Sobald der Rummel seine Fahrgeschäfte auf dem großen Platz hinter der Klingenhalle aufbaute, kamen wir aus allen Ecken der Stadt angekrochen. Besonders Blue Hawaii hatte es uns angetan. Gefahren bin ich Blue Hawaii so gut wie nie, aber das Ding war auf jeder Kirmes Anlaufstelle No. 1, wenn es um Mädchen ging. Alle wussten: Mädchen trifft man am Blue Hawaii. Das war der place to be. Da stand man Stunde um Stunde rum und wartete, dass etwas passierte.
Irgendwas mit Mädchen.
Sie war klein und kompakt und hatte blondes Haar, das ihr wie ein Helm auf dem Kopf lag. Ein pudriger weißer Film von Schminke lag auf ihrem Gesicht, wie der Zucker auf einem Streifen Wrigleys-Kaugummi, den man frisch aus der Packung holte. Sie trug knackig-enge Jeans und achtete streng auf ihr Äußeres, gleichzeitig strahlte sie etwas mildes und nachsichtiges aus. Darauf stand ich total. Ihre Augen blitzten grüngrau, echte Katzenwelten, darüber diese langen Lider, wie Markisen eines Pelzhändlers.
Ich wusste nie, wie ich sie ansprechen sollte. Es war auch nicht gerade leicht, sich den Mädels überhaupt zu nähern. Wir Jungs standen in der einen Ecke des Fahrgeschäfts, der Pulk der Mädels auf der gegenüberliegenden Seite, dazwischen rotierten die Gondeln, von Motoren, Riemen und dem dröhnenden Glitter-Rock der Glitter Band angetrieben, Rock’n Roll. Part One. Die mitreisenden Schausteller standen gegen den Fahrtwind gelehnt auf der rotierenden Drehscheibe, aufrecht und stolz wie Stehruderer auf venezianischen Gondeln. Die Haare geföhnt, hielten sie sich an den Rückenlehnen der Sitze fest. Aber sie kriegten nie ein Mädchen ab. Die Mädchen gehörten uns, den einheimischen Jungs. Die Mitreisenden durften ein bißchen aufschneiden, sie durften auf dicke Hose machen, dagegen hatte niemand etwas einzuwenden, weil alle wussten: spätestens nach anderthalb Wochen hiess es das Fahrgeschäft abbauen, und weiter ging’s Richtung Gelsenkirchen. Wir dagegen waren noch in der Stadt, wenn die Kirmes längst weitergezogen war, wir hatten es in der Hand, die Sache mit den Mädchen. Wir guckten, wie es weiterging.
Wenn ich mich nur getraut hätte.
Sie hatte keinen Freund, das stand mal fest. Ich sah sie stets mit anderes Mädels über die Kirmes ziehen, zum Auto Scooter, zum Kentucky Derby, zur Spinning Racer Achterbahn und zum Stand mit den roten Zuckeräpfeln, nie mit einem Kerl. Und selbst unter ihren Freundinnen schien sie eher für sich zu sein. Eine hübsche kleine Einzelgängerin. Dagegen waren andere Mädchen bloße Staffage. Jedenfalls für meine Augen. Karlos hatte eine andere Puppe im Blick, er beachtete meinen Schwarm überhaupt nicht. Er nannte sie nur die kleine Katze.
Wenn mein Blick sie traf, schaute sie schnell woanders hin, während zwischen uns die Gondeln vorübersausten, in ständiger Kurvenlage und so laut und rumpelnd, dass einem der Hintern flatterte. Doch wenn sie sich ein Herz nahm und endlich mal zurückblickte, wenn sie sich endlich mal traute, dann fixierte sie mich regelrecht. Und mir wurde mulmig. Ihre Katzenaugen hatten etwas kühles, gleichzeitig höchst inniges. Sie war ein Rätsel. Sie war hypnotisch.
Ich träumte von ihr.
Von ihrer Stupsnase und dem Kragen ihrer Jeansjacke, den sie stets hochgeschlagen trug, wie ein kleines Postergirl. Ich kannte ihren Bruder, er war so alt wie ich, ein Gitarrist, der später bei Fehlfarben einstieg. Mit der familieneigenen Stupsnase.
Jahre später sah ich sie wieder. Sie lächelte genauso schüchtern wie früher und hatte ein Kaugummi in Arbeit. Sie war immer noch kompakt wie ein Block Wrigleys, sie roch nach Minze und frisch gewaschener Jeansjacke, der Kragen war hochgeschlagen, da war die Stupsnase. Es war irgendwie perfekt. Ich wollte sie ansprechen, nach all den Jahren, warum nicht, meine Güte, wir waren keine Kinder mehr. Sie stand nicht mal einen Meter entfernt an der Fußgängerampel, doch ich liess es sein. Es hätte keinen Sinn gemacht. Es war zu spät. Jetzt konnte es auch bleiben, wie es ist.
Sie lächelte, und blickte schnell weg.