Wir wohnen in einem Feuchtgebiet. Damit meine ich nicht den ehemaligen Botanischen Garten um die Ecke, der in den Sechzigerjahren umgesiedelt wurde, weil es hier zu nass und zu sumpfig war für manchen Baum und vieles kaputt ging, ich spreche das innerhäusige Milieu an.
Alle paar Monate ist es soweit: Die Gräfin sprüht das Badezimmer mit Schimmelentferner ein, Kacheln und Fugen werden desinfiziert, Viren vom Duschvorhang geholt, die Wände geklärt. Dagegen wäre nichts zu einzuwenden. Bisschen Hygiene, mein Gott. Wäre da nicht dieser Chlorgeruch, der die ganze Wohnung innerhalb Sekunden einnebelt. Wie betäubt sitze ich am Schreibtisch. Ich bin neun Jahre alt, heute ist Schwimmunterricht im Hallenbad Birker Straße, einem düsteren Jahrhundertwendebau. Die Badehose ist schon drunter. Sie ist eng. Es kneift am Sack.
Schulschwimmen ging mir auf die Nerven. Schulschwimmen fiel in etwa in die gleiche Kategorie wie der Besuch beim Schulzahnarzt, weil der immer was zu meckern hatte, wenn er mir ins Maul schaute, oder Oma Lesizzas Graupensuppe, die für mich ein großes Unglück darstellte, wenn ich mittags aus der Schule kam. Ihre Linsensuppe dagegen mochte ich ganz gern und ihre Reibekuchen, in herzensgutem Olivenöl gebacken und im Dutzend übereinander gestapelt, waren so ausgezeichnet, sie standen außer jeder Konkurrenz.
Mit meinem Cousin, dem eine Herzklappe fehlte und der in den frühen 70ern mehrfach vom berühmten Dr. Debakey in Texas operiert worden war, veranstaltete ich regelrechte Wettbewerbe im Reibekuchenfressen. Jedes Mal ging ich als Verlierer vom Tisch, weil mein Cousin ein großes breites Maul hatte. Er schob sich die Reibeplätzchen in den Mund wie Dragees, lutschte kurz darauf herum und schluckte sie runter. Na schön. Dafür war sein Herz kaputt. Da konnte er noch so viel fressen, am Ende stand es unentschieden, mit leichten Vorteilen für mich.
Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, ich war der letzte Junge der vierten Klasse, der immer noch nicht schwimmen konnte. Nur wegen dem dämlichen Schwimmen drohte ich in Sport kein Sehr gut zu bekommen, es sei denn, ich würde es bis zum Ende des Schuljahrs schaffen, das Freischwimmerabzeichen zu machen. Mein letztes großes Ziel in der Grundschule. Auf dem Gymnasium für Jungs, soviel stand fest, war Schwimmen kein Unterrichtsfach mehr. Wer also nach Beendigung der vierten Klasse immer noch nicht schwimmen konnte, würde es nie lernen. Der war geliefert. So wie mein Onkel Fitting. Der konnte auch nur auf dem Fußballplatz rumstehen und meckern, wenn kein Ball kam, und wenn er im Sommer ausging und eine Frau kennenlernen wollte, musste er Zaubertricks vorführen, weil, er konnte ja nicht schwimmen. Mit ans Baggerloch fahren war jedenfalls Essig. Er musste sich ständig was neues einfallen lassen, um eine Frau zu verführen. Das war mir zu anstrengend. Ich brauchte den Freischwimmer.
Wenn alle zwei Wochen Donnerstags nach der großen Pause der Reisebus vor der Grundschule Klauberg stand, der uns zum Hallenbad bringen sollte, war der Tag für mich gelaufen. Zusammengekauert saß ich in der hintersten Reihe neben Annemie Müller. Ich verachtete ihren Schwimmbeutel, ich verachtete meinen Schwimmbeutel, ich verachtete alle Schwimmbeutel der ganzen verdammten freien westlichen Welt. Die Fahrt zur Badeanstalt war kurz, dauerte nicht mal fünf Minuten. Fünf Minuten können eine ungemütlich stramme Zeitspanne sein, wenn die enge Badehose am Sack kneift und am Ende der Fahrt die Zwangseinweisung ins Wasser droht.
Da beide Unterrichtsstunden in die reguläre Öffnungszeit fielen, blieben wir Jungs in der Gemeinschaftsdusche nicht unter uns. Da standen Rentner mit durchgedrückten dünnen Beinchen, roten Köpfen und weißen fetten Bäuchen, die zuhause keine Duschmöglichkeit hatten. Mitleidlos und zornigen Waschfrauen gleich seiften sie ihre riesigen hängenden Gemächte ein, putzten und schrubbten sich mit einer Hingabe, als walkten sie Wäsche am Amazonas, während wir Picos die Köpfe senkten und verschämt dem Seifenschaum nachblickten, der in langen Kolonnen Richtung Abfluss sickerte – ein übles Gemisch aus Schamhaaren, Kolibakterien, Alterszucker und Fa.
Und dann begann der Horror.
Noch war ich schliesslich nicht im Wasser. Zum Abkühlen wechselten wir unter die eiskalte Brause, von der es in den Gemeinschaftsräumen nur eine einzige gab und wo man in der Schlange fröstelnd darauf warten musste, bis man endlich an der Reihe war, bevor es im Gänsemarsch ins Becken ging, ins kachelblaue Chlor-Inferno.
Schwimmlehrer Kaulitz, ein Stiernacken in weißen Shorts und Badelatschen, hatte eine Stimme, deren schnarrender Klang von der hohen Decke, den Balustraden und Backsteinmauern der alten Schwimmhalle zurückgeworfen wurde. Und dann waren da die Jauchzer der Mitschüler, die Freude am Schwimmen hatten, die gut Butterfly und Kraulen und Rückenschwimmen konnten, die mich anrempelten und zur Seite stießen, wenn ich im Weg stand - mich, die Nummer 1 in allen Sportarten außer Schwimmen, die Nummer 1, die in sich gekehrt und bibbernd den Ausgang im Blick behielt, den Exit.
Zur Vorbereitung auf den Freischwimmer galt es eine Viertelstunde im Tiefen zu absolvieren, im Schwimmerbereich, immer in Nähe des Beckenrands, wo Schwimmlehrer Kaulitz zu Fuß unterwegs war. Er führte eine Rettungsstange mit sich, an deren Ende ein korbgroßer Metallring befestigt war, der im Wasser vor einem her trieb, stets in Griffweite, falls man abzusaufen drohte. Ich fühlte mich wie eine Kaulquappe, mit dem Kaulitz seine kleinen Späße trieb, jederzeit konnte er mich an Land holen und in den Eimer geben, zu den anderen Kaulquappen. Eine Viertelstunde schwimmen bedeutete für mich eine Viertelstunde nicht abzusaufen. Ein Riesenjob. Permanent schluckte ich Chlorwasser, Kopf hoch, Junge! schnarrte Kaulitz, ich hatte Chlor in den Augen.
Es gibt Gerüche, die einen an die schönsten Momente der Kindheit erinnern. Wenn ich Brombeeren im Sommerregen pflücke, bin ich glücklich. Ich liege als junger Kaiser von Konstantinopel auf dem Kanapee, werde von Brombeeramazonen verführt und wünsche mir Brombeerpflücken als Klingelton. Doch wehe, von irgendwoher steigt mir Chlor in die Nase, dann ist knallhart Kindheit angesagt in der Badeanstalt. In der Badeanstalt machte ich mich so klein und unauffällig wie möglich. Nach einer Weile gehörte ich nicht einmal mehr zur Kaste der bibbernden Kinder, die in der Ecke standen und erbärmlich froren, die Lippen blau wie Tinte – ich war einfach nicht mehr da. Nicht mehr vorhanden. Ich war entmaterialisiert. Hätte es eine Liste gegeben, in der man als Viertklässler seine Anwesenheit dokumentieren musste, ich wäre darauf nicht aufgetaucht. Schulschwimmen war für mich, als wachte ich alle zwei Wochen im falschen Erdzeitalter auf, wo sich Amphibien gerade erst entwickelten und ich als Gottes früher Versuchsfrosch zu Wasser gelassen wurde, währenddessen Gott in weiß gekleidet und herrisch schnarrend am Beckenrand entlangspazierte und mit unverschämt trockenem Fuß in sein verdammtes Gottnotizbuch kritzelte, was alles falsch lief. Beim kleinen Glummi.
Meine unkoordinierten Versuche, mich so lange über Wasser zu halten, bis ich endlich zur Freischwimmerprüfung zugelassen wurde, dauerten bis zum Ende der vierten Klasse, da bestand ich die Prüfung, und wo ich schon mal dabei war, packte ich vierzehn Tage später gleich den Fahrtenschwimmer drauf: 30 Minuten nicht untergehen, Sprung vom Einer, bisschen tauchen - geschafft. Ich hatte den begehrten Freien-Fahrten, das war’s für mich mit der Schwimmerkarriere - fertig, aus.
Rückenschwimmen und Kraulen kann ich bis heute nicht. Die Arme ins Wasser schlagen und einige Längen tun, als wäre ich ein begnadeter Butterflyer, das geht in Ordnung, mehr aber auch nicht. Ich bin bis heute neidisch auf all die Burschen, die im Sommer lässig und souverän im Freistil das Mittelmeer durchpflügen. Ich kann nur langweilig Brustschwimmen, nicht mal eine Arschbombe kriege ich gebacken ohne Schmauchspuren in der Bikinizone zu hinterlassen - und zwar in der Bikinizone von anderen Männern! Zudem sorgt eine ausgewachsene Pisshemmung unter Wasser dafür, so dass ich nicht mal das verdammte Becken vollsicken kann. Es ist ein Kreuz mit dem Schwimmen, und es stinkt mächtig nach Chlor.