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Ein Foto ist die kürzest mögliche aller Geschichten

Ich kam mit dem Rad aus der Innenstadt und bog in den alten Kannenhof ein, eine steil abfallende Sackgasse, die nach zweihundert Metern endet. Dahinter beginnt der dunkle Wald, Landschaftsschutzgebiet, Wupperberge. Links am Wendeplatz der genossenschaftlichen Gartensiedlung, 1926 erbaut nach Wiener Vorbild, wohnen wir.

„Am Kannenhof wohnen ist ein bisschen wie wild zelten“, meint die Gräfin, „nur eben nicht wild.“

Wir schreiben das Jahr 1998. Sagen wir, ich schreibe das Jahr 1998, auch wenn man das niemals alleine tut. Was auch immer man tut, es sind andere Leute beteiligt. Selbst wenn man allein am Schreibtisch sitzt und sich Sachen ausdenkt, es sind andere Menschen beteiligt. Menschen, die den Tisch gezimmert haben, an dem man sitzt, zum Beispiel, ach nee, sind ja Maschinen, die das tun. Oder Menschen, die den Computer gebaut haben, an dem man schreibt, sind daran beteiligt, ach nee, sind ja Maschinen, die Computer bauen.

Na schön, wie gesagt, ich schreibe das Jahr 1998. Immer sind andere Menschen beteiligt, was man auch tut. Selbst wenn man allein am Schreibtisch sitzt und sich Geschichten ausdenkt, sind andere Menschen beteiligt, nämlich die Menschen, über die man schreibt.

So ist es besser.

So stimmt's.

Ich kam 1998 mit dem Rad aus der Innenstadt und bog in den Kannenhof ein. Mit dem Rad den steilen Kannenhof runter geht auf zweierlei Art: mit angezogener Bremse oder halsbrecherisch in voller Fahrt. Ich zog also gerade die Handbremse an, da blinkte etwas im Sonnenlicht, mitten auf dem Asphalt, wir schreiben das Jahr 1998. Sagen wir, ich stieg ab. Eine rechteckige Stofftasche lag auf dem Boden. Ich hob sie auf und war enttäuscht. Kein fettes Portmonee, wie ich im ersten Moment glaubte, wo die Hunnis rausquollen wie Salatblätter aus dem Big Mäc, nur eine hellgraue Kameratasche, aber mit Kamera drin.

Ich öffnete den Klettverschluss. Rollei, Kleinbildkamera. Rollei Prego Zoom. Sechs Bilder verknipst. Ich rollte weiter den Berg runter, vorsichtig, dass ich mich nicht aufs Maul legte, nicht ausgerechnet jetzt, als frisch gebackener Berufsfotograf.

Ich schoss das erste Foto, als ich in die Küche trat und die Gräfin am Tisch überraschte, vertieft in die Wochenendausgabe der Lokalzeitung.

„Nicht..!“ rief sie.

Zu spät. Mit Blitz. Obwohl ich das gar nicht wollte. Es blitzte einfach! Automatik!

Sie stöhnte. „Wo hast du die denn her?“

„Gefunden.“

„Echt?“

„Echt.“

„Sieht so neu aus.“

Danach lag das Ding erst mal jahrelang in der Ecke. 5 Jahre. Oder drei. Niemand interessierte sich zur Jahrtausendwende für eine analoge Kleinbildkamera. Erst 2001 fiel sie mir beim Aufräumen wieder in die Hände. Jetzt war sie nicht mehr neu. Jetzt konnte es losgehen. Ich bin ein großer Freund von abgehangenem Schinken. Fortan hielt ich das Leben um mich herum auf Fotopapier fest und klebte die Bilder ganz altmodisch in Foto-Alben ein. Ich machte fünf Alben voll, zehn, zwanzig, dreißig, ich machte fünfzig Fotoalben voll. Ich klebte Tausende von Fotos ein, und da waren ja noch die abertausend, die ich nicht einklebte, weil ich sie nicht so gut fand, weil sie verwackelt waren, weil ihnen weiss der Teufel was fehlte, weil sie scheisse waren.

Das Einkleben der Bilder war wie Zen für mich, es konnte mich stundenlang beschäftigen. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt, als ich ganze Nachmittage am offenen Wohnzimmerfenster gesessen hatte und Matchboxautos über die Fensterbank schob. Einparken übte. Loopings.

Kontemplation.

Ohne Kamera ging ich nicht mehr aus dem Haus. Selbst auf dem Weg zur Mülltonne baumelte die Rollei griffbereit am Hals, ich wusste ja nie, wann sich ein Motiv auftat und ob die Lichtverhältnisse jemals wieder so perfekt sein würden.

Auch unsere gemeinsamen Spaziergänge änderten sich, wurden langsamer. Wir kamen kaum voran, weil die Fotografiermaschine einen starken Eigengeruch hatte und dauernd in Betrieb war, wir gingen beim Spazierengehen unterwegs verloren. Wir verschollen zusehends.

Das ist kein Gehen mehr, meinte Sanne, das ist relativ flottes Stehen.

Wenn ich mal keine Landschaft fotografieren wollte, sondern Menschen, musste sie als Motiv herhalten, meine Muse. Anfangs reagierte sie genervt, wenn ich sie schon wieder im Sucher hatte, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich an mein Geknipse. Und machte ich mal ein paar Stunden lang keine Aufnahme von ihr, wurde sie gleich stinkig.

„Bin ich dir jetzt nicht mehr gut genug, oder wie!?“

An meinem 44. Geburtstag leistete ich mir eine Minolta Spiegelreflex. Keine digitale, sondern eine analoge, die noch mit Silberfilm zur Arbeit ging. Auch wenn der Verkäufer mich bis zuletzt umzustimmen versuchte, er wollte mich zukunftsfest machen, blieb ich standhaft. Wenn 99 Prozent der Leute ihre alten Apparate, die noch gut ihren Dienst versahen, für kleines Geld verschleuderten, nur um die neueste Billionen-Pixel-Kiste zu ergattern, dann kaufte ich mir erst recht eine analoge und bunkerte auf Vorrat eine Tonne Silberfilm von Kodak.

(Andererseits, weiß man wirklich, ob man nicht vielleicht doch besser der Herde gefolgt wäre..?)

Bis zum Jahr 2006 zog ich Fotolieder pfeifend durch die Strassen, ich war der Fotoapparatstreuner mit Hund. Ich entwickelte Foto-Episoden, verrutschte Abendmärchen, düstere Hitzeflecken in der City.

Es passierte, dass ich das superbste Motiv vor der Brust hatte, dass je ein Fotograf vor der Brust gehabt hatte, und dann blinkte auf dem Display der Minolta das Symbol für leere Batterien auf (nach tagelanger Warnung). Und eine Sekunde drauf war auch das Symbol erloschen; absolute Betriebseinstellung. Hektisch öffnete ich das Batteriefach und ließ die beiden kleinen Spezialbatterien in meine offene Hand purzeln, startete verzweifelte
Wiederbelebungsversuche. Ich versuchte es mit Massage, mit zartem Rubbeln und Reiben, ich versuchte es mit dem Einhauchen warmer Atemluft, nur um den beiden Säufern noch ein klein bißchen Saft herauszukitzeln, genug für ein oder zwei Bildchen..

Vergebens. Natürlich vergebens.

Zuletzt wurde es wie immer. Wie immer, wenn mir einer Sache mächtig Spaß machte. Wurde Sucht daraus. Und die Langeweile glotzte auch schon um die Ecke. Weil ich das Gefühl hatte, immer das gleiche zu fotografieren, fing ich an, die Fotos in den Alben zu untertiteln. Ich schrieb hier einen Satz drunter, da einen Absatz in Großbuchstaben, zuletzt eine ganze Story. Ich schrieb so viel, dass kaum mehr Platz blieb für Bilder, also stellte ich das Knipsen von heute auf morgen ein. Da kannst du ja auch direkt schreiben, dachte ich. Und steckte fortan wieder das Notizbuch ein. Außerdem war die Kamera kaputt. Im Urlaub in Holland war Sand in die Elektronik gerieselt.

Ich schleppte die Alben hoch auf den Speicher, und steckte auch die hundert schwarzen Filmdöschen mit verknipsten, aber noch nicht entwickelten 36er-Filmen in einen Karton, schrieb „noch nicht erledigt“ drauf, und zog los. Statt mit der Kamera wieder mit dem Notizbuch, dem Originalmaschinchen, wie damals, in den halsbrecherischen 80ern.

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