Bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gliedert sich manches neu. Die Kameras stehen in einem weiteren Winkel, die Dialoge sind verweht, die Kostüme ein Witz, und du erkennst:
Man war eigentlich ein ganz anderer.
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Ich war Mitte zwanzig, als ich eine Weile in den Schuhen des toten Nachbarsjungen herumlief. Er war drei Jahre jünger gewesen als ich, als er ums Leben kam, ein komischer Kauz, der schon als Teenager ständig mit einer Pfeife im Mund herumspazierte, aber nicht auf die widerspenstige Art eines Hucklebery Finn oder übermütig wie Popeye, der Seemann, sondern wie jemand, der mit dem Rechenschieber ans Leben herangeht und schon mit achtzehn weiss, wie das Leben ist.
Ein ruhiger Vertreter, und plötzlich war er tot.
Die Familie wohnte ein Stockwerk unter uns. Ich konnte nicht viel mit ihm anfangen, er mit mir auch nicht, er war ein verschlossener Bursche mit wenig Kontakt zur Umwelt. Er studierte Maschinenbau und jobbte in den Semesterferien in der Werkzeugfabrik, wo sein Vater im Personalbüro Filtercigaretten rauchte. HB. Der Vater war Kettenraucher.
Es passierte an einem Freitagmittag, beim Großreinemachen vorm Wochenende. Es wäre sein letzter Tag im Betrieb gewesen, (es war sein letzter Tag), bevor das neue Semester losging. Der Nachbarsjunge geriet in eine hydraulische Maschine und wurde enthauptet. Er war auf der Stelle tot. Eine Woche nach der Beerdigung ließ mir seine Mutter ungefragt ein Paar Lederschuhe hochkommen, das ihr Sohn am Unglückstag getragen hatte. Es war noch wie neu, es war kaum getragen. Der Nachbarsjunge war einen halben Kopf kleiner gewesen als ich, doch seine Schuhgröße war die gleiche, 44.
Die Geschichte spielt im strengen Winter 1985, als mir gleich zwei Paar Schuhe hintereinander kaputt gegangen waren. Mir gingen dauernd die Schuhe kaputt, aber nicht unbedingt zwei Paar hintereinander, das war schon wie ein Affront. Was Schuhe anbelangt, sie müssen sich ihren Platz an meinem Fuß erst erkämpfen. Die Schuhe müssen robust sein, sie müssen Widerstand leisten gegen den Fuß, der sich dagegen auflehnt, verhüllt zu werden.
In meinen Jugendtagen war es dauernd der dicke Zeh, der sich wie ein Monster durchs Material bohrte und täglich größer werdende Löcher hinterließ, ich lief oft in Pennerschuhen umher, weil sie so schnell kaputt gingen und ich keine Lust hatte, mein Geld für neue Schuhe auszugeben, die nicht lange hielten.
Das war die Lage der Dinge, als mir die Latschen vom toten Nachbarsjungen in die Hände fielen, ich lief bis zum Frühjahr darin herum. Sie sahen plump aus. Es waren keine schönen Schuhe. Es mangelte ihnen an Chic, an Klasse. Es waren braune Halbschuhe. Brown shoes don’t make it, hatte uns Frank Zappa schon gewarnt. Nein, ich selbst hätte mir die Schuhe niemals gekauft, unter keinen Umständen, es fehlte ihnen an Charme und sie brachten mir kein Glück, doch die Mutter des toten Jungen hatte es gut gemeint. Sie wusste um meinen immensen Verschleiss von Strassenschuhen, warum sollte ich dieses fast noch brandneue Paar ihres verstorbenen ältesten Sohnes nicht tragen. So machte es wenigstens noch etwas Sinn, in ihren Augen.
Ich nahm die Schuhe an, ich liess sie von meinen Füßen bearbeiten, aber ich hatte andere Dinge im Kopf. Lana war auf und davon und ich hinterher, in Schuhen, die keinem gefielen, die einem Toten gehörten. Ich fühlte mich unwohl in ihnen, aber ich wollte die Mutter des toten Nachbarjungen nicht enttäuschen. Sie hatte mein Wort, dass ich die Schuhe tragen würde, und selbst wenn ich ihr das Wort nicht gegeben hatte, was sein kann, ich weiss es nicht mehr, so fühlte ich mich doch daran gebunden.
Als der Winter zu Ende ging und das Frühjahr kam, brach die Sohle. Ich kaufte mir die teursten Turnschuhe, die ich mir leisten konnte, von adidas, mit weinroten Querstreifen.
Für den sportiven Winzer.