Die kompakte kleine Tierärztin blickt auf den Bildschirm.
"Sehen Sie hier, die Gebärmutter ist entzündet und auf die Größe einer Faust angeschwollen. Wenn die aufplatzt, und das kann in diesem Stadium jederzeit passieren, haben wir den Schlamassel. Dann ist der ganze Bauchraum voller Eiter und Blut, dann können wir nichts mehr machen.. Dann wird's schwer." Sie fährt die Sonde des Ultraschallgeräts über den Bauch des Hundes und sieht ihre erste vage Diagnose bestätigt. "Pyometra. Da hilft nur noch eins: Notoperation."
"Was denn.. sofort..!?"
"Morgen früh."
Ihre Worte stehen noch in der Luft, als sie längst weiterredet, wie Balkenüberschriften stehen die Worte da, monströse finstere Wahrheiten in einem gemütlichen Dasein: PYOMETRA - GEBMUTTERENTZÜNDUNG - NOTOPERATION.
Sanne ist ganz blass.
"Und was, wenn wir früher gekommen wären?" höre ich mich fragen. "Letzte Woche?"
Frau Moll kam uns da schon komisch vor: die ungewohnte Appetitlosigkeit, der Drang, dauernd zu saufen, (einmal stand sie wie ein irre gewordener Schaufelbagger im Bachlauf am Sportplatz und speiste ihren Organismus mit Unmengen kühlendem Wasser), das Blut, das aus der Scheide tropfte. Dummerweise war ihre Hitze gerade vorbei, danach ist sie stets neben der Kappe, beinahe depressiv, und blutet etwas nach. Also haben wir es nicht wirklich ernst genommen, auch wenn es uns komisch vorkam.
Die Luft in den Praxisräumen ist brühwarm und organisch.
"Wären Sie früher gekommen, dann wäre der Hund früher operiert worden", antwortet die Tierärztin lapidar und nach kurzem, kaum wahrnehmbarem Zögern. Ihr offenherziges Dekolleté zeigt zwei große weiße Brote. Ich glaub, sie hat es nicht so mit Männern. Sie wendet sich grundsätzlich Sanne zu, wenn sie mit uns spricht. Ich bin eher Beiwerk, bin der Typ mit den spitzen Knochen: ein Mann. "Wenn die Gebärmutter aufplatzt, das suppt richtig heraus. Dann ist Feierabend. Dann wird's schwer."
Da in der Praxis keine Operationen durchgeführt werden, stellt uns die Tierärztin zwei Alternativen zur Auswahl: Tierklinik Duisburg und Tierklinik Neandertal.
"Neandertal ist näher, aber doppelt so teuer. Ich empfehle grundsätzlich Duisburg."
Da fällt mir ein, was ein Hundehalter erlebt hat. Sein Henry, ein dick gewordener Cocker Spaniel, musste sich in Duisburg einer Prostata-OP unterziehen: 6 Tage Klinikaufenthalt, 1900 Euro.
"Und die rücken den Hund erst raus, wenn man die Rechnung beglichen hat. Solange bleibt der in der Klinik. Da sind die rigoros, da kennen die nix. Die machen Gefangene."
Die kompakte kleine Tierärztin beendet die Sonografie und ruft in Duisburg an, macht für Frau Moll einen Termin klar für morgen, Samstag, 10 Uhr. Sie drückt uns die Daumen.
"Wird schon gutgehen. Das sind Profis. Das ist Routine für die. Die machen das sechs Mal am Tag."
Mag sein. Aber mit unserem Hund machen die das nur ein Mal. Und dieses eine Mal muss sitzen.
"Man kann so alt und weise werden, wie man will, gegen die Ungeheuerlichkeit, dass plötzlich jemand fehlen könnte im Leben, den man lieb hat, dagegen kann man sich einfach nicht wappnen", stöhnt Sanne, als wir im Auto sitzen.
"Noch lebt der Hund", sag ich.
"Aber morgen könnte er tot sein. Oder heut Nacht."
"Ich auch."
"Was, du auch?"
"Ja, ich könnte auch morgen tot sein. Jeder von uns könnte ständig morgen tot sein.."
"Du wirst aber morgen nicht operiert."
"Das weißt du doch nicht.. Vielleicht platzt mir heut Nacht der Blinddarm.. und dann.."
".. haben wir zwei Not-OP's."
Sie hat natürlich Recht. Ich bin auch kein großer Freund von Tod und Veränderung, schon mal gar nicht bei Dingen, die sich über einen längeren Zeitraum eingespielt haben und die so schön und griffig in der Hand liegen, dass ein Wegfall kaum vorstellbar erscheint. Andererseits: Wenn sich niemals etwas ändert, hat man auch niemals etwas von früher zu erzählen, von damals, als die Dinge noch anders lagen. Kein Kind wird einen anschauen mit erstaunt aufgerissenen großen Augen, "ist das wahr, Opa..? So habt ihr damals gelebt?!"
Der Hund hechelt auf dem Rücksitz. Er ahnt, dass es um ihn geht. Dass irgendetwas nicht stimmt. Hunde sind merkwürdige Personen. Sobald es um ihre Gesundheit geht, machen sie sich so klein und unsichtbar wie möglich. Damit wollen sie nichts zu tun haben, mit Medizin und OP-Besteck.
Auf dem Weg nach Hause die ersten Tränen. Wir halten am Geldautomat. Sanne räumt ihr Konto leer, bis zum Anschlag. Bei meinem Konto brummt schon die rote Laterne. Sollte ich es trotzdem versuchen und ein paar Hunderter abheben, hab ich tags drauf die Bank-Lotsen an Bord, die alles wieder zurückführen, plus Strafgebühren. Sanne schließt ihr kleines Portmonee, das vor lauter Geldscheinen aufseufzt. Da geht er hin, unser Urlaub. Paar Tage Zeeland. Haben sich gerade erledigt.
"Sag mal, was ist eigentlich, wenn so ne Operation ansteht und man ist absolut pleite und niemand da, der einem aus der Patsche hilft?" frage ich. "Muss man den Hund dann einschläfern lassen? Oder wie?"
Sie zuckt nur mit den Schultern. "Wir reden nur noch über Geld, wie alle anderen auch", meint sie leise.
"Stimmt doch gar nicht, wir reden über KEIN Geld."
"Noch schlimmer."
Dass die Aufzucht von Geschichten, wie ich sie betreibe, keinerlei Profit abwirft, ist unvermeidlich. Es braucht Zeit, bis ich mit dem Schreiben zu Potte komme, so wie ich für alle wichtigen Sachen im Leben Zeit brauche, mehr, als vorgesehen ist, normalerweise.
"Du hast einen extrem langen Atem, du sitzt sogar die Götter aus. Und das muss man erst mal hinkriegen, als Sterblicher." (Sanne)
So wie es auch Zeit brauchte, bis ich mich mit Hunden anfreunden konnte. Bevor Sanne mich in ein Leben mit Hunden einweihte, mochte ich Hunde nicht. Ich hasste Hunde. Hunde waren für mich üble Gestalten, die nur eines im Sinn hatten: mich am Arsch zu kriegen mit ihrer riesigen Schnauze. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie warm und tröstlich so eine Hundeschnauze sein kann, und welch großartiger Wesenszug es ist, im Leben immerzu alles zu geben. Ein Hund ist niemals nur so lala. Er bringt einen immer dorthin, wo das Leben wichtig ist, wo man bellen, buddeln, rennen kann.
"Alles geht so schnell, ich kriege mal wieder kaum mit, was passiert", murmelt Sanne, woanders mit ihren Gedanken.
Sie hadert schon mal gern mit dem Dasein. Mit den Prinzipien von Leben und Tod, die ihr zuwider sind und unausgereift erscheinen. Und dass die Erde ein Wunderwerk sei in diesem ganzen weiten Kosmos, wir Menschen aber nichts Besseres zu tun haben, als einen Trümmerhaufen zu hinterlassen.
"Die Evolution ist eine verkommene alte Schlampe. Und weißt du, was wir Menschen sind..?! Ein Ü-Ei mit nix drin!"
Der Hund riecht komisch, meint sie und fühlt sich an ihre Kindheit erinnert, an den aasigen, leicht süßlichen Geruch von Kaninchenkadavern. Sie wuchs am Rande des Waldes auf.
"Irgendwie mag ich diesen Geruch sogar, aber nicht aus dem Hintern meines Hundes, wenn er noch lebt."
In der Nacht wacht Sanne beim leisesten Geräusch auf, ich schlafe erst gegen Morgen ein. Frau Moll liegt still vorm Bett. Als sie einmal in die Küche geht und nicht zurückkehrt, geh ich nachgucken, was los ist. Sie liegt in ihrer Höhle unterm Küchentisch und blickt so schwach hoch, dass ich insgeheim schon den Knall der aufplatzenden Gebärmutter höre, die Implosion, und das war's. Keine unbegründete Sorge, auch wenn die kleine kompakte Tierärztin uns zu beruhigen versucht hatte.
"Wenn die Gebärmutter bis heute noch nicht aufgeplatzt ist, warum sollte es dann ausgerechnet heute Nacht passieren..?"
Merkwürdige Argumentation, war es ihr doch andererseits zu gefährlich, mit der OP bis Montag warten.
Samstagmorgen.
"Ich seh aus, als hätte ich unterm Altar geschlafen", meint Sanne aufgekratzt. Sie hat im Traum wirr gebetet. Der Hund hat zu nichts Lust. Man kriegt ihn kaum vor die Tür. Keinen Mucks gibt er von sich. Beim Kaffeetrinken lese ich Zeitung. Eine, die schon ein paar Tage hier rumfliegt.
"Ach, du Scheiße."
"Hm?"
"Hier.. Aus einer Übung von Drogenspezialisten ist dank Diensthund Leon in der Nacht zu Freitag Ernst geworden. Eigentlich sollte Leon in einem Industriegebiet in Autos versteckte Drogen aufspüren, doch er folgte stattdessen einer anderen Witterung. Schnurstracks steuerte er einen 40 Meter entfernt liegenden Hof an und führte sein verdutztes Herrchen zu einem Gewächshaus voll mannshoher Cannabispflanzen. Ein Tatverdächtiger wurde ermittelt."
"Oh Gott, der Arme", meint Sanne. "Diese scheiß Hunde machen alles kaputt."
Sie drängt zum Aufbruch. Schon um halb zehn biegen wir in Duisburg, gleich hinterm Zoo, auf den Parkplatz der Tierklinik ein. Wir sind die ersten im Wartesaal. Es ist still. Kein Gebell, kein Maunzen, keine heimlich entnommenen Organe, die zu früher Stunde abtransportiert werden. Nur die kranke Frau Moll dünstet Gerüche aus.
Als die Rezeption Punkt zehn öffnet, redet Sanne auf die beiden Mitarbeiterinnen ein, als wüsste die ganze Welt Bescheid, dass unser armer Hund krank ist.
"Das hat sich entzündet, das ist groß wie eine Männerfaust, das wird eine Not-OP", sprudelt sie drauflos und möchte wissen, wann Frau Moll drankommt, wie lange die Operation dauert, ob sie intubiert wird, bleibt sie über Nacht, zur Beobachtung?
Und sind Sie auch lieb zu ihr?
"Sie heißen?" fragt die Mitarbeiterin geduldig.
"Glumm", sag ich.
"Ihr Hund?"
"Moll. Frau Moll. Frau Maria Moll."
"Nehmen Sie Platz. Es dauert noch etwas. Sie werden abgeholt."
Schon in der Praxis der Tierärztin hatten wir tags zuvor Mühe, Frau Moll zu rasieren, damit man die Sonde des Ultraschallgeräts am Bauch ansetzen konnte.
"Was soll das erst geben", meint Sanne, "wenn wir gleich nicht nicht dabei sind und die versuchen an Molli ranzukommen?"
Ja, das ist ein Problem. Selbst wenn es ihr gut geht, Frau Moll lässt niemanden an sich heran, außer uns. Als Welpe mussten wir sie zum Pinkeln vor die Tür tragen, soviel Angst flößte ihr die Außenwelt ein. Es hat lange gedauert, ihr klar zu machen, dass die Angst nicht ihr Chef, sondern ihr bester Mitarbeiter ist. Gib deiner Angst eine Aufgabe und sie wird sich den Arsch aufreißen, um dir zu gefallen zu sein. Aber erkläre das mal deinem Hund. Ich kapiere es ja selbst kaum. Aber es funktioniert. (Sogar bei mir.) Und Frau Moll hat sich seither mit der Welt arrangiert, solange die Leute nur hübsch ihre Flossen bei sich behalten und nicht nach ihr greifen mit schnellen hektischen Bewegungen. Wer das beherzigt, der kann Frau Moll tätscheln ohne die Hand zu riskieren.
Der junge Tierarzt, der uns im Wartesaal abholt, trägt einen Fünftagebart und das schwarze Haar so strubbelig, als wäre es seit Jahren in einer eisigen Windböe eingefroren. Der Mann ist eine Mischung aus Balkan und Jong vom Duisburger Hafen. Ständig in Eile quasselt er drauflos, als hätte er Feststoffraketen und Feuerbohnen gefressen, und zwischendurch, wenn das Handy klingelt, während er zack zack auf dem PC-Bildschirm kontrolliert, was er kurz zuvor eingetippt hat, Diagnose: Pyometra, nickt er uns kurz zu, "schulligung!", und nimmt ein Gespräch an, das nicht warten kann.
Sanne versucht ihm klar zu machen, dass es für fremde Hände schwierig wird, wenn nicht unmöglich, Frau Moll anzufassen. Mit unserem Hund Kirschen essen ist eine Sache für sich, sag ich, am besten man hängt frischen Pansen in den Obstbaum, aber er hört nicht richtig hin, meint nur: "Wir haben schon richtig böse Hunde hier gehabt, das ist unser täglich Brot, mit Hunden aller Couleur umzugehen. Und bisher sind wir noch mit jedem Hund klar gekommen."
Er scheint Frau Molls makabre Psyche nicht ernst zu nehmen, doch Sanne lässt sich so schnell nicht abwimmeln. Will wenigstens einen Blick in die Boxengasse werfen, um zu sehen, wie die Hunde hier versorgt werden, doch da hat die Geduld des Chirurgen abrupt ein Ende. So strikt, dass es den Anschein hat, er müsse den Spruch täglich 20mal aufsagen, verwehrt er uns den Zutritt zu den angrenzenden Sälen: "Das ist ein absolutes Tabu für Besucher."
So bestimmt kommt er damit rüber, dass ich sofort einlenke, (nee, ist klar), während Sanne entgeistert, fast empört aus der Wäsche guckt. Schließlich ist sie von amerikanischen TV-Serien, die im Klinikalltag spielen, gewohnt, dass man überall hinkommt, wo man will, jedenfalls am Bildschirm.
Frau Moll wird innerhalb der nächsten drei Stunden operiert, wagt der Fachtierarzt für Kleintiere eine Prognose. Außer der Gebärmutter werden auch die Eierstöcke entfernt.
"Alles muss raus."
Weil wir in der Klinik ja doch nichts tun können, rät er uns, nach Hause zu fahren. Sollte etwas Außergewöhnliches vorfallen, er habe ja unsere Nummer.
"Meine Linie: no news are good news", nuschelt er, ich versteh ihn nicht, "Bitte was?", "No news are good news", wiederholt er, fast schon genervt, dass er eine Sekunde eingebüßt hat im Rattenrennen. Das ist nicht unsere Liga, blickt Sanne mich an, nee, aber seine, denk ich, und er hat das Skalpell.
"Rufen Sie doch.., sagen wir.. um 17 Uhr an."
Als er Frau Moll an der Leine abführt, gebe ich ihr einen kurzen Klaps auf den Po, mach’s gut, das wird schon, während Sanne auf dem Flur wartet, sie will keinen Abschied, es könnte ja für immer sein, und da soll sich kein letztes Bild einprägen.
Dass sich bei Hunden die Gebärmutter entzündet, so hat der Doc es ausgedrückt, führt man zurück auf die Wölfe. Im Wolfsrudel produzieren auch nicht trächtige Weibchen Milch, um den Alpha-Weibchen bei der Aufzucht des Nachwuchses behilflich zu sein. Fatalerweise hat sich das bis heute im Haushund gehalten und äußert sich in Scheinschwangerschaften. Da die Milchproduktion jedoch nicht benötigt wird, kann es im schlimmsten Falle, bei starker Milchsekretion, zu einer Entzündung der Gebärmutter kommen.
"Das ist der Salat, den wir hier sehen."
Rückfahrt. Dreispurige Autobahn. Rechts ein Kennzeichen DU-MM 24, links ST-UR 49, in der Mitte WIR. Die Decke auf dem Rücksitz müffelt nach Hund und süßem Aas.
Als wir nach Solingen reinkommen, sehen wir Rauch aus dem hohen Schornstein der Müllverbrennungsanlage steigen, einen langen rötlichen Schal, als habe die Mafia Blutmüll angekarrt aus Süditalien, lauter tote Hunde.
"Was denkst du gerade?" fragt Sanne, als sie mein fassungsloses Gesicht bemerkt.
"Nichts."
16 Uhr 10. Wir haben ein wenig zu Mittag gegessen, Sanne hat sich eine Stunde aufs Ohr gelegt, und bis jetzt hat das Telefon Ruhe gegeben. Ist noch was hin bis 17 Uhr. Die OP dürfte gelaufen sein. Aber bei einer Narkose kann immer was schiefgehen. Die Zeit steht sich selbst auf den Füßen. Es ist heiß. Die Fenster sind weit auf, draußen ruft eine Frau ihren Hund zur Ordnung, "Fuuuß!" Ich koche Kaffee. In der Ferne grummelt ein Gewitter. Kann auch ein Flugplatzfest sein. Keine Ahnung.
"Mein Herzschlag lauert so", sagt Sanne, als sie vom Bett aufsteht, "ich kann nicht schlafen."
Sie lässt sich eine Badewanne einlaufen.
Wir können nicht mal mit dem Hund raus. Wir können nicht mal zu dritt eine kleine Runde drehen. Es ist nicht mal Winter. Frau Moll ist ja eigentlich ein Wintertier, ein Bodenfroster. Ab null Grad abwärts taut sie auf. Das ist ihr Wetter. Und Schnee ihr General.
Wir warten auf 17 Uhr.
"Ich funktioniere wie Treibholz", sagt Sanne, das sie in der Wanne treibt. "Ich stoße mal hier an, mal da.."
5 vor 5, das Telefon.
"Nein!" ruf ich.
Sanne: "NEIN!"
Dann, ich: "Blödsinn, so kurz vor fünf ruft der doch nicht an, um uns was Schlimmes zu verkünden, wenn wir um fünf sowieso anrufen..!"
Sanne hebt ab.
"Ach, du bist's..!"
Rita, die wieder am Kannenhof einzieht. Zum vierten Mal. Oder das fünfte Mal. Sie betreibt Umziehen als athletische Disziplin. Diesmal ist es eine Wohnung unterm Dach, eine paar Häuser weiter den Berg hoch.
Viertelstunde später haben wir Gewissheit, wir rufen in Duisburg an. Der Hund erwacht gerade aus der Narkose, die Operation ist gut verlaufen.
"Er liegt auf einer schönen warmen Decke unter Rotlicht."
Wir sollen morgen Vormittag anrufen, wieder gegen elf Uhr. Und uns keine Sorgen machen, was über Nacht alles passieren kann, nach so einer OP. Die Wunde kann sich entzünden, Frau Moll kann Fieber kriegen. Draußen läuten Kirchturmglocken. Im Osten, so hört man, soll es in der kommenden Nacht Unwetter geben.
"Ich glaub, ihr seid mit Frau Moll zum richtigen Zeitpunkt zum Tierarzt gegangen", meinte Rita am Telefon hellsichtig.
Abends schauen wir uns im Fernsehen eine Natur-Dokumentation über Südamerika an.
"Kein Wunder, dass der Peyote-Kaktus aus Bolivien stammt", meint Sanne. "In Bolivien muss man ja surreal werden, auch als Kaktus."
In der Nacht geht ein Gewitter nieder. Es kracht und es blitzt und ich schrecke aus einem dünnen Traum hoch, "was ist los..?! Werde ich fotografiert!?"
Sonntag. Punkt elf rufen wir an. Ja, wir können den Hund abholen. Es ist alles in Ordnung. Alles bestens.
Als wir eine dreiviertel Stunde später in Duisburg an der Rezeption stehen, meint die Mitarbeiterin, Frau Moll habe die Nacht gut geschlafen, jetzt sei sie noch beduselt von der Narkose, "aber heut Morgen war sie bereits wieder sehr.. äh, rege. Sie wollte sich partout nicht Fieber messen lassen. Unser Doktor hat beinah seinen Finger eingebüßt."
"Wer lässt sich schon gern ein Thermometer in den Arsch schieben", sag ich.
"So kenne ich meinen Hund!" lacht Sanne. "Der ist jeden Cent wert!"
Apropos Cent. Es werden dann doch 600 Euro.
"Wieso 600..? Unsere Tierärztin sprach von 400.. Ach so. Hm. Hm. Wochenenddienst.. Zuschlag. Und über Nacht geblieben. Hm."
Eine Dame aus Krefeld steht ebenfalls am Bezahltresen und mischt sich ein.
"Wenn mein Hund keinen Maulkorb trägt, kommt auch niemand an ihn heran. Das ist jedes Mal so, wenn er hier ist."
"Wieso, sind Sie öfters hier?" frag ich gut drauf. "Führen Sie ein Rabattheft?"
"Ja, ich hab einen schwarzen Schäferhund, total überzüchtet. Hat dauernd Magenprobleme. Aber man kann ihn ja deswegen nicht gleich erschießen."
Sie guckt mich an, als wollte sie sagen, oder vielleicht doch? Haben Sie eventuell ein kleines Kaliber dabei? Ein kleines Kaliber reicht. Sie finden mich auf dem Parkplatz. Krefelder Kennzeichen. Ich blinke 3mal kurz auf.
Wir müssen uns gedulden, bis der Hund gebracht wird. Wir bezahlen schon mal. Schieben die Scheinchen rüber, dass ich denke, es hört gar nicht mehr auf. Ich wusste gar nicht, dass es so viel Scheinchen gibt auf der Erde. Wie nachts im Telefon-Quiz, wenn 10-und 20-Euroscheine von einem Laufband in den gläsernen Behälter stürzen, was die Gewinnsumme alle paar Sekunden erhöht, aber niemand kennt die Antwort, weil keiner durchgestellt wird ins Studio.
Sanne kommt mit einer anderen Dame im Gespräch. Die hat einen regen kleinen Pudel im Arm, der von einer Biene gestochen wurde.
"Oder von ner Pferdebremse, weiß nicht. Mitten auf die Nase. Hier, ganz geschwollen. Ne dicke Knolle. Die sind ja so naiv, die Tölen. Spielen mit Wespen und schlagen mit den Pfoten nach ihnen und hinterher sind sie sauer, wenn sie einen Stachel in die Nase kriegen. Dann machen sie voll auf Dramaqueen."
Das Pudelmädchen heißt Jeannie, wird aber Flaschengeist gerufen. Dann ist es soweit. Da kommt sie. Um sich die Nähte nicht auflecken zu können, trägt Frau Moll einen Trichter, eine sogenannte Braunüle, am Kopf, und an den Knöcheln, wo die Infusion gelegt wurde, eisblauen Kreppverband. Sie sieht aus wie ein bandagiertes Zirkuspferdchen, das kopfüber in einen Lampenschirm gestürzt ist.
Sie ist der pure Zorn, sie blickt uns an wie: WAS ERLAUBEN STRUUNZ!? Sie allein zu lassen über Nacht in den Händen von Schlachtern und diesem Raubein vom Balkan! Ich kann nicht anders, ich muss lachen.
Wie die aussieht!
"Wird nie wieder passieren, Mollymaus", nimmt Sanne den Hund in die Arme, sie weint vor Freude, dass Frau Moll gleich wieder zum Einsatz kommt, mit ihrer warmen Schnauze, einmal trösten, bitte. Aber sie riecht immer noch komisch.
"Nach Aas. Wie eine alte Tür im Fischereihafen."
"Du meinst, hier duftet es leckerer als an jeder St. Pauli-Laterne ganz unten!" werfe ich übermütig ein.
"Das liegt daran, dass wir sie nicht waschen konnten", meint der Tierarzt, "sie hat uns partout nicht an sich rangelassen", und dabei meine ich erstmals so etwas wie Achtung aus seinen Worten herauszuhören, Achtung für unsere tapfere kleine Hündin.
Auf dem Parkplatz beobachten wir ein Kaninchen, das in aller Gemütsruhe über die Rasenflächen spaziert, während Frau Moll nicht mal drei Schritte entfernt stehen bleibt, sprachlos bei so viel Dreistigkeit. Sie zerrt einmal kurz an der Leine, spürt aber, dass nichts geht heute, und lässt gut sein.
"Schätze, die Klinik-Kaninchen sind lädierte Hunde gewöhnt, die so kurz nach einer OP nichts zuzusetzen haben", sag ich, "die haben keinen Respekt vor denen."
So ist das. Es gibt überall Gewinner im Leben. Mal ist es ein Karnickel, das mit freiem Oberkörper in der Sonne flaniert, mal ein Hund, der einen dahin führt, wo es wichtig ist. Wo sich bellen, buddeln, rennen lässt.
Wir loben den Tag.