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Einmal saß ich besoffen auf dem Beifahrersitz neben Selle, einem Bekannten, es ging runter in die Wipperaue. Wir wollten Pepe aus dem Schlaf klingeln, um einen Bong zu rauchen. Es war mitten in der Nacht. Die lange Katternberger Strasse runter fielen Selle am Steuer ständig die Augen zu. Ich versuchte ihn wach zu halten, boxte ihm in die Seite.
„He! Die Augen auf, Mann!“
Wir waren nicht wirklich Freunde. Nicht, dass ich Selle nicht gemocht hätte, seine stoische Art, die Dinge anzugehen und seine kindliche „Jetzt mit noch mehr Monstern!“-Lache gefielen mir, doch selbst in jungen Jahren hat ein Herz nur bedingt Platz für Freundschaft, es passt manchmal einfach nichts mehr rein.
„Guck auf die Strasse, Selle! PASS AUF!!“
Dann sackte ich ebenfalls weg. Wir rasten im Blindflug die Strasse runter. Das erste, was ich sah, als ich die Augen öffnete, war eine beleuchtete Baugrube, deren Absperrung wir rumpelnd durchbrachen. Glas splitterte, mein Schädel ging durch die Scheibe. Der Unfall verursachte solch einen Lärm, es waren sofort Anwohner zur Stelle. In Panik war ich aus dem Wagen gesprungen, während Selle zurück in den Fahrersitz prallte und mit schockgeweiteten Augen seinen Körper abtastete.
„Sind Sie verletzt? Sind Sie in Ordnung?“ (Eine Frauenstimme.)
Auch wenn wir auf der Stelle stocknüchtern waren, so richtig war uns nicht bewusst, was geschehen war. Während man uns nebenan in eine gepflegte kleine Wohnung brachte, inklusive Samstagabendshow im Ersten, und wir auf den Krankenwagen und die Polizei warteten, („Keine Bullen..!“, hatte Selle noch gerufen, vergeblich), bemühte sich das nette Paar um uns. Die Frau wusch umsichtig das Blut aus meinem Gesicht, wobei ich einen Blick in den Spiegel warf. Das war's mit meiner schönen Fresse, war mein erster Gedanke. Aus, vorbei. Frankenstein.
Im Krankenhaus wurde ich mit zwölf Stichen genäht, an Stirn und Wange und auf der Nase. Selle war beim Zusammenstoß ein halbes Ohr abgerissen worden, was jedoch erst im Spital auffiel. Die Polizisten durchsuchten den demolierten Wagen, fanden das knorpelige Teil auf dem Boden, es wurde in aller Eile ins Klinikum gebracht und angenäht.
Seit diesem Tag bin ich auf Blut nicht sonderlich gut zu sprechen, auch wenn die Narben in meinem Gesicht gut verheilten. Der Anblick von Blut setzt mir zu, erst recht im Zusammenhang mit Operationen oder Unfällen. Dass ich 1981 dennoch freiwillig einen Großteil meiner Zivildienstzeit als Springer im OP verbrachte, lag allein daran, dass es der einzige Zivi-Job im Marienkrankenhaus Düsseldorf-Kaiserswerth war, bei dem man das Wochenende regelmäßig frei hatte. Ausserdem gab es eine kleine monatliche Zulage von 100 Mark, ein Zückerchen, weil niemand den Job machen wollte. Als ich mich probeweise für den Springer-Dienst im OP entschied, war dort schon über ein Jahr kein Zivi mehr aufgelaufen. Dementsprechend skeptisch wurde ich empfangen.
Und tatsächlich, es war ein harter Job. Besonders für jemanden wie mich, für den (von Autounfällen angesehen) das heftigste bislang ein Pieks in den Finger gewesen war, um den Blutzuckergehalt zu bestimmen. Aber ich hielt durch. Ich riss mich zusammen, obwohl es weh tat. Ich blieb im OP und wischte den Chirurgen ihren scheiß Schweiss von der Stirn, ich sammelte das Blut in Eimern und kippte es in den Ausguss, ich gewöhnte mich an die abstrusen Gerüche aufgebohrter Oberschenkel, warum? Weil mir die geregelten Arbeitszeiten von Montag bis Freitag ein freies Wochenende garantierten.
Das konnte ich mir unmöglich durch die Lappen gehen lassen.
Nach einem Jahr Fünf-Tage-Woche im OP hatte ich mich an den Gestank von aufgefrästen Knochen und an den spritzenden Blutbrei gewöhnt. (Blut ist kein Saft, Blut ist ein sämiger, von weisslich-gelblichen Fasern und Gewebefetzen durchtränkter zähflüssiger Brei, der jede Kanalisation sofort verstopft). Doch sobald Feierabend war und ich im Fernsehen zufällig auf eine unblutige kleine Knie-Punktion stiess, schaute ich angeekelt weg. Es war widersinnig und nicht zu erklären. Da stand ich im OP-Saal vor weit geöffneten blubbernden Körpern, doch wovor ekelte ich mich? Vor einer kleinen Augen-Operation mit Fremdkörperlöffel im Fernsehen. Keine Ahnung, warum. Wer kann es mir sagen. Niemand.
Meine Aufgabe als Springer bestand darin, von OP-Saal zu OP-Saal zu springen und den Herren Chirurgen die große OP-Leuchte richtig einzustellen. Bei schwierigen Eingriffen musste das Licht immer wieder in neue Positionen gebracht werden, und da sich mit jeder Bewegung das Lichtfeld veränderte, musste auch ständig nachjustiert und fokussiert werden. Das klingt einfacher, als es ist. Besonders am Anfang schaffte ich es oft nicht, die um die Lampe herumlaufende Reling so zu handhaben und zu steuern, dass das Licht auf den Punkt gebündelt ankam, wo es gebraucht wurde, etwa wenn eine kaputte Hüftpfanne von einem Implantat ersetzt werden musste, eine kniffliche Milimeterarbeit. Der Chef-Chirurg wetzte ungeduldig das Besteck in der Hand und konnte doch nicht fortfahren, solange ich den Krisenherd nicht exakt ausleuchtete. Die versammelten OP-Schwestern beobachteten mich missmutig, und während ich noch mit der störrischen OP-Lampe im Clinch war, begannen alle Umstehenden unterm warmen Halogenlicht in ihre Kopfhaube zu ölen, was mir später zusätzliche Arbeit verschaffte.
Aber das Wochenende war frei.
Das knalligste im OP-Saal waren die Augen. Von Kopfhaube und Mundschutz verdeckt war von den Gesichtern der Menschen kaum mehr zu sehen. Auch wenn man die Kollegen mit der Zeit an Körperbau und Bewegungsablauf erkennen konnte, ich orientierte mich automatisch an der Augenpartie. Die Beschränkung auf den schmalen Schlitz zwischen Unterkante Kopfhaube und Oberkante Mundschutz machte jeden Blick spannend und hochinteressant. Mehr als einmal passierte es mir, dass ich mich während einer ereignislosen Meniskus-OP kurzfristig in den scharfen Blick einer OP-Schwester verknallte. Nicht in einen konfrontierenden offenen Blick, nein, eher in einen verlorenen kleinen Seitenblick hellblauer Augen, in den Nebenaspekt einer Situation, etwa wenn die Schwester gedankenverloren nach dem Knochenzement griff.
"Schwester Gudrun.. SCHWESTER GUDRUN!!"
Dann war da noch Igor, Anästhesist aus Bulgarien, ein Kerl, der auch gern mal verkatert zum Dienst erschien. Ein Mann mit der Statur eines Hochhauses und mit solch wuchtigen Händen, er hätte den Tunnelbau in ganz Osteuropa alleine vorantreiben können. Wenn es bei einer Operation hoch herging und das Blut gleich literweise abgesaugt wurde, machte er mir oft Kniepäugelchen, um dem Moment die skandalöse Schwere zu nehmen, und wir mussten beide lachen. Einmal summte er der Oberschwester „Es gibt kein Blut auf Hawaii“ ins Ohr, ich stand daneben. Womit die Wahrheit bewiesen wäre.
Die Krönung der Zeit im OP war mein letzter Tag 1982. Nach einer aufwändigen Bein-Amputation, (es war mir freigestellt worden, dabei zu assistieren), schleppte ich das noch warme Bein einer alten Frau, eingewickelt in pastellgrünes Krepp-Papier, über die Flure des Krankenhauses ins Krematorium. Das Bein zitterte in meinen Händen, es zitterte wie ein Welpe, es lebte noch ein bisschen. Ein Bild, das mich bis in meine Träume verfolgte. Immerzu sah ich mich mit einem Bein, das niemanden mehr gehörte, durch die Gänge des Spitals irren, und es war flutschig wie ein Fisch.
Das schlimmste Bild aber, das mich lange Zeit verfolgte, hat nichts mit meinem Zivildienst zu tun. Es stammt aus dem Andalusischen Hund von Luis Bunuel und Salvador Dali. Der Film lief Ende der 70er Jahre regelmäßig im von Filmfreaks betreuten Programm des Metropol-Kinos, und immer wieder gelang es Karlos und Schnaat, mich in die Nachmittagsvorstellung zu lotsen, gegen meinen Willen. Sobald ich Platz genommen hatte, schloss ich die Augen. Ich fürchtete den Prolog, in dem die berühmte Rasierklinge im Bild auftaucht und eine menschliche Pupille aufschneidet. Auch wenn es in Wahrheit ein Kuhauge war, wie ich später erfuhr. Weil Karlos und Schnaat genau wussten, wie sehr diese Szene mich fertig machte, warnten sie mich die halbe Zeit, HE, GLUMM! DIE WERBUNG IST ZU ENDE, GLEICH GEHTS LOS! GLEICH KOMMT DAS AUGE, GLUMM!
JETZT KOMMT DAS AUGE!
Wenn der Film dann endlich begann, war ich nicht nur abgestumpft von den dauernden Warnungen, es warnte mich auch niemand mehr, wenn die Rasierklinge und ein Auge im Großformat auf der Leinwand erschien und loslegte, und so bekam ich jedes Mal einen Zipfel des Wahnsinns zu fassen, EINEN RIESEN-ZIPFEL! noch bevor ich weggucken konnte. Ich meine, was gibt es schlimmeres für ein menschliches Auge, als dabei zuzusehen, wie ein anderes menschliches Auge seziert wird. Was würde ich dafür geben, hätte ich diese gottverfluchte Nahaufnahme auf der Kinoleinwand nie gesehen.
