3. Januar '87
Samstag. Wir haben drei Öfen in unserer gemeinsamen Bude. In der Wohnküche einen Dassel-Dauerbrenner, ein gusseisernes Mordsding mit komplett verkohltem Sichtfenster, je einen kleineren Ofen in meinem und in Karlos' Zimmer. Mein Ofen ist nur in Betrieb, wenn die Temperaturen unter null sinken und ich den ganzen Tag im Bett bleibe und ein Buch lese mit einem Geschmack im Maul, als würde ich mich durch eine Aktenordnerwand rauchen, Ordner für Ordner, Seite für Seite - ich schätze, das kommt von der Ofenluft.
Ich guck sowieso lieber Filme. Bei Romanen muss man sich zu viele Namen merken und ständig kommen neue hinzu und dann muss man zurückblättern und nachsehen, welcher Name gehört denn jetzt zu welcher Figur, verdammt noch mal. Im Film ist das besser. Man merkt sich anfangs ein Gesicht, das verfolgt man einfach für die nächsten neunzig Minuten, gut ist. Ich glaub, ich fände Bücher mit einem Gesicht am Anfang besser als mit vielen russischen Namen. Ich kann mir einfach keine Namen merken. Weder da draussen im Leben, noch im Film. Ich mein im Buch.
Gedichte haben in der Regel keine Namen. Gedichte kann man gut lesen.
Gestern hat der Ofen in meinem Zimmer die ganze Nacht gebrannt, ohne dass ein Fenster geöffnet war. Ich liege im Bett und höre in der Finsternis die Briketts rutschen und das Koks knispeln wie hungrige kleine Schlangen und mir fällt diese Zeitungsnotiz ein: Vor ein paar Tagen ist im benachbarten Wuppertal ein Rentner-Ehepaar an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben, weil die Öfen in ihrer Wohnung über Nacht an waren und alle Fenster geschlossen.
Ich lieg da und krieg es mit der Angst zu tun. Ersticken, was ein läppischer Tod. Fast schon ein Lapsus. Schön auf der höchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands stehen, der Müngstener Brücke, die Solingen und Remscheid miteinander verbindet, und 110 Meter in die Tiefe segeln und beim Aufprall noch cool das Dach eines Andenkenstandes durchschlagen und die Stützpfeiler mitreissen, das geht in Ordnung. Das hat was. Aber ersticken??
Dennoch riskiere ich lieber mein Leben als mal eben aufzustehen und das Fenster zu öffnen. Ein bißchen Sauerstoff würde ja schon reichen, das Fenster auf kipp. Doch ich bin zu träge. Bleib einfach liegen in dieser Nacht und warte ab, ob ich draufgehe.
Und lausche dem Ticken des Weckers. Der Arbeit eines Weckers lässt sich bei absoluter Stille auf zweierlei Art lauschen. Wenn man nicht gut drauf ist und Angst hat zu ersticken, klingt das Ticken, als liefe mit jeder Sekunde weitere kostbare Lebenszeit ab, die man vergeudet mit Depression und Missmut.
Fühlt man sich hingegen wohl und entspannt in der Nacht ist das Ticken des Sekundenzeigers die wunderbare Begleitmusik der Gegenwart, in der man versinkt, positiv und ruhig.