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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Die letzten Anarchisten

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An sich hat sie ihn gern, den Fernseher.

„Ich sitze in meinem Zimmer und kriege die ganze Welt mit“, sagt die Gräfin, die als Kind eine Weile aussah wie Trude Herr ihr Kind: große Augen, pausbäckig, immer auf Zack. „Das kommt meinem Phlegma entgegen.“

Auch Internet findet sie nicht schlecht. Ist ja alles die gleiche Bilderbrut. Was sie nicht mag, sind deutschen Fernsehkrimis. Sie verachtet Tatort und Polizeiruf. Miserable Dialoge, kaum Action, schlechte Schauspieler. („Woran erkennt man einen deutschen Schauspieler? Daran, dass er schauspielert.“) Und die Handlung? Spielt sich nur noch im Kieferbereich ab. Es wird gequasselt, gequasselt, gequasselt.

„Gestern hab ich zufällig einen alten Schimanski gesehen, Blutsbrüder. Der war tausend Mal wärmer und menschlicher als die ganzen neurotischen Ermittler heutzutage. Spannender sowieso. Schimanski war sich auch nicht zu schade, einen schmierigen Verdächtigen am Schlafittchen zu packen und ihn ranzunehmen bis der sich vor Angst in die Hosen gemacht hat. Das sieht man heutzutage nur noch in den Nachrichten.”

*
„Sag mal, ist nichts anderes drin?“ stöhnt sie und zappt durch die Programme. Ich nehme die TV-Zeitschrift vom Tisch und lese ihr den Titel eines Hochsee-Thrillers vor, der gerade anläuft.

„Open Water, USA, 2003. Effektiver Low-Budget-Überraschungshit.“

„Nee, den kenne ich“, winkt sie ab. „Da hängen irgendwelche Penner die halbe Zeit im Wasser und schreien rum, weil dicke Fische angeschwommen kommen. Hallooo!! Wo sollen Fische denn sonst hin??“

Die TV-Ansagerin kündigt den Spätfilm an, eine französisch-italienische Co-Produktion, einen Sixties-Klassiker, sinnlos im Plural. Sinnlos im Plural..? Wie, sinnlos im Plural? Was redet die fürn Scheiß? Oder ist das eine verdammte Literaturverfilmung? Erst als ich in der TV Today nachschlage, begreife ich: der Schinken ist mit Lino Ventura.

Zehn Minuten später.

„Schnell! Komm mal!“ ruft die Gräfin aus der Wohnküche, wo sie am Fenster steht. „Die Sterne sind vom Himmel gefallen.. mitten in unseren Garten!“

„Das wurde aber auch Zeit“, geb ich zurück. „Endlich fette Beute.“

„Nun komm schon..! Mach hin!“

Bis ich den zunehmend dicken trägen Hintern aus dem Bett bewege und endlich in der Küche ankomme, ist sie schon einer neuen Theorie auf der Spur.

„Ich glaub, da unten sind Glühwürmchen zugange. Oder nicht? Guck mal! Meinst du, das sind Glühwürmchen…??“ Sie zerrt an meiner Schulter. „Aber wieso liegen die im Gras?! Was machen die da unten im Gras? Bumsen?“

Welch ein Spektakel, trotz Dunkelheit und Nieselregen: Es leuchtet und flackert im ganzen Hinterhof, winzige bläulich-gleißende Lagerfeuer, entzündet von liebestollen Fluginsekten. Es glüht wie auf einer verdammten Festwiese.

Wir stehen ergriffen am Fenster, wie zwei Frührentner, die um Mitternacht noch wach sind, weil sie zufällig zur gleichen Zeit aufs Töpfchen müssen. Aber ich bin skeptisch. Wir hatten zwar schon öfters Glühwürmchen im Garten, die zu Dutzenden durch die Nacht sausten, wie eine grünlich blinkende Halluzination von zu viel Glutamat, aber im Oktober…? Glühwürmchen? Und bei dem Wetter?

„Ach was, ist denen doch schnuppe, wenn die ein bisschen nass werden. Wenn die einmal glühen, glühen die. Dann wird gebumst, Freunde!“

Sie schlüpft in ihre Ballerinas und flappt die Treppe runter in den Hof. Flapp-flapp-flapp. Ich bleibe solang oben am Küchenfenster und versuche zu erkennen, was sie da unten im Garten treibt. Leuchtkäfer fangen und eintüten, so wie es unsere Großväter einst mit Maikäfern getan haben? Gut möglich. Ich kenne sie als Anhängerin traditioneller Lebensführung.

Sie springt auf der Wiese umher wie das Sterntalermädchen, nur dass ihr keine Sterntaler ins Hemdchen fliegen, sondern fluoreszierende Insekten.

Es dauert keine Minute, und sie ist zurück – durchgefroren, das Nachthemd nass, die Möpse vor Spitzbergen.

„Glühwürmchen, so ein Blödsinn – weißt du, was das ist? Das sind Regentropfen, die auf den Grashalmen sitzen und das Licht reflektieren aus den umstehenden Häusern. Irgendwelche Küchenlampen, Haustürleuchten..“

Still und leise gesellt sich der Hund dazu, genau in unsere Mitte. Unbeeindruckt von dem ganzen Trara und Geflacker war er auf seiner Decke geblieben, ganz gegen seine Gewohnheit.

Er gähnt ausgiebig.

Es ist null Uhr fünfzehn, als wir im Bett liegen und uns alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Die Sache mit den Glühwürmchen, funkelnde Regentropfen, das Gähnen unseres alten Hundes, der allmählich hinfällig wird, andererseits aber nicht unclever agiert.. und dass Glühregen und ähnliche Wetter-Kapriolen so etwas wie die letzten Anarchisten sind in diesem Land.

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