. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Es war Malzbier.
„Und du? Wer bist du?“
“Kennst du Rolf der Wolf und die Blueshunde?”
“Schon mal gehört, ja.. glaub schon.”
“Das ist meine Band.”
Den Namen kannte ich von diversen Plakaten. Rolf der Wolf und die Blueshunde. Guter Name. Mal kein englischer Scheiß.
“Dann bist du Rolf..?” vermutete ich.
“Rolf, der Wolf, genau. Sänger und Songschreiber. Willst du auch nen Schluck? Is Malzbier.”
“Danke. Lass mal.”
Dann erzählte er. Ohne Umschweife. Von Lymphdrüsenkrebs. Von der Chemotherapie. Von der Psychose. Vom Blues.
“Manchmal höre ich meine eigene Stimme im Radio“, sagte er und die Selbstgedrehte zitterte in seiner Hand. „Dann denk ich, hey – seit wann liest du Nachrichten im Radio, alter Mann?! Dann ruf ich bei nem Kumpel an, er soll WDR anmachen, ob er das auch hört. Er sagt natürlich, Quatsch, ist doch nicht deine Stimme, das bist du nicht, Bruder, Blödsinn alles, aber er kann sagen, was er will, in solchen Phasen glaube ich niemandem, dann höre ich meine Stimme im Radio.”
Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
“Wenn es ganz schlimm kommt, denke ich, ich bin Jesus und könnte das Fernsehprogramm manipulieren. Ich könnte mich überall reinmixen..”
“Hm, komisch. Das hat mir schon mal einer erzählt”, sagte ich.
Aber davon wollte er nichts hören. Das war nicht von Interesse. Er forderte den Sololauf. Da ging es nur um ihn, um Rolf, den Wolf, den Blueshund, nicht um irgendein Jesus-Gelumpe.
“Manchmal springen alle Ampeln auf rot, wenn ich auf dem Moped unterwegs bin, ich kann herfahren, wo ich will. Überall rot.”
“Oh, wie unpraktisch”, warf ich ein.
„Ja, aber überall.“
Je mehr Rolf erzählte, desto kurzatmiger sprach er. Seine Nikotinfinger glänzten im Sonnenlicht. Er duftete nach frisch gepresstem Angstschweiß. In seiner nervös nestelnden Art erinnerte er mich an die verrückten Debütanten in alten Top of the Pops-Ausgaben, die immer einen Tick zu aufgeregt waren fürs Scheinwerferlicht. Sie meinten es gut, sie hatten einen ersten Hit im Gepäck, und doch hätten sie beinah alles vermasselt. Sie waren zu aufgeregt. Auf dem Höhepunkt der Psychose sprang Rolf, der Wolf, splitternackt über die Autobahn – da nahmen sie ihn fest und steckten ihn ins Irrenhaus, wegen fortgesetzten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.
“Ich war fünfzehn Mal im Irrenhaus. Ich sag immer Irrenhaus. Hier.”
Er zeigte mir seinen Handrücken, auf dem drei Buchstaben eintätowiert waren: L.K.H. Darunter lauter kleine blaue Pünktchen. Er zählte sie ab, damit ich auch sehen konnte, dass es stimmte. Fünfzehn Stück. Niemand liess sich fünfzehn knastblaue Punkte stechen, wenn er nur zehn Mal im Landeskrankenhaus gewesen war. Logisch.
“Was willst du machen. Jetzt werd ich ambulant behandelt, ist besser. Alle vierzehn Tage krieg ich jetzt eine Depotspritze, gegen die Jesus-Euphorie. Die ist am schlimmsten. Da dreh ich voll ab.”
Er blickte mich triefäugig an.
“Wusstest du, warum Jesus so früh sterben musste, mit Siebenundzwanzig? Er hätte es nicht länger auf der Erde ausgehalten, bei all dem Ärger, er hätte gefressen und gefressen und wäre fett geworden und die Leute hätten ihn ausgelacht. Keiner wäre einem Fleischklops gefolgt.”
“Jesus ist mit Siebenundzwanzig gestorben?”
“Ja, klar. Jesus war der erste mit 27.”
„Hm. War der nicht 30 oder so?“
„Ja, das behaupten viele. Mal 30, mal 33, mal 35. Fest steht, er ist 27 nach Christus gestorben.“
Weil Rolf plötzlich so kurzatmig wurde, ließ ich das Thema fallen und erkundigte mich, wie er das mit dem Singen hinkriegte, live auf der Bühne. Ob er da auch schon mal außer Atem war.
“Nee, beim Singen hab ich nie ein Problem, live bin ich grundsätzlich voll. Der Bassist auch, der Organist sowieso, nur unser Schlagzeuger, der trinkt nicht, der ist link. Der will nach jedem Konzert bar ausbezahlt werden.”
“Die linke Sau”, stimmte ich zu.
“Die Psychose liegt in der Familie”, fuhr Rolf fort. “Außer meiner mittleren Schwester haben alle einen an der Klatsche bei uns. Auch meine Mutter. Die sowieso. Die ist der Vollhonk.”
Dann war das Malzbier alle, und die Mittagssonne putzte die letzten Wolken von der Platte. Der Schweiß floss durch Rolfs Gesicht wie nach einer spontanen Wurzelbehandlung ohne Betäubung.
“Aber mit dem Krebs ist gut. Ist besser geworden. Ist Stillstand.”
Elf Uhr dreißig. Das Freibad füllte sich. Stechmücken rieben sich den Rüssel im Erkundungsflug, Rolf, der Wolf, seinen Bauch.
“Gleich geh ich mal ins Wasser, was gegen die Wampe tun”, sagte er und klopfte aufs Fett.
Stattdessen blieb er hocken, in seiner speckigen Jeans, und rauchte.
“Mann, ich schwitze wie eine Sau. Weißt du, woher das kommt? Vom Saufen. Ich sauf zuviel. Das ist das Dilemma in meinem Kopf. Die letzten zwei Wochen war ich in Kur. Die hat mich ruiniert. Direkt gegenüber vom Kurhaus war so ein SPAR-Markt. Kennst du die Halbe-Liter-Dosen aus dem SPAR?”
“Moment.. Die weißen Dosen, wo nur BIER draufsteht – sonst nix..?”
“Genau die. Achtundsiebzig Pfennig die Büchse. Von morgens bis abends, eine nach der anderen, bis ich Hyänen gesehen hab am hellichten Tag. Ha ha! Die Kur hat mich ruiniert.”
Er rauchte Schwarzer Krauser ohne groß Pausen einzulegen. Kaum war eine Kippe ausgedrückt, drehte er die nächste.
“Hast du vielleicht mal ne Aktive?”
“Nee, ich rauch auch Tabak”, sagte ich.
“Ach so, stimmt, da liegt er ja. Schade. So zwischendurch mal, ne Aktive.. Ich bin ja nicht mehr so viel unter Leuten, seit ich wieder mit ner Frau zusammen bin, wir gehen kaum weg. Wir trinken unser Bier zu Hause. Maria hab ich beim Psychosozialen Dienst kennen gelernt, sie hat da gearbeitet. Dann hat man sie rausgeschmissen, aber sie geht immer noch jeden Tag hin und arbeitet zwei Stunden, damit sie im Herbst vielleicht wieder eingestellt wird.”
“Wie..? Kein Geld?”
“Keinen Pfennig. Sogar das Fahrgeld muss sie selbst zahlen.”
“Und das nennt sich sozialer Verein.”
“Psychosozialer Dienst”, verbesserte mich Rolf. “Ist aber egal. Ist eh alles der gleiche Schweineverein in Deutschland, wo du auch hinguckst. Die machen uns fertig. Die wollen uns nicht mehr haben. Beim Psychosozialen Dienst werden schon heimlich Bolzenschussgeräte installiert, unten im Keller.”
Er rotzte ins Gras und beobachtete mich. Dann lachte er auf.
“So, ich dreh mal weiter meine Runde, mal sehen, ob ich noch wen treffe. Machs gut.”
Am späten Nachmittag, ich brach gerade meine Zelte ab, hörte ich die Lautsprecherdurchsage vom Bademeister.
“Alle Kinder, die sich mit Müllaufsammeln eine Mark verdienen wollen, bitte am Kassenhäuschen melden.”
Es bildete sich eine ziemliche Schlange beim Bademeister. Er verteilte riesige Müll-Pieker und Handgreifer an die Kinder. Ich drehte mich noch mal um und sah zufällig Rolf, den Wolf, wie er mit einem Bier am Beckenrand saß, die käsige Haut knallrot verbrannt, als säße er im Fegefeuer. Mittendrin. In der Endlosschleife.
Ich winkte zu ihm rüber, doch er sah mich nicht.