Ich drehte eine letzte Abendrunde mit Frau Moll durch den Park. Die Wiesenwaren frisch gemäht, es duftete nach städtischen Gärtnern, die gelangweilt ihrer Arbeit nachgehen, mit einem stoischen Hass auf alles Grüne.
Ben kam mir entgegen, mit Kinderwagen und Hund Taylor. Ben, 23, war ein kräftiger Personenschützer, der seit einem halben Jahr zuhause blieb und sich um die kleine Pauline, 18 Monate, kümmerte, während seine Freundin eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin machte.
"Gleich kommt die Frau nach Hause, ich muß Essen machen!"
"Ist wahr?"
"Bist du doof? Ich und kochen.. Ich bin froh, wenn ich für die Kleine das Fläschchen warm krieg, Alter."
Ben hatte die Statur eines American Football-Cracks. Er erzählte von seinem Schwiegervater, der seit zwei Monaten im Krankenhaus lag, "nach einer halben Lebertransplantation."
"Einer halben was?!"
"Lebertransplantation."
"Wie, einer halben..?"
"Na, er hat die eine Hälfte einer gesunden Leber gekriegt, und irgendein anderes armes Schwein die andere Hälfte."
"Das gibts wirklich?"
"Ja nun,es stand nur eine gesunde Leber zur Verfügung, für zwei halbtote Patienten. Also bekam jeder eine Hälfte. Besser als nichts, oder."
Seit es Frühling geworden war, sah ich Ben fast täglich den Kinderwagen durch den Park schieben. Was heißt schieben: er jagte mit seiner ganzen Personenschützerpower über den Parcours und flog quasi hinter dem Kinderwagen her wie eine muskelbepackte Mary Poppins, dabei nach Taylor brüllend, seinem bekloppten Hund, der mal wieder ausgebüxtwar:
"TAYYLORRRR!! HIERRR!!"
Taylor, ein kastrierter schwarzer Labradorrüde, machte, was er wollte. Manchmal hatte der Hund solch einen Speed drauf, dass er nicht mehr abbremsen konnte und ins Distelgebüsch knallte, wo er jaulend zum Stehen kam.
Ben kannte das schon. „Der ist zu blöd zum Anhalten, der Hund.“
„Zu blöd zum Anhalten? Der ist zu jung zum Anhalten“, widersprach ich. „Das möcht ich auch noch mal sein, zu jung zum Anhalten.“
Ben glotzte mich an. Klar, er war erst 23. Und wie das so ist mit dreiundzwanzig, war Ben ein Kiffer vor dem Herren, und einem Näschen Speed am Wochenendewar er auch nicht abgeneigt. Ausserdem stand sein Mundwerk niemals still.
"Alter, ich hab bei Ebay einen schwarzen Böhse Onkelz-Müllsack ersteigert, für 3 Euro 50."
"Einen was?"
"Einen Böhse Onkelz Müllsack, schwarz, vom vorletzten Auftritt der Onkelz, 2005 am Lausitz-Ring."
"Wieso, gibts die nicht mehr?"
"NÄH! DIE ONKELZ HABEN SICH LÄNGST AUFGELÖST, ALTER! 2005! WO LEBST DU DENN! AUFFEM ORION?"
Ich meinte zwar eigentlich diese ominösen Müllsäcke, ob es die nicht mehr gibt, aber egal. Angeblich wurden von den legendären beiden letzten Konzerten der Onkelz nicht nur Müllsäcke mit irgendwelchen Extra-Aufklebern, sondern auch die letzten auf dem Festivalgelände verkauften, noch ungeöffneten Bierdosen versteigert.
"Da zieh ich mir auch noch ne Palette Büchsen an Land, Alter! Granate!"
Ich setzte gerade mit der Frage an, ob die Bierdosen auch spezielle Onkelz-Etikette getragen hatten, datauchte Bens scheue Freundin auf. Taylor stürzte ihr jaulend entgegen.
Ein seltener Anblick, Bens Freundin im Park. Und ein klapperdürrer Anblick.
"Hallo", wisperte sie.
"Na", meinte Ben.
Sie blickte mir nie in die Augen. Ob aus Desinteresse oder Schüchternheit, keine Ahnung. Sie blickte durch mich hindurch, den Mund halb geöffnet,ich sah ihre winzigen weißen Zähnchen. Sie wirkte wie ein Gespenst, das sich gleich die Zähne putzt, mit der Geisterzahnbürste.
Sie schautein den Kinderwagen, wo die kleine Pauline vor sich hinbrabbelte. Seltsam nur, dass sie sich nicht in den Wagen hineinbückte. Sie hielt Abstand zum eigenen Kind. Ben erzählte ihr vom schwarzen Böhse Onkelz Müllsack, den er für drei Euro fuffzig ersteigert hatte, bei einem Kumpel im Internet.
"Du mit deinen blöden Onkelz", sagte sie.
"BLÖDE Onkelz..? Wie, blöde Onkelz? Ich bin mit den Onkelz aufgewachsen. Fünfzehn Jahre hab ich nur Onkelz gehört, nie was anderes."
Sie verdrehte die Augen.
Ich erinnerte mich, womir Mitte der 80er Jahre erstmals der Begriff Böhse Onkelz begegnet war: an einer Straßenlaterne in Solingen-Wald, hingepinnt mit pechschwarzem Edding. Ich wusste nicht, dass es sich um eine Band handelte, dachte, da hätte sich jemand einen Spaß mit der deutschen Sprache erlaubt: Böhse Onkelz! Hab ich lange dagestanden und gelesen. Wieder und wieder.
Das Zuhause von Ben und seiner Freundin, sie wohnten um die Ecke, war mit Kleintier-Terrarien zugestellt. Schlangen, Echsen, Kröten. Labrador Taylor wohnte auf dem Balkon, was bei den Nachbarn nicht gut ankam. Wegen dem großen Geschäft und so.
"Weißt du nicht, wer ne Perserkatze kaufen will?" fragte Ben.
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich will einen Goldhamster", meinte seine Freundin fast ein wenig patzig, was Ben mit einer Handbewegung abtat.
"Blödsinn. Der Taylor braucht nur das Maul aufmachen, dann war's das mit deinem Goldhamster. Nee, wir müssen erstmal Platz schaffen und unsere Emma loswerden, ne Perserkatze.""Sag mal, euer Taylor ist kastriert, stimmt doch, oder?" warf ich ein.
"Klar. Wieso?"
Weil Taylor und Frau Moll über die Wiese tollten, und weil Frau Moll immer noch die Hitze hatte - sie war sogar mitten in den ganz brisanten Tagen, in der Standhitze, wo Hündinnen gern mal den Schwanz beiseite schieben und den Weg frei machen für so ziemlich jedendummen roten Hundepimmel.
Als ich das nächste Mal hinschaute, bestieg Taylor Frau Moll und stiess zu, ein unrhythmisches theatralisches Scheinstoßen, so als simulierte er den Akt nur. Blitzschnell das alles, wie in einem Hundespielfilm, nur nicht so schön geschnitten.
"Scheiße!"
Ben und ich eilten hinzu, und ich holte Taylor von Frau Moll runter. Wäre er wirklich in ihr drin gewesen, hätte das nicht mehr funktioniert. Aber es war nichts passiert, es funktionierte. Taylor stand hechelnd im Gras, Frau Moll guckte sich um, als wartete sie auf den Bus. Sie lächelte. (Später machte sie es sich im gemähten Gras gemütlich, alle viere von sich gesteckt und so glücklich, als hörte sie über Stereo-Kopfhörer Beifall auf sie niederprasseln, als liefe DAS SCHÖNE MÄDCHEN VON SEITE 1.)
"Der hat doch gar keine Eier mehr", meinte Ben's Freundin. "Kann doch gar nichts passieren."
"Wer weiß. Vielleicht hat Taylor noch einen versteckten Schuß frei", sagte Ben und tätschelte sein Köpfchen. "Der böse Onkel."
Ernahm mich beiseite.
"Alter, du bist doch im Internet unterwegs. Kannst du nicht mal gucken, ob du was findest über Australische Beutelmäuse. Die will ich mir holen, Alter. Granate, die Viecher."
Während Frau Moll im Gras und in Tagträumen Zuflucht suchte, erzählte Ben von Beutelmäuse-Männchen, die im Testosteronrausch draufgehen, sobald sie ausgewachsen sind.
"Die vergessen sogar zu essen und zu schlafen, wenn sie Weibchen riechen. Die legen sich in Grüppchen auf die Lauer und fallen über die Alten her. Nee, Moment. Andersrum. Also die Altenüber die Männchen. Ich weiß nicht genau. Jedenfalls sind die Männchen nach zwei Wochen völlig verausgabt vom Sex und fallen tot um. Granate."
"Hm. Und die willst du haben?"
"Alter, logisch! Zwei Wochen voll die Action im Käfig!"
Zuvor wollte er aber wissen, wie teuer Australische Beutelmäuse sind, das sollte ich in seinem Auftrag recherchieren im Internet, Alter, wäre nett.
"Ein Terrarium haben wir ja noch frei."
Er hätte gern ein junges Pärchen, meinte Ben, so ein Jahr alt. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung.
"In der Natur überleben die Männchen nicht, weil sie sonst den Weibchen die Nahrung streitig machen, und so viel Nahrung gibt der Busch nicht her in Australien."
"Hm. Dann fallen die gar nicht um vom vielen Sex?"
Bens Freundin stand plötzlich vor mir, keinen halben Meter entfernt. Sie guckte durch mich hindurch, den Mund halb geöffnet. Ich sah kleine weiße Zähnchen. Sie wirkte wie ein Gespenst, das sich gleich die Zähne putzt mit der Geisterzahnbürste. Mir wurde ungemütlich.
"Schön, ich werd sehen, was ich tun kann", versprach ich Ben und schnippte eine ausgerauchte Zigarette ins Gebüsch. Taylor, der jedes Mal regelrecht krank wurde, wenn Frau Moll läufig war, seine Zähne klapperten, er schlief nicht mehr, er war vor Verlangen richtig gestört, jagte kläffend der Kippe hinterher, als wär's es ein Nikotinstöckchen gewesen.
"Der ist bekloppt, wa?" strahlte Ben.