Ich war zwölf Jahre alt, als im Erdgeschoà dieses sonderbare kinderlose Ehepaar einzog. Es passte nicht so richtig in die Nachbarschaft, unter all den braven Beamten und kleinen Handwerksmeistern. Die Frau trug gern einen knallengen Leder-Minirock und zeigte ihre langen Beine, das Haar hennarot gefärbt. Der Mann war genau das Gegenteil, klein und hässlich. Er schien nur aus seiner Nase zu bestehen, die knochig und krumm in seinem Gesicht hockte. Er hatte etwas krötenhaftes an sich, wie eine Figur aus dem dunklen bedrohlichen Reservoir von Grimms Märchen, und er blickte einem nie in die Augen. Ich traute ihm nicht. Ich ging ihm aus dem Weg, wo ich nur konnte. Er strahlte etwas Unheilvolles aus.
ÂWas die Frau wohl an dem Zwerg findetÂ, wunderte sich Mutter.
Mittags kam ich aus der Schule. Mit meinen schreiend blonden Locken und den femininen Gesichtszügen machte ich ersten Eindruck auf Schwule, eine nervende Geschichte, die ihren Höhepunkt erst erreichte, als Drago, der verrückte schwule Kellner, für mich tanzen wollte, für einen kleinen Kuss, da war ich 25. Danach war Schluss. Danach begehrten mich Schwule nur noch vereinzelt. Schwule mögen keine älteren heterosexuellen Herrschaften.
Ich wollte gerade die Klingel drücken, da ging die Haustüre auf. Der kleine Mann stand im Flur, er war genauso erstaunt wie ich.
ÂNa, so ein ZufallÂ, sagte er.
Die Tür zur ErdgeschoÃwohnung stand offen. Ob ich mal eben anfassen könne. Er müsse ein Sofa transportieren. Zu zweit wäre das kein Problem.
ÂDauert nicht lange, Junge.Â
Wir hatten noch nie miteinander gesprochen, mal abgesehen von Guten Morgen vielleicht. Meinem ersten Impuls folgend wollte ich ablehnen. Ich wollte ihn stehen lassen, wollte einfach weitergehen, die Treppe rauf bis zum Dachgeschoss, doch dann dachte ich, was soll passieren. Wir wohnten im selben Haus, er hatte eine Frau. Was sollte schon passieren.
Er spürte, dass ich ihm nicht traute. Nur auf einen Sprung, sagte er. Er versuchte ein Lächeln, doch es wurde verdeckt von der riesigen Nase.
ÂHilfst du mir? Dann gehtÂs ganz schnell.Â
Seine Stimme war kratzig, wie Schurwolle. Es war eine tiefe kratzige Zigarettenstimme. Ich weià noch, dass ich das Gefühl hatte, da stimmt was nicht. Wo soll das Sofa denn hin? Nach drauÃen? Aber ich fragte nicht. Ich war zwölf Jahre alt. Ich wollte nett sein. Er überrumpelte mich. Ein Mann mit Lebenserfahrung und einer Nase wie aus Grimms Märchen überrumpelt 12jährigen Jungen, der zur Mittagszeit aus der Schule kommt.
Im eigenen Haus. (Später dachte ich: Mann, hat der Nerven gehabt.)
Er ging vor ins Wohnzimmer. Die Wohnung war exakt so geschnitten wie unsere Wohnung unterm Dach. Ein merkwürdiges Gefühl, diesen langen Flur zu begehen, von dem die gleichen Räume abgingen wie bei uns oben, doch mit anderen Möbeln. Es war ungefähr so, als würde ich mich im Spiegel betrachten, mit Klamotten am Leib, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er bot mir etwas zu trinken an. Ich sagte nein.
ÂLimonade?Â
Ich schüttelte den Kopf.
ÂSetz dichÂ, sagte er. ÂDu hast keinen Durst? Du möchtest doch bestimmt eine Cola. Jungs in deinem Alter wollen immer Cola. Ich hab kalte Cola..Â
ÂNein. Danke.Â
Es war Mittagszeit. Ich war hungrig. Ich wollte die Sache hier hinter mich bringen.
"Setz dich, Junge."
Ich hörte einen Vogel in der Wohnung. Ich nahm Platz. Er setze sich sofort zu mir. Er war klein und drahtig, und da war diese groÃe strenge Nase. Seine Haut wirkte aus der Nähe wie grobes Sackleinen. Wir saÃen auf einem Sofa. War es das Sofa, das wegmusste?
ÂWo soll es denn hin? fragte ich. Ich hörte den Vogel zwitschern. Ich hoffte, er flog nicht herum. Ich mochte keine frei fliegenden Vögel in Wohnungen. Mein Onkel hatte einen Sittich, wenn der durchs Zimmer flog, landete er jedes Mal auf meinem Lockenkopf und begann ein Nest zu bauen, worauf ich Panik bekam und der Vogel auch. Die flatternden Flügel verfingen sich in meinem Schopf, bis mein Onkel ein Einsehen hatte und dazwischen ging. Jeder Besuch bei meinem Onkel war eine Tortur. Ich war immer froh, wenn es vorbei war und der Vogel im Käfig.
Er rückte an mich heran. Ich sah das Pochen seiner Schläfen, alles an ihm war Schneid und Energie. Als ich unvermittelt seine Hand auf meinem Schenkel spürte, schoss die Hitze durch meinen zwölfjährigen Körper, einem Blitzschlag gleich, und ich dachte, ScheiÃe.
Erwischt.
Grobe knochige Männerfinger begannen meine Schenkel zu streicheln, zu bearbeiten, zu massieren, ungeduldig, fordernd. Ich hörte ihn schnauben. Der Vogel schrie, von irgendwoher in der Wohnung. Bei uns oben wäre der Schrei aus der Küche gekommen. Ich löste mich aus meiner Erstarrung und sprang auf, schnappte die Schultasche und rannte los. Ich wusste, wo ich hermusste. Ich war Sportler. Ich kannte den Grundriss. Ich flog durch den langen Flur zur Etagentür, drückte die Klinke runter. Als ich merkte, dass die Tür aufging, dass sie nicht abgeschlossen war, machte mein Herz einen Satz.
Im Erdgeschoà gab es noch eine zweite Wohnung. Da wohnte die nette Frau Linnert. Im Hausflur blieb ich kurz stehen, überlegte, ob ich bei ihr klingeln sollte oder gegen die Tür bollern, doch es war so still im Haus  alles war wie immer, das hinderte mich daran, etwas zu tun, das auÃerhalb der Hausordnung stand.
Ich sprintete die Treppe hoch, erster Stock, zweiter Stock, 58 Stufen, die ich so oft gezählt hatte, wenn ich von der Schule nach Hause kam und kleine Spielchen in meinem Kopf spielte. Oben angekommen, klingelte ich Sturm. Ich war nicht mal auÃer Puste, so aufgewühlt war ich.
Ich hörte das Schellen, doch Mutter hörte es nicht. Ich war zwölf, ich hatte noch keinen eigenen Schlüssel. Wenn ich mittags aus der Schule kam, war Mutter daheim. Jetzt war sie in der Küche, bis in den Hausflur hörte ich ihr Küchenradio plärren. Im Erdgeschoà schlug die Türe zu, Schritte näherten sich, hallten durchs Haus. Ich klingelte wie verrückt. Tap, tap, tap  er folgte mir tatsächlich. Der ist verrückt, dachte ich. Endlich hörte ich Mutters Schritte, Mutter öffnete.
Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen. Stattdessen blieb ich still. Ich war verwirrt. Ich fühlte mich schuldig. Ich lief direkt ins Kinderzimmer, ich war wie versteinert. Warum war ich ihm auch in die Wohnung gefolgt? Ich hätte nie und nimmer mit ihm in seine Wohnung gehen dürfen. Ich sagte kein Wort. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten Tag. Ich sagte niemals auch nur ein einziges Wort zu irgendwem, in all den Jahren nicht, ich behielt alles für mich. Ich war schuld. Ich hätte den Vorwand erkennen müssen, mit dem er mich ins Unglück locken wollte.
Das Paar zog wenig später aus, es passte nicht in die Nachbarschaft, doch den Mann sah ich noch öfters. Er lief mir in den folgenden Jahren immer wieder über den Weg. Er erkannte mich nicht, wenn er mir entgegenkam, oder jedenfalls tat er so, als wüsste er nicht, wer ich war, doch jedes Mal, wenn er mir auf irgendeinem Bürgersteig begegnete, stur an seiner Kippe saugend und meinem Blick ausweichend, wurde mir heiÃ, mir fuhr der Schrecken in die Glieder.
Noch mit DreiÃig ist mir das passiert, als ich ihn längst um Haupteslänge überragte und mühelos hätte umhauen können. Ich bin schuldig bis heute, dass ich es nicht getan habe. Dass ich ihm nicht die riesige Nase zu Brei geschlagen habe.
ÂWas die Frau wohl an dem Zwerg findetÂ, wunderte sich Mutter.
Mittags kam ich aus der Schule. Mit meinen schreiend blonden Locken und den femininen Gesichtszügen machte ich ersten Eindruck auf Schwule, eine nervende Geschichte, die ihren Höhepunkt erst erreichte, als Drago, der verrückte schwule Kellner, für mich tanzen wollte, für einen kleinen Kuss, da war ich 25. Danach war Schluss. Danach begehrten mich Schwule nur noch vereinzelt. Schwule mögen keine älteren heterosexuellen Herrschaften.
Ich wollte gerade die Klingel drücken, da ging die Haustüre auf. Der kleine Mann stand im Flur, er war genauso erstaunt wie ich.
ÂNa, so ein ZufallÂ, sagte er.
Die Tür zur ErdgeschoÃwohnung stand offen. Ob ich mal eben anfassen könne. Er müsse ein Sofa transportieren. Zu zweit wäre das kein Problem.
ÂDauert nicht lange, Junge.Â
Wir hatten noch nie miteinander gesprochen, mal abgesehen von Guten Morgen vielleicht. Meinem ersten Impuls folgend wollte ich ablehnen. Ich wollte ihn stehen lassen, wollte einfach weitergehen, die Treppe rauf bis zum Dachgeschoss, doch dann dachte ich, was soll passieren. Wir wohnten im selben Haus, er hatte eine Frau. Was sollte schon passieren.
Er spürte, dass ich ihm nicht traute. Nur auf einen Sprung, sagte er. Er versuchte ein Lächeln, doch es wurde verdeckt von der riesigen Nase.
ÂHilfst du mir? Dann gehtÂs ganz schnell.Â
Seine Stimme war kratzig, wie Schurwolle. Es war eine tiefe kratzige Zigarettenstimme. Ich weià noch, dass ich das Gefühl hatte, da stimmt was nicht. Wo soll das Sofa denn hin? Nach drauÃen? Aber ich fragte nicht. Ich war zwölf Jahre alt. Ich wollte nett sein. Er überrumpelte mich. Ein Mann mit Lebenserfahrung und einer Nase wie aus Grimms Märchen überrumpelt 12jährigen Jungen, der zur Mittagszeit aus der Schule kommt.
Im eigenen Haus. (Später dachte ich: Mann, hat der Nerven gehabt.)
Er ging vor ins Wohnzimmer. Die Wohnung war exakt so geschnitten wie unsere Wohnung unterm Dach. Ein merkwürdiges Gefühl, diesen langen Flur zu begehen, von dem die gleichen Räume abgingen wie bei uns oben, doch mit anderen Möbeln. Es war ungefähr so, als würde ich mich im Spiegel betrachten, mit Klamotten am Leib, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er bot mir etwas zu trinken an. Ich sagte nein.
ÂLimonade?Â
Ich schüttelte den Kopf.
ÂSetz dichÂ, sagte er. ÂDu hast keinen Durst? Du möchtest doch bestimmt eine Cola. Jungs in deinem Alter wollen immer Cola. Ich hab kalte Cola..Â
ÂNein. Danke.Â
Es war Mittagszeit. Ich war hungrig. Ich wollte die Sache hier hinter mich bringen.
"Setz dich, Junge."
Ich hörte einen Vogel in der Wohnung. Ich nahm Platz. Er setze sich sofort zu mir. Er war klein und drahtig, und da war diese groÃe strenge Nase. Seine Haut wirkte aus der Nähe wie grobes Sackleinen. Wir saÃen auf einem Sofa. War es das Sofa, das wegmusste?
ÂWo soll es denn hin? fragte ich. Ich hörte den Vogel zwitschern. Ich hoffte, er flog nicht herum. Ich mochte keine frei fliegenden Vögel in Wohnungen. Mein Onkel hatte einen Sittich, wenn der durchs Zimmer flog, landete er jedes Mal auf meinem Lockenkopf und begann ein Nest zu bauen, worauf ich Panik bekam und der Vogel auch. Die flatternden Flügel verfingen sich in meinem Schopf, bis mein Onkel ein Einsehen hatte und dazwischen ging. Jeder Besuch bei meinem Onkel war eine Tortur. Ich war immer froh, wenn es vorbei war und der Vogel im Käfig.
Er rückte an mich heran. Ich sah das Pochen seiner Schläfen, alles an ihm war Schneid und Energie. Als ich unvermittelt seine Hand auf meinem Schenkel spürte, schoss die Hitze durch meinen zwölfjährigen Körper, einem Blitzschlag gleich, und ich dachte, ScheiÃe.
Erwischt.
Grobe knochige Männerfinger begannen meine Schenkel zu streicheln, zu bearbeiten, zu massieren, ungeduldig, fordernd. Ich hörte ihn schnauben. Der Vogel schrie, von irgendwoher in der Wohnung. Bei uns oben wäre der Schrei aus der Küche gekommen. Ich löste mich aus meiner Erstarrung und sprang auf, schnappte die Schultasche und rannte los. Ich wusste, wo ich hermusste. Ich war Sportler. Ich kannte den Grundriss. Ich flog durch den langen Flur zur Etagentür, drückte die Klinke runter. Als ich merkte, dass die Tür aufging, dass sie nicht abgeschlossen war, machte mein Herz einen Satz.
Im Erdgeschoà gab es noch eine zweite Wohnung. Da wohnte die nette Frau Linnert. Im Hausflur blieb ich kurz stehen, überlegte, ob ich bei ihr klingeln sollte oder gegen die Tür bollern, doch es war so still im Haus  alles war wie immer, das hinderte mich daran, etwas zu tun, das auÃerhalb der Hausordnung stand.
Ich sprintete die Treppe hoch, erster Stock, zweiter Stock, 58 Stufen, die ich so oft gezählt hatte, wenn ich von der Schule nach Hause kam und kleine Spielchen in meinem Kopf spielte. Oben angekommen, klingelte ich Sturm. Ich war nicht mal auÃer Puste, so aufgewühlt war ich.
Ich hörte das Schellen, doch Mutter hörte es nicht. Ich war zwölf, ich hatte noch keinen eigenen Schlüssel. Wenn ich mittags aus der Schule kam, war Mutter daheim. Jetzt war sie in der Küche, bis in den Hausflur hörte ich ihr Küchenradio plärren. Im Erdgeschoà schlug die Türe zu, Schritte näherten sich, hallten durchs Haus. Ich klingelte wie verrückt. Tap, tap, tap  er folgte mir tatsächlich. Der ist verrückt, dachte ich. Endlich hörte ich Mutters Schritte, Mutter öffnete.
Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen. Stattdessen blieb ich still. Ich war verwirrt. Ich fühlte mich schuldig. Ich lief direkt ins Kinderzimmer, ich war wie versteinert. Warum war ich ihm auch in die Wohnung gefolgt? Ich hätte nie und nimmer mit ihm in seine Wohnung gehen dürfen. Ich sagte kein Wort. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten Tag. Ich sagte niemals auch nur ein einziges Wort zu irgendwem, in all den Jahren nicht, ich behielt alles für mich. Ich war schuld. Ich hätte den Vorwand erkennen müssen, mit dem er mich ins Unglück locken wollte.
Das Paar zog wenig später aus, es passte nicht in die Nachbarschaft, doch den Mann sah ich noch öfters. Er lief mir in den folgenden Jahren immer wieder über den Weg. Er erkannte mich nicht, wenn er mir entgegenkam, oder jedenfalls tat er so, als wüsste er nicht, wer ich war, doch jedes Mal, wenn er mir auf irgendeinem Bürgersteig begegnete, stur an seiner Kippe saugend und meinem Blick ausweichend, wurde mir heiÃ, mir fuhr der Schrecken in die Glieder.
Noch mit DreiÃig ist mir das passiert, als ich ihn längst um Haupteslänge überragte und mühelos hätte umhauen können. Ich bin schuldig bis heute, dass ich es nicht getan habe. Dass ich ihm nicht die riesige Nase zu Brei geschlagen habe.