Als Teenager war ich die fleischgewordene Rangliste. Ich liebte alle möglichen Sport-Tabellen, Torjägerlisten, Pop-Charts - in alles, was nur irgendwie nach Platz 1 bis Platz 50 roch, steckte ich meine Nase und nahm einen tiefen Zug.
Selbst als ich 30 Jahre später mit dem Bloggen anfing, war ich stolz wie Oskar, als 500beine erstmals in der myblog-internen täglichen Rangliste auftauchte, irgendwo unter ferner liefen. Und als 500beine erstmals auf Platz 1 landete, setzte ich Himmel und Hölle in Bewegung, um einen Screenshot hinzukriegen. Das musste für alle Zeiten als Dokument zur Verfügung stehen.
Mitte der Siebzigerjahre führte ich meine eigene wöchentliche Top Twenty Show. Dafür hatte ich ein Extra-Heft angelegt, auf dem dick und fett DOPPELTE BUCHFÃHRUNG IM HAUSHALT geschrieben stand, damit meine Geschwister auch ja ihre unegalen Finger von dem Heft lieÃen und nichts verraten konnten, womöglich die aktuelle No. 1 ausplauderten, bevor ich davon wusste.
Ich achtete streng darauf, meine Charts am Wochenende aufzustellen, so wie in der Branche üblich. Oder was ich damals für in der Branche üblich hielt. Ich konnte den Samstagnachmittag kaum erwarten: 15 Uhr - endlich durfte ich meinen brandneuen Spitzenreiter präsentieren, und zwar: mir selbst.
Die Hitparade setzte sich gröÃtenteils aus den Songs zusammen, die ich unter der Woche auf Kassette mitgeschnitten hatte, von den angesagten Radiosendungen mit Frank Laufenberg (Pop-Shop, SWF) und WDR-Discjockey Mal Sondock, einem in Köln gestrandeten Amerikaner, der sein Deutsch mit einem Akzent würzte, breit wie ein texanisches Funkhaus.
Mein Kassetten-Rekorder war ein unverwüstlicher silbriger Hitachi, aber er hatte ein Manko: er war mit dem langsamsten Rücklauf der Weltgeschichte ausgestattet. Man musste alle Zeit der Welt haben, um einen Song wiederzufinden.
Es war die groÃe Ãra der Glam-Rocker. Hatten T. Rex eine neue Single auf dem Markt, WHATEVER HAPPENED TO THE) TEENAGE DREAM, stürmte sie bei mir automatisch von Null auf Eins und hinterlieà eine Spur der Verwüstung in meinem Heft.
Slade fand ich klasse, das war herrlicher Lärm, Mungo Jerry (In the Summertime), und die wilde Suzi Quatro natürlich, mit ihrer groÃen Klappe: TOO BIG! schrie sie:
HONEY, I NEVER LOSE!
John Lennon war zehn Wochen lang meine Nummer 1, und zwar mit der Wiederveröffentlichung von GIVE PEACE A CHANCE, aber auch nur, weil der Rhythmus stampfte wie eine Schlaghose, wenn sie aus der Wäsche kam.
Ein einziges Mal schaffte es ein Blues an die Spitze meiner Hitparade: EV'RY DAY von Slade. Tags zuvor hatte ich mit der dunkelhaarigen Tina, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, im Kinderzimmer schön gefummelt, und dabei war auf BFBS, dem britischen Soldatensender, diese Ballade im Hintergrund gelaufen: Ev'ry day, when I'm away, I'm thinking of you-hou..
Neulich ist mir dieser selten gespielte Oldie von Slade nochmal zu Ohren gekommen, ganz zufällig im Radio, und sofort sah ich Tina wieder vor mir, Tina in ihrem roten Indianerkleidchen und dieser scharfe Verhütungsschaum, den sie damals verwendete. Mann, hat mir der Pimmel gebrannt, obwohl überhaupt nichts richtig geklappt hat, da drin. Es war, als hätte ich Kisskiss (wie meine italienische Oma das nannte) mit einer Peperoni gehabt.
1975 erfuhr ich von Gleichgesinnten, die ebenso wie ich ihre eigenen Charts ermittelten und einen Klub gegründet hatten. Der Vorsitzende hieà Jürgen, er war auch der Ãlteste. In den 70ern gab es stets irgendwo einen Jürgen, der als Ãltester seine Finger im Spiel hatte.
Jürgen schickte eine bespielte Kassette mit den Songs der aktuellen Klub-Hitparade los, und diese Kassette wurde wie eine Art Kettenbrief von einem zum anderen weitergeschickt, wobei jedes der dreiÃig Mitglieder die eigene, neue Top Twenty am Ende des Bandes hinzufügen musste, per Mikrofon. War die Runde durch, sendete der Letzte das Tape zurück an Jürgen, der anhand von dreiÃig Mitglieder-Top Twentys die neue KLUB-TOP TWENTY erstellte. So flitzten immerzu C-90-Bänder durch die Republik, sehr ermüdend das Ganze, aber die Post hatte gut zu tun.
Jürgen wohnte in Osnabrück, war aber beruflich viel unterwegs, wie er einem ständig in den Ohren lag. Eines Tages, er hatte in der Gegend zu tun, stand er vor unserer Tür, ohne Vorankündigung. Meine Mutter öffnete.
"Schönen guten Tag, ich bin der Jürgen vom Klub", stellte er sich vor, den Fuà schon halb im Flur. Ob er mich mal sprechen dürfe. Meine Mutter, ohne Ahnung, von welchem Klub die Rede sein sollte, führte ihn vertrauensselig auf den Balkon.
Es war Mitte August, groÃe Sommerferien. Ich lag faul in der Sonne, dick eingeölt mit Tiroler Nussöl, das sich allmählich mit dem Körperschweià vermischte und aus mir einen türkischen Ringer mit riesiger Naturkrause machte.
Jürgen schien perplex. Er hatte mich ja nie zuvor gesehen. Und ich ihn auch nicht. Da stand er nun. Anfang zwanzig, schwul, ein Vertreter, der trotz der tropischen Temperaturen Anzug trug, darunter ein Hawaii-Hemd, als wäre er auf dem Weg zur Volkshochschule, um ein Honululu-Referat zu halten, während ich in der sengenden Sonne vor mich hin troff, ein verrutschtes Einzelbild im Hochglanz-Fotoroman, unschuldige fünfzehn Jahre alt.
Nicht, dass ich nicht gut ausgesehen hätte, Gott bewahre, aber die Hitze, das viele Sonnenöl, meine mächtige Matte, das war nicht das, was Jürgen erwartet hatte.
Wir hielten es exakt 2:40 Minuten miteinander aus, eine lausige Slade-Single lang, aber auch nur die A-Seite, dann war Schluss, und Jürgen verabschiedete sich abrupt. Ich habe nie wieder von ihm oder seinem Klub gehört, auch seine idiotischen Rausche-Kassetten, die immerzu mit "Tschüssikowski, ihr Lieben!" endeten, schickte ich nicht mehr weiter, sie landeten fortan im Müll, bis sie ausblieben.
Ich glaub, ich war die ganze pomadige Hitparadenkacke einfach leid. Ich war 16, ich wollte endlich mal dranpacken, meinetwegen konnte es losgehen.
Halbe Stunde drauf klingelte Tina in ihrem leuchtend roten Kleidchen. Ich war frisch geduscht, meine Eltern übers Wochenende weg, sturmfreie Bude. Aber die schneidend scharfe Anti-Baby-Schlacke lieÃen wir fortan weg.
Selbst als ich 30 Jahre später mit dem Bloggen anfing, war ich stolz wie Oskar, als 500beine erstmals in der myblog-internen täglichen Rangliste auftauchte, irgendwo unter ferner liefen. Und als 500beine erstmals auf Platz 1 landete, setzte ich Himmel und Hölle in Bewegung, um einen Screenshot hinzukriegen. Das musste für alle Zeiten als Dokument zur Verfügung stehen.
Mitte der Siebzigerjahre führte ich meine eigene wöchentliche Top Twenty Show. Dafür hatte ich ein Extra-Heft angelegt, auf dem dick und fett DOPPELTE BUCHFÃHRUNG IM HAUSHALT geschrieben stand, damit meine Geschwister auch ja ihre unegalen Finger von dem Heft lieÃen und nichts verraten konnten, womöglich die aktuelle No. 1 ausplauderten, bevor ich davon wusste.
Ich achtete streng darauf, meine Charts am Wochenende aufzustellen, so wie in der Branche üblich. Oder was ich damals für in der Branche üblich hielt. Ich konnte den Samstagnachmittag kaum erwarten: 15 Uhr - endlich durfte ich meinen brandneuen Spitzenreiter präsentieren, und zwar: mir selbst.
Die Hitparade setzte sich gröÃtenteils aus den Songs zusammen, die ich unter der Woche auf Kassette mitgeschnitten hatte, von den angesagten Radiosendungen mit Frank Laufenberg (Pop-Shop, SWF) und WDR-Discjockey Mal Sondock, einem in Köln gestrandeten Amerikaner, der sein Deutsch mit einem Akzent würzte, breit wie ein texanisches Funkhaus.
Mein Kassetten-Rekorder war ein unverwüstlicher silbriger Hitachi, aber er hatte ein Manko: er war mit dem langsamsten Rücklauf der Weltgeschichte ausgestattet. Man musste alle Zeit der Welt haben, um einen Song wiederzufinden.
Es war die groÃe Ãra der Glam-Rocker. Hatten T. Rex eine neue Single auf dem Markt, WHATEVER HAPPENED TO THE) TEENAGE DREAM, stürmte sie bei mir automatisch von Null auf Eins und hinterlieà eine Spur der Verwüstung in meinem Heft.
Slade fand ich klasse, das war herrlicher Lärm, Mungo Jerry (In the Summertime), und die wilde Suzi Quatro natürlich, mit ihrer groÃen Klappe: TOO BIG! schrie sie:
HONEY, I NEVER LOSE!
John Lennon war zehn Wochen lang meine Nummer 1, und zwar mit der Wiederveröffentlichung von GIVE PEACE A CHANCE, aber auch nur, weil der Rhythmus stampfte wie eine Schlaghose, wenn sie aus der Wäsche kam.
Ein einziges Mal schaffte es ein Blues an die Spitze meiner Hitparade: EV'RY DAY von Slade. Tags zuvor hatte ich mit der dunkelhaarigen Tina, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, im Kinderzimmer schön gefummelt, und dabei war auf BFBS, dem britischen Soldatensender, diese Ballade im Hintergrund gelaufen: Ev'ry day, when I'm away, I'm thinking of you-hou..
Neulich ist mir dieser selten gespielte Oldie von Slade nochmal zu Ohren gekommen, ganz zufällig im Radio, und sofort sah ich Tina wieder vor mir, Tina in ihrem roten Indianerkleidchen und dieser scharfe Verhütungsschaum, den sie damals verwendete. Mann, hat mir der Pimmel gebrannt, obwohl überhaupt nichts richtig geklappt hat, da drin. Es war, als hätte ich Kisskiss (wie meine italienische Oma das nannte) mit einer Peperoni gehabt.
1975 erfuhr ich von Gleichgesinnten, die ebenso wie ich ihre eigenen Charts ermittelten und einen Klub gegründet hatten. Der Vorsitzende hieà Jürgen, er war auch der Ãlteste. In den 70ern gab es stets irgendwo einen Jürgen, der als Ãltester seine Finger im Spiel hatte.
Jürgen schickte eine bespielte Kassette mit den Songs der aktuellen Klub-Hitparade los, und diese Kassette wurde wie eine Art Kettenbrief von einem zum anderen weitergeschickt, wobei jedes der dreiÃig Mitglieder die eigene, neue Top Twenty am Ende des Bandes hinzufügen musste, per Mikrofon. War die Runde durch, sendete der Letzte das Tape zurück an Jürgen, der anhand von dreiÃig Mitglieder-Top Twentys die neue KLUB-TOP TWENTY erstellte. So flitzten immerzu C-90-Bänder durch die Republik, sehr ermüdend das Ganze, aber die Post hatte gut zu tun.
Jürgen wohnte in Osnabrück, war aber beruflich viel unterwegs, wie er einem ständig in den Ohren lag. Eines Tages, er hatte in der Gegend zu tun, stand er vor unserer Tür, ohne Vorankündigung. Meine Mutter öffnete.
"Schönen guten Tag, ich bin der Jürgen vom Klub", stellte er sich vor, den Fuà schon halb im Flur. Ob er mich mal sprechen dürfe. Meine Mutter, ohne Ahnung, von welchem Klub die Rede sein sollte, führte ihn vertrauensselig auf den Balkon.
Es war Mitte August, groÃe Sommerferien. Ich lag faul in der Sonne, dick eingeölt mit Tiroler Nussöl, das sich allmählich mit dem Körperschweià vermischte und aus mir einen türkischen Ringer mit riesiger Naturkrause machte.
Jürgen schien perplex. Er hatte mich ja nie zuvor gesehen. Und ich ihn auch nicht. Da stand er nun. Anfang zwanzig, schwul, ein Vertreter, der trotz der tropischen Temperaturen Anzug trug, darunter ein Hawaii-Hemd, als wäre er auf dem Weg zur Volkshochschule, um ein Honululu-Referat zu halten, während ich in der sengenden Sonne vor mich hin troff, ein verrutschtes Einzelbild im Hochglanz-Fotoroman, unschuldige fünfzehn Jahre alt.
Nicht, dass ich nicht gut ausgesehen hätte, Gott bewahre, aber die Hitze, das viele Sonnenöl, meine mächtige Matte, das war nicht das, was Jürgen erwartet hatte.
Wir hielten es exakt 2:40 Minuten miteinander aus, eine lausige Slade-Single lang, aber auch nur die A-Seite, dann war Schluss, und Jürgen verabschiedete sich abrupt. Ich habe nie wieder von ihm oder seinem Klub gehört, auch seine idiotischen Rausche-Kassetten, die immerzu mit "Tschüssikowski, ihr Lieben!" endeten, schickte ich nicht mehr weiter, sie landeten fortan im Müll, bis sie ausblieben.
Ich glaub, ich war die ganze pomadige Hitparadenkacke einfach leid. Ich war 16, ich wollte endlich mal dranpacken, meinetwegen konnte es losgehen.
Halbe Stunde drauf klingelte Tina in ihrem leuchtend roten Kleidchen. Ich war frisch geduscht, meine Eltern übers Wochenende weg, sturmfreie Bude. Aber die schneidend scharfe Anti-Baby-Schlacke lieÃen wir fortan weg.