Hinterm Busbahnhof im entlegenen Stadtteil Aufderhöhe stand ein runtergekommenes und relativ großes altes Fachwerkhaus, das der Stadt gehörte und von einer Handvoll Freaks und Hipstern der Aktion Wohnungsnot besetzt war. Damit jeder Bescheid wusste, der dieses Haus passierte, wehten Banner und Bettlaken aus den Fenstern: Dieses Haus ist besetzt. Es gab zwar weitere besetzte Häuser im Stadtgebiet, doch die wurden allesamt schnell geräumt, bis auf den runtergekommenen Bums am Aufderhöher Busbahnhof. Der blieb in Hipsterhand. Es sah uselig aus.
Und mir war das Dope ausgegangen. Ich war jetzt nicht der ganz große Kiffer, aber ich musste immer was im Haus haben, sonst wurde ich unruhig. So war eine Purpfeife nach dem Mittagessen Pflicht. Erst eine Pflichtpfeife Haschisch rundete das Mahl ab, das ich bei meinen Eltern gegenüber einnahm. Ein Pfeifchen war mein Nachtisch, THC war mein Obst. Genug gequatscht.
Ich lief am Nachmittag unschlüssig durch die Stadt und begegnete Olli Paffrath, der auf dem Weg nach Australien war. Er wollte auswandern. Er wollte was von der Welt sehen. Solingen ist eine Scheißstadt, sagte er,bis auf die Leute, die hier leben, auf die lasse ich nichts kommen. Das Visum hatte er bereits in der Tasche, und da auch sein Appartement in der Nordstadt schon aufgelöst war, der Abflug aber noch auf sich warten ließ, wohnte er auf Vermittlung eines Freundes für ein paar Tage im besetzten Haus.
“Meinst du, von den Jungs da hat einer was Brösel auf der Tasche?” fragte ich ihn.
"Na, schätze schon", meinte Paffrath, "die haben doch sonst nichts zu tun", und wir setzten uns in den Oberleitungsbus der Linie 693 und rumpelten Richtung Aufderhöhe.
Paffrath war kein Kiffer, er war durchgeknallt aus Überzeugung. Er zählte zu den umtriebigen Typen, die das Leben vital missbrauchten, die ständig was am Start hatten und sich mit fliegenden Fahnen bewegten, und immer ging etwas daneben. Sein größter Traum: einmal ins Weltall fliegen und etwas auf die Erde fallen lassen. Was denn? fragten ihn alle, was fallen lassen? Aber er hielt sich bedeckt. Man fragte sich, ob Auswandern das Richtige war für ihn. Er war und blieb ein Spinner und ein Unglücksvogel.
Ich erinnere mich an eine Situation im Mumms, wo ich mit dem ähnlich gelagerten, aber cleveren Benzini und anderen Jungs zusammenstand. Benzini schilderte temperamentvoll, wie er als junger Bursche in den Gassen von Pamplona mit den Stieren gelaufen und dabei fast zu Fall gekommen war. Ich spürte den Speichel von dem Ungeheuer schon im Nacken.. Das begeisterte Paffrath so sehr, dass er es sofort nachspielen musste. Er war wie ein großes Kind, wenn er besoffen war. Mit den Zeigefingern setzte er sich zwei Hörner auf, scharrte mit den Hufen und stürzte sich gebückt von einem Podest runter Richtung Tresen, wo wir ihn erwarteten. Darauf vertrauend, dass wir ihn auffangen würden, gab er Vollgas, doch wir spritzten alle auseinander und bildeten eine Gasse, an deren Ende Paffrath mit einem trockenen Gong! gegen den Tresen knallte, mit dem Schädel zuerst.
Olé! machten wir.
Immerhin. Daneben gegangen war die Aktion nicht. Perspektivisch gesehen jetzt.
Paffrath hatte einen suchenden Gang, wie jemand, der nie so genau wusste, wohin die Reise ging. Er drehte sich quasi jeden Morgen von neuem in den Tag hinein, wie ein türkischer Öl-Ringer in den nächsten Gegner. Aber er war unverwüstlich. Ein Loser auf der Siegerstrasse. Ein Sieger unter Losern. Ich bin ein Paffrath, pflegte er zu sagen. Ich komm jetzt.
Während der Busfahrt nach Aufderhöhe versorgte er mich mit einer Auswahl seiner bisherigen Reisen. Wie er im Urlaub auf Sri Lanka einen Reitelefanten im Fluss waschen durfte, obwohl das Touristen streng untersagt war. Und wie abschätzig Wale Menschen anguckten beim Whale Watching in Kanada, das sah aus, als hielten die uns alle für total plemplem, wenn wir vor Freude juchzen, nur weil ein dicker Fisch aus dem Wassser auftaucht.
"Was machst du in Australien?" fragte ich ihn. "Wovon willst du leben?"
“Keine Ahnung. Zur Not wässere ich den Pennern ihr verdammtes Outback. Und wenn das nicht klappt, arbeite ich wieder als Barkeeper. Oder als Dachdecker. Werden überall gesucht, Roof Specialists."
Sein vorübergehender Unterschlupf im besetzten Haus war von geradezu alttestamentarischer Kargheit. Als Bett diente ihm ein Holzpodest, auf dem ein paar versiffte Wolldecken auslagen. In der Zimmerecke stapelten sich ausrangierte Dielenbretter, die sicher einmal ausgelegt werden sollten, im Laufe der Zeit aber mürbes Holz geworden waren und nun vor sich hinmoderten. Höhepunkt der Bruchbude: ein kaputter Regenschirm, ein Kunstobjekt, das von der Decke hing und nur noch aus losen Streben und längst vergangenen Regenfällen bestand. Und dann war da noch der Gestank von herumstreunenden Katzen, der das ganze Haus dominierte, ein Gestank wie Ritze ganz unten, mit Katzenstreu abgelöscht.
“In dieser Hütte hier kann man eigentlich nur aufwachen, die Nase zuhalten und sofort Leine ziehen”, meinte Paffrath.
"Was ist denn jetzt mit was zu rauchen?" meinte ich.
"Genau."
Er verschwand Richtung Dachboden. Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete, ganz kurz war Musik in der Luft. Er blieb nicht lange weg.
“Dauert noch einen Moment mit dem Dope, aber es lohnt sich. Das Dope ist geil und billig”, versprach er.
“Ich geh solang was essen”, sagte ich.
Die als Fetthalle weithin bekannte Pommesbude lag gleich um die Ecke links die Strasse runter. Currywurst, doppelte holländische Pommes, Kanne Kölsch. Hinter mir saßen zwei Anstreicher. Einer zum anderen: “Fragt mein Sohn gestern die Oma: Oma, wenn du mal stirbst, kriege ich dann deinen Fernseher? Antwortet die Oma: Wenn es soweit ist, sicher. Musst du dir aber noch jemanden suchen, der dir den Fernseher runterträgt. Darauf mein Sohn: Ist doch kein Thema, Oma. Ich hab doch noch Opa.” Aber dann habe der Junge sich alles noch mal durch den Kopf gehen lassen und sich schweigend wieder an die Arbeit gemacht, an die alphabetische Auflistung seiner Weihnachtswünsche, in einer handlichen Kladde. “Damit ihr später nicht so ein Durcheinander habt, Oma.”
Ich zurück zum Haus. Es regnete leicht. Paffrath stand unten an der Tür.
“Komm rein, wir haben noch was Zeit, die Jungs sind unterwegs. Die haben das Zeug im Wald verbuddelt. Das dauert noch.”
“Hoffentlich finden die ihr Depot auch wieder”, sagte ich genervt.
In Aufderhöhe hatte ich Jahre zuvor während eines Spaziergangs eine Küchenuhr entdeckt, mitten im Wald. Sie war hoch oben an einer Schieferplatte angebracht. Ich wollte es nicht glauben und ging näher ran, ich musste richtig durchs Unterholz klettern und robben, um der Stelle auf den Pelz zu rücken, dann war es geschafft. Und tatsächlich, mitten im Wald, an einem dieser typisch bergischen Schiefergesteine, hatte irgendjemand eine original schlichte funktionierende Hausfrauen-Wanduhr angeschraubt: sie zeigte die absout korrekte mitteleuropäische Uhrzeit an. Seither traute ich dem Aufderhöher Forst nicht so recht. Da war irgendwie was schräges in der Matrix.
“Komm, wir gehen nach oben", meinte Paffrath, "auf dem Dachboden ist ein Proberaum. Können wir was Musik machen, uns die Zeit vertreiben.”
Wir stiegen das schmale Treppenhaus hoch. Der geräumige Speicher war mit Silberpapier, Bitumenfolie und jeder Menge Eierkartons ausgekleidet und gedämmt, um nichts von dem Krach nach draussen gelangen zu lassen, was ein paar langhaarige Eingeborene als Musik verkauften. Der Hippie an der Stromgitarre faselte was von 7/8-Takt, Blues in a und Rumba, spielte aber immer den gleichen tristen Stiefel, der irgendwie nicht vom Fleck kam. Weil der Bassist, wie ich hörte, gerade im Wald unterwegs war, Brösel ausgraben, wechselten sich andere Nieten an dem Gerät ab. Und mitten im Raum, auf einem Schemel, fläzte sich mit gekrümmten Rücken ein sorgsam verfilzter Rastafari, der sich bar jeglichen Talents an einem Saxofon versuchte.
“Spielt mal was orientalisches!” forderte er die anderen immer wieder auf.
War das denn nicht orientalisch? Das war doch Kairo die Autobahn rauf und runter, und dauernd stolperten einem Einheimische vors Auto und wimmerten. Paffrath, immerhin, hielt an den Congas den Takt. Jemand kam zur Tür rein und packte ein triefendes halbes Hähnchen aus, aus der Imbissbude. Ihm folgte ein kleiner Junge in schmuddeliger Montur, der dem Vater das weiße Fleisch des Geflügels aus den Händen riss und es sich in den Mund stopfte, wie ein hungriger kleiner Köter.
Was ein Musikantenstadl. Ein Mundraubstadl, ein öliges Desaster. Ich saß zwischen wummernden Verstärkern und Hähnchenfingern und wartete sehnsüchtig auf das dick geile billige Piece, damit ich mich endlich vom Acker machen konnte. Und die ganze Zeit fanden die Jungs beim Musikmachen nicht ein einziges Mal zueinander. Es war eine einzige Kakophonie, es war Milzbrand.
“Ich kann nur Chaos”, meinte das Wrack am Saxofon, als es gerade an der Reihe war, sich am Bass zu versuchen.
Ich war bis unter die Hutschnur bedient, doch Paffrath ließ sich seine gute Laune nicht vermiesen. Im Schneidersitz bearbeitete er die Congas mit einer Vehemenz, es war eine Freude, ihm zuzusehen.
Eine Woche darauf landete er in Brisbane und kehrte erst Jahre später zurück, für einen Kurzbesuch - den Kopf voll schräger Ideen, etwa wie man in der portugiesische Algarve mit einem Mountainbike-Verleih die Mörder-Mark machen könnte.
Irgendwann wurde ich erlöst, und der Brösel aus dem Wald hielt Einzug auf dem Speicher. Ich kaufte einem der Hippies ein paar Gramm ab und machte, dass ich aus demIrrenhaus raus kam, rein in den nächsten Oberleitungsbus Richtung Innenstadt. Meine Flucht hatte schon fast etwas militärisches an sich, so flotten Charakter. Was man an manchen Tagen so alles auf sich nahm, nur für ein bißchen Kif.