Frau ohne Arme 3
Date mit Ringo

Gegenüber des ehemaligen Wienerwald-Restaurants, das vor Jahren einem Irish Pub gewichen war, der auch schon wieder dicht gemacht hatte, jetzt war es ein leerstehendes Ladenlokal, überquerte ich den Zebrastreifen, als ich plötzlich eine laute Frauenstimme hörte, irgendwo in der Luft über mir, schrill, youbuddy.. Heyy..!!
Wie im Karneval irgendwie. Es war aber April. Die Bütt längst abgebaut.
Ich blieb mitten auf dem Überweg stehen und blickte am Appartmenthaus hoch. Da sah ich es. Ein paar Etagen über dem vernagelten Irish Pub drängelten sich zwei schwarze Frauen nebeneinader am Fenster, sie kicherten.
“YOU CUM UP!?”
Ich drehte mich um. Hinter mir war niemand, ich war der Einzige auf dem Zebrastreifen. Die meinten mich.
Es war höllisch laut.
Autos machen Krach, wenn sie unterwegs sind. Es gibt Bauarbeiter, die mit Pressluft bohren, jede Menge Weiber, die fremde Männer anjodeln: Alle lassen es krachen. Jeder, der in der Stadt zu tun hat, tut es mit Getöse. Als wäre Lärmen ein Muss.
Still schweigend lässt niemand die Stadt über sich ergehen.
“Yes, you!” winkten die Frauen aufgeregt. “You must help! Just a minit! No problem! Okeh! We come down. Just a minit! Okeh?”
Die Fußgängerampel war auf rot umgesprungen, Autos fuhren an, endlich erreichte ich die andere Straßenseite. Die beiden Frauen waren mir unbekannt, ich kannte niemanden, der im Gebäude überm alten Wienerwald wohnte. Ich traute dem Braten nicht. Was wollten die Tanten? Mir einen blasen?
“What you want!?” rief ich zum Appartment hinauf, den Kopf im Nacken.
Ich mein, natürlich träumte jede Frau davon, meinen Schwanz in den Mund zu nehmen und ordentlich durchzukauen, soweit kein Thema. Andererseits waren wir nicht im Puff in Nairobi. Die beiden schwarzen Schwestern yellten wild durcheinander in ihrem Pidgin-Englisch, während Lastwagen vorüberdonnerten und ihre Worte mitnahmen im Führerhaus. Hier fährt Horst.
Okay, rief ich hinauf. Open the door.
Mal sehen, was da los war. Was die Puppen wollten. Vorbei an staubigen Ladenfenstern und längst vergessenen Konzert-Plakaten.
In den Siebzigern, als das noch ein gutlaufendes ebenerdiges Wienerwald gewesen war, konnte man vom Bürgersteig aus den Gästen genau auf die Teller glotzen. Eine Art Food Peep Show. Einmal hatten wir Teenies unsere blanken Hintern an die Panoramascheibe gedrückt und auf geradezu soldatische Art und Weise die Arschbacken auseinandergezogen:
PRÄ-SEN-TIERT.. DIE RO-SETTE!!
Wir hatten unseren Spaß, die Gäste ihr Hendl und einen Einblick in die Hölle, die ewige dunkle Verdammnis.
Im Erdgeschoss schnappte die Eingangstür zum Appartementhaus auf. Ein schwarzes Babe winkte mich lässig heran, ein Kaugummi in Arbeit. Sie trug ein Top, unter dem sich Möpse in XXL abzeichneten, und rote Leggings.
“Schlampenfaktor 12!” hätte Ringo vermutlich schon auf den ersten Blick sämtliche Punktzahlen gezogen – plus Bonuspunkt, weil “bißchen vulgär kann nie schaden.” Ringo war vernarrt in harte Abzieher-Ladys. Er war mal mit der Lurz zusammengewesen, die einen kleinen Hund hatte, so eine richtige Kanaille, die immer..
Moment mal.
Ich durfte über all dem nicht mein Date vergessen. Ringo hatte was für mich auf der Tasche, auf das ich scharf war, und er konnte jeden Moment am Treffpunkt sein. Ich hatte hier nichts verloren. Mir tropfte schon die Nase, Tröpfchen für Tröpfchen Entzugsqualität.
Und dann siegte doch die Neugier. Auch wenn ich die Situation lieber eingepackt hätte, zum Mitnehmen, bitte, und zu Hause in aller Ruhe aufgemacht.
Zu spät.
Ich folgte der Schwarzen die Treppe hoch, starrte auf ihren Hintern, der wie ein schlingerndes Beiboot die Stufen nahm. Wartete oben ein Lude, um mich niederzuknüppeln und auszurauben? Waren das neuzugezogene Junkies, die nicht wussten, dass sie gerade dabei waren, einen alteingesessenen Junkie abzulinken?
Im dritten Stock stand eine Etagentür offen. Das schwarze Babe schlappte keuchend voraus, ich hinterher.
“Cum on in!”
Ihre Kollegin wartete bereits auf uns, im Appartement. Sie trug schwarzafrikanische Tracht, darunter, vermutlich, Minirock. Im Fernseher flackerte MTV ohne Ton.
“Can u help?” Sie zeigte auf den Hi-Fi-Turm in der Ecke. “It don’t work.. No music. Da music don’t work. Look here. Kaput.”
Theatralisch drehte sie den Lautstärkeregler rauf und runter, aber die Boxen blieben stumm.
“No sound, you hear?”
Ja, die Technik. Da hatten die beiden Sweeties aber genau den Richtigen hochgebeten. Den Massa. Ich ging in die Hocke und untersuchte den Stereoturm. Im CD-Laufwerk hatte sich eine CD verklemmt, die Klappe ließ sich nicht öffnen, trotz Kraftanstrengung. Nicht mal das Radio funktionierte. Der ganze Turm schien tot. Nirgendwo Licht, tot, alles tot. Kaput music.
“No idea”, sagte ich.
Ich zog hier am Stecker, rupfte da am Kabel, fuhr die Antenne ein und wieder aus. Nahm den Stecker noch mal in die Hand, stöpselte ihn ein. Aus. Ein. Aus. Ein.
“Ja, ist eingestöpselt!” lachte ich.
Die burschikosere der beiden schwarzen Schwestern begleitete meine Bemühungen zunehmend unfreundlich. Unter ihrer Tracht liess sie ein Paar stämmige Beine sehen, samt Wurzelwerk und Erde. Und plötzlich zeigte auch das andere Babe, das mich auf der Strasse abgeholt hatte, seine Enttäuschung und Verärgerung.
“YOU NOT CHECK?”
Sie wechselten in ihre Muttersprache. Wüstes Ghana Palaver. Einen kurzen Moment glaubte ich sogar, aus dem benachbarten Zimmer Zuhälter-Geräusche zu hören und bereitete mich innerlich auf einen Faustkampf mit Kinnhaken vor, doch nichts geschah.
“Wackelkontakt”, sagte ich einfach mal ins Blaue hinein, um die Technik zurück ins Spiel zu bringen, von der ich keinen blassen Schimmer hatte.
“What you mean?”
“Rockin’ contact”, sagte ich (tatsächlich).
Die Frauen blickten mich böse an, so als ginge ihnen jäh auf, dass der weiße Mann ahnungslos war, und zwar von so ziemlich allem, und ihr Interesse erlosch. Hastig zogen sie sich ans Fenster zurück, drängelten sich aneinander und yappten zur Strasse runter,
Hey you! Yes! Must help! Just a minit! No problem!
Im Treppenhaus sprang ich die drei Etagen bis ins Erdgeschoß runter, wie ich es als Junge getan hatte, wenn es raus ging zum Spielen: immer sechs Stufen auf einmal, wobei ich mich links und rechts an Wand und Geländer mit den Händen abstützte: Treppenhausweitsprung.
Als ich an die Luft trat, stand dort bereits der nächste weisse Hi Fi-Champ auf dem Zebrastreifen, der im Geiste schon einen schönen Quickie ausformulierte:
YES, I CUM UP!, rief er mit erregten Bäckchen zum Fenster hinauf.
Ringo!!
Geschlossen prosteten wir dem Champ zu
Das letzte halbe Jahr ging ich nicht mehr hin. Ich hatte die Nase voll. Ich war sitzen geblieben in der 11. Klasse, eine ganz und gar unnötige Geschichte, wegen einem Ungenügend im Leistungskurs Bio, einem Ungenügend in Philosophie sowie einem Ungenügend in irgendeinem anderen beknackten Nebenfach, Sozialkunde glaub ich, das von einem kruden Sozialkunde-Jesus in Jesuslatschen gegeben wurde - also, was hatte ich in diesem Laden noch zu suchen?
Am Ende der Sommerferien hatte ich die letzte Chance versemmelt, die Nachprüfung, wobei es schon gereicht hätte, in Bio auf eine 4 minus zu kommen, dann wäre ich doch noch versetzt worden, doch Vogel-Uli, der hagere Bio-Pauker, der mich auf den Tod nicht ausstehen konnte, "Glumm, Ihre ausgeprägte Ahnungslosigkeit erstaunt", verweigerte mir mit kaltem Atem das Upgrade, obwohl eine beisitzende Bio-Lehrerin mir im Nachhinein unter der Hand zu verstehen gab, dass meine Leistung an diesem Tag mindestens einer Vier entsprochen hatte.
In der neuen Klasse kam ich nicht zurecht, mir fehlten die bekannten Gesichter, die mich von der Sexta an begleitet hatten. Ich fühlte mich allein und verlassen. Wobei die dicken Freunde längst auf und davon waren. Karlos hatte das Gymnasium schon nach der Quarta verlassen müssen, ging kurz zur Realschule, wurde dann in die Hauptschule abgeschoben, die er ohne Abschlusszeugnis verließ, was aber egal war, da er ohnehin Kinski werden wollte. Der dicke Hansen war auf ein anderes aufgeschlosseneres Gymnasium gewechselt, der Mitsubishi Boy jobbte irgendwo auf dem Lager.
Ich war schon früh ein Gewohnheitstier. Ich gewöhnte mich an alles, auch an die falschen Sachen, was bedeutete, ich vermisste irgendwann auch alles. Eine Entwicklung, die schnurstracks in den Bankrott führt oder an die Spitze der Bankrotteure.
Muss man sehen, sagten die Philosofen.
Auf der anderen Seite wussten die neuen Klassenkameraden mit mir auch nichts anzufangen. Die neuen Lehrer hassten mich allein deshalb, weil ich nun in ihrer Klasse saß, mit meiner ganzen schulbekannten die Atmosphäre verpestenden Passivität, wie Vogel-Uli seine Kollegen vorgewarnt hatte - kurzum, nichts ging mehr in der Höheren Lehranstalt, und ich bald nicht mehr hin.
Um meine Eltern zu täuschen, hielt ich ein halbes Jahr lang das Bild des braven Schülers aufrecht, der jeden Morgen zur Schule ging, ganz wie im Spielfilm, wo der Ehemann längst seinen Job verloren hat, aber aus Angst vor der enttäuschten Ehefrau Tag für Tag pünktlich das Haus verlässt und bis Büroschluss die Zeit in der Nachbarstadt vertrödelt.
Morgens stand ich auf, wenn auch selten zur ersten Stunde, packte ein paar Schulsachen ein, nicht zu viele, damit die Tasche nicht zu schwer wurde, dazu ein Apfel und zwei Butterbrote, und machte mich auf die Socken. Ich strich durch die Plattenabteilungen der großen Kaufhäuser, ich saß in den stadtnahen Malteser Gründen auf der Bank.
Ab zehn, halb elf war ich im Stonns Fuot, einer zweistöckigen winzigen Hardcorekneipe am zentralen Graf Wilhelm-Platz, gleich neben dem Tchibo, und wartete, dass es Mittag wurde, Schulschluss, und ich endlich nach Hause durfte. Ab und zu trank ich ein Bier, doch meist hockte ich einfach am Tresen und blickte gelangweilt zur Glastüre hinaus in den Straßenverkehr. Nie wieder war ich so gelangweilt wie vormittags im Stonns in den späten 70ern. Ich wartete, dass irgendwelche Bekannte und Freunde zur Tür reinkamen, ich wartete, dass James, der vollbärtige Wirt, gute Musik auflegte, ich wartete auf den dicken Hellmann, der mit seinem schmuddeligen fetten Hintern so eben noch auf den Hocker passte und der Welt seine gewaltige Arschritze präsentierte.
Wenn ich ein bisschen zu kiffen hatte, verdrückte ich mich ins Grüne. Einmal saß ich auf der großen Wiese, die einem Bauern namens Pott gehörte und Potts Wiese hieß. Von Potts Wiese aus hatte man einen grandiosen Panoramablick über die Wupperberge, bis rüber nach Wuppertal-Cronenberg und nach Remscheid.
Ein warmer Wind strich durchs hohe Gras, Pferde schnaubten in der Nähe. Ich fühlte mich blass in der Sonne, blass und seltsam frei. Ich holte ein schwarzes Vokabelheft hervor und begann zu schreiben.
“Ringsum entblößen sich die Käfige..” schrieb ich, so begann mein erstes Gedicht. Das war die erste Zeile. Das war der Tag, an dem ich beschloss, Dichter zu werden. Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich ein Dichter war, der nicht mehr zur Schule ging. Dass ich schon seit Monaten nicht mehr dagewesen war. Ich war volljährig, ich hatte meine Entschuldigungen eine Zeitlang selbst geschrieben, dann hatte ich auch das sein lassen.
Als der graue Brief vom Gymnasium kam, "Ihr Sohn A. fehlt unentschuldigt seit soundsoviel Wochen und wird der Schule verwiesen", fielen meine Eltern aus allen Wolken und schlugen hart auf. Warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du so ein Heimlichtuer geworden? Nimmst du Drogen? Was soll werden? Vielleicht ein Dichter, sagte ich. Ein Schreiber.
SCHREIBEN? rief Vater.
Er war nicht richtig böse geworden, nein, es war nur so, er hatte mich nicht verstanden.. Vielleicht auch nicht, sagte ich. Vielleicht werde ich auch Trinker. Ich brauch erst mal Ferien. Ich fahre weg. Nach Portugal. An die Algarve. Wo es schön warm ist. Hier ist auch warm, sagte Mutter. Ja, aber nicht so schön warm. Du redest Unfug, sagte Mutter. Karlos fährt auch mit, sagte ich.
Karlos, schon lange der Schule und anderen lästigen Verpflichtungen enthoben, schlief bis in den Nachmittag. Manchmal kam er den ganzen Tag nicht aus dem Bett und hörte Klaus Kinksi-Schallplatten in der verqualmten kleinen Mansarde, die er bei seinen Eltern bewohnte. Manchmal las er meine Gedichte. Er schrieb selber auch welche. Sehr schön. Es konnte losgehen.
Bloß - was?
Wir verbrachten den Tag in den Malteser Gründen, zwischen verbeulten Zechern mit klumpigen roten Schnapsnasen und tranken Bier. Eine Palette Karlsquell, die übliche Einheit, 24 Dosen, die billigste Marke.
Wir lernten eine Menge schräger Figuren kennen, so wie den zwei Meter großen Hennes. Ein herzensguter Penner um die Fünfzig, der noch das letzte Stückchen Fleischwurst mit einem teilte. Wenn er voll war, und er war dauernd voll - gefangen im Korntext - begann Hennes Lieder aus der Heimat zu schmettern und dabei körperbetont zu schunkeln.
Er stammte von der Mosel, war auf Weinfesten groß geworden. Das mit dem Schunkeln wurde schnell zum Problem, weil er mit seinen wuchtigen zwei Metern und Pranken wie Pizzatellern alle Mann mit sich in die Tiefe riss. Mehr als einmal purzelten wir wild durcheinander, Weinflaschen stürzten zu Boden und zerschellten, es gab Tränen, Geschrei, blaue Flecke.
Hennes hatte seinen Pennplatz irgendwo hinter Wermelskirchen, kilometerweit entfernt. Oft schaffte er es abends nicht bis zu seinem Unterschlupf, einfach weil so spät kein Bus mehr fuhr und sich niemand erbarmte, ein stinkbesoffenes Riesenbaby mitzunehmen. Dann fiel er einfach zur Seite und schlief am Straßenrand ein.
Auch wenn Hennes das Kreuz eines Preisboxers hatte, er war lammfromm. Wenn er von seiner Kindheit erzählte, flennte er wie ein Bengel, der etwas angestellt hatte und der Mutter beichtete. Ich konnte nicht genug davon bekommen, sein Gesicht anzusehen. Er hatte große treue Hundeaugen und eine Haut wie mit Schmirgelpapier behandelt, und er mochte es, seine Freunde in die gewaltigen John Wayne-Arme zu schließen und an sich zu drücken.
Uff, stöhnte Karlos und duckte sich gekonnt unter ihm weg.
Einmal zeichnete sich ein frischer Pissfleck auf Hennes' Hose ab, er wurde größer und größer, fast wie ein Basketball. Wisst ihr, warum wir Männer lauter Unfug machen? krächzte er. Warum soviel Unglück und Leid in der Welt ist? Weil alle Männer Weltmeister werden wollen! Keiner will Vize sein!
Geschlossen prosteten wir dem Champ zu.
.Reuzech für Ringo
Ich hatte ihn lange nicht gesehen.
Ein dreiviertel Jahr vielleicht, und nun saß er neben mir an diesem gedeckten Wirtshaustisch. Um uns herum gedämpftes Palaver, Stühlerücken. Suppe wurde aufgetragen, Brotkörbchen gestellt, Pfeffer und Salz, Getränke. Schlagartig war Stille. Nur das Geklapper von Besteck war noch zu hören.
Porzellangebell.
Es war eine große ratlose Gesellschaft, die sich zu Ringos Beerdigungsfeier eingefunden hatte, auch Reuzech genannt: reuen und zechen.
Freunde von Ringo waren gekommen, Bekannte, Teile der Verwandtschaft, seine hübsche 24jährige Tochter und, nicht zuletzt, die 87jährige, beinah blinde und wunderbare Mutter, der Ringo so sehr geähnelt hatte, plus einige seiner Verflossenen, darunter Mary, die aktuelle, die letzte Geliebte, die Ringos Präferenz für einen gewissen Schlampenfaktor noch einmal trefflich bestätigte (und die es auch gewesen war, die ihn morgens tot im Bett aufgefunden hatte), - sie alle waren aufmarschiert, um Ringo das letzte Geleit zu geben.
Selbst ein Dutzend übernächtigter Hardcore-Junkies von der Platte war vor der Friedhofskapelle dem Nebel entstiegen, einige mit Blumen bewaffnet, und genauso schnell wieder abgetaucht, im bergischen Nebel.
"Das war jetzt ein Spuk, oder..?" flüsterte die Gräfin an meiner Seite.
Das abschließende Reuen und Zechen fand in einer gutbürgerlichen Gaststätte am Bärenloch statt. Der alte Holzfußboden knarzte.
"Wie isses dir?" fragte ich Tim.
Er zögerte. "Na ja.. geht so."
Tim, der bescheidenste Junkie, der mir je untergekommen war, der es hasste, Leute zu belästigen, der es hasste, belästigt zu werden, war der Präzedenzfall eines Einzelgängers. Eines schmal gewordenen Einzelgängers.
Ich mochte Tim. Es war etwas in seinem Wesen, etwas abwartend lässig-britisches, das mir imponierte. Aber es war nicht mehr zu übersehen: er war geschlaucht, er war dünn, er war fertig. Heroin geht an die Nieren, Heroin zehrt. Es verschont niemanden, der sich auf dieses Leben einlässt, so sehr man sich auch abmüht und Normalität vorgaukelt.
Soviel ich wusste, hatte Tim in den vergangenen Monaten sämtliche sozialen Verbindungen gekappt, nicht mal der Halbschwester war seine aktuelle Handynummer bekannt. Ich hatte sie in der Stadt getroffen.
"Aus einem Einzelgänger ist ein Eremit geworden", sagte sie.
Einer, der nur noch die nötigsten Drogen-Connections aufrecht hielt. Er war zum König der Wüste geworden, der Wüste in sich selbst. Ein König mit einem riesigen und leeren Königreich, ein König ohne Macht.
An diesem kühlen Novembertag, auf der Beerdigungsfeier von Ringo, saß Tim neben mir, verhuscht und durchgefroren, der Zufall hatte es so gewollt. Er zitterte, seine Nase tropfte. Die Machthaber hatten den rohstoffreichen Körper heruntergewirtschaftet, und sie gaben keine Ruhe. Der Abbau ging weiter. Sie schufteten im Akkord. Die Machthaber gaben sich nicht zufrieden. Es gab niemals genug Macht für Machthaber, und unter den ambitionierten Machthabern war Heroin der ambitionierteste. Er forderte Heerscharen von Untergebenen, er bekam Heerscharen von Untergebenen. Er forderte Tributzahlungen fern jeglicher Plausibilität, er bekam sie.
Doch bald zog mit jedem Löffel Suppe mehr Wärme in seinen Kreislauf ein, die käsige Blässe wich aus seinem Gesicht. Das Zittern wurde weniger, hörte ganz auf, und Tim wurde redselig, für seine Verhältnisse. Er sah mit einem Mal wieder aus wie zu der Zeit, als ich ihn bei Ringo kennengelernt hatte: ein Ska-Boy aus Nordengland, der zum Essen geladen war, ein junger Prinz, der wusste, wie man Canterbury zum Tanzen brachte.
“Tja-ja, der Ringomann”, sagte Tim und zeigte eine Reihe brauner Mausezähnchen. “Der Ringomann, der hat’s hinter sich, der hat's geschafft.."
Es war offensichtlich, dass Tim weniger von Ringo sprach als von sich selbst. Davon, dass er es noch nicht hinter sich hatte, dass er mittendrin steckte im Sumpf, im Struggle mit den Machthabern. Ein aussichtsloser Fight. Es gab nur die Möglichkeit, den Kampf für beendet zu erklären, das Handtuch zu werfen, andere Wege zu suchen. Aber der Tod eines guten Bekannten, eines Freundes beinah, denn das waren Ringo und Tim stets gewesen, Freunde beinah, war noch lange kein Grund, gegen die Machthaber anzustänkern, eine Revolution anzuzetteln womöglich, eine Revolution aus sich selbst heraus - nein, der Tod war kein Grund, Morphinmischern in aller Welt die Stirn zu bieten.
“Wohnst du noch unten.. in der na, wie heißt es noch.. Papageiensiedlung?” fragte ich.
Tim hatte die Geschwindigkeit erhöht, er löffelte die Suppe in sich hinein, als handelte es sich um die erste warme Mahlzeit seit dem Krieg.. seit dem Krieg mit sich selbst. Jeder Süchtige befindet sich im Weltkrieg mit den eigenen Dämonen. Tim kniete sich richtig rein. Selbst die eben noch so wächsernen Bäckchen wurden allmählich rot.
“Nee”, sagte er. "Nich mehr."
"Nicht mehr was?"
"Nee, da unten wohn ich nich mehr."
Ich blickte Tim an und fragte mich, wo eigentlich Blässe blieb, wenn sie aus einem Gesicht verschwand, wo sie sich versteckte, wohin sie sich verkrümelte bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie zurückkehrte. Denn sie war ja nicht aus der Welt. Sie würde wieder Einzug halten in diesem ebenmäßig geplünderten und immer noch schönen Jungengesicht.
"Wo dann?"
“Hm..?”
“Wo du wohnst, wenn nicht mehr.. da.”
Natürlich wollte Tim nicht darüber reden. Die Fragerei machte ihn nervös. Das ganze Thema. Er war kein halbwegs organisiertes Männchen, das wie andere halbwegs organisierte Männchen Wert auf ein Zuhause legte, im Gegenteil. Tim war ein total von außen kontrolliertes Männchen. Die Machthaber forderten drei komplette Morphinmahlzeiten täglich. Morgens ein Blech, mittags ein Blech, abends ein Riesenblech. Plus Tribute. Da blieb wenig Platz für ein Weibchen oder andere schöne Dinge im Leben.
“..hab ich verloren”, raunte er.
“Was..?”
Ich hatte gerade zum Kopfende des Tisches geguckt, wo die Mutter von Ringo saß, hager und stolz, fast neunzig Jahre alt und erblindet.
“Die Wohnung.. hab ich verloren.”
Seltsame Formulierung, dachte ich. Als wäre ihm das Dach überm Kopf plötzlich aus der Hosentasche geplumpst und weg war es, kann man nix machen, da machst du nix, ja, ist doch so.
“Du meinst, du hast die Miete nicht gezahlt.”
Er nickte.
“Wie oft?”
“Na.. ja, halbes Jahr, oder so.. Weiß nich.”
Ich blieb hartnäckig. Ich interessierte mich dafür, wie die Leute sich durchs Leben schlugen. Durch den Alltag. Ich wollte ihn ja nicht besuchen kommen. Ich wollte nur wissen, was los war in diesem Gesicht. Wo er wohnte. Tim sah sich sorgsam um. Dreißig, vielleicht vierzig Leute waren nach der Zeremonie in der Friedhofskapelle in die Gaststätte am Bärenloch gefolgt, zum Leichenschmaus.
In der Kapelle hatte mich der Sarg amüsiert, weil der so merkwürdig kurz geraten war für ein langes Elend wie Ringo. Nachdem der Pfaffe lustlos seinen Psalm runtergemümmelt hatte, wurde auf Ringos letzten Wunsch der Ghettoblaster angeworfen, ein Stück von einer CD, der Trauergesellschaft in verschämter Lautstärke präsentiert.
Was folgte, war wie ein groteskes letztes Störfeuer von Ringo, ein letztes kleines Paradestück. Man sah den Ringomann förmlich mit seinen langen Beinen auf Wolke 9 sitzen, die elektrische Ted Nugent-Gitarre geschultert, das kantige Schmugglergrinsen grinsend. Denn kaum, dass der Song vom Radiorekorder einsetzte, ein harter Southern Rock Song, so wie Ringo es gern gehabt hatte, begannen - zufälligerweise! - die Glocken der Friedhofskapelle zu läuten, ein Artilleriefeuer aus Ding-Dong, Ding-Dong, das den Song phasenweise übertönte und an die Wand drückte.
RINGO! lachte ich still. DU BIST GAGA!
“Ich wohn im Proberaum am alten Nordbahnhof”, wiederholte Tim.
“Was denn? In der stillgelegten alten Fabrik, wo früher die kubanischen Tanzkapellen geprobt haben? Ist doch arschkalt da. Da ist doch überhaupt keine Heizung, oder?”
“Ja, doch, ich hab einen kleinen Heizlüfter. Aber seit zwei Wochen ist der Strom abgestellt.”
Der Flaum auf Tims Backen, das dünne Hitzeschild, war jetzt voll im roten Bereich.
“Wenn ich breit bin, brauch ich sowieso keine Heizung, dann ist sowieso schön warm, wie mit zehn jungen Katzen im Bett”, grinste Tim, als würde er mir was neues erzählen. Er langte zum Brotkorb, nahm einen Kanten Weißbrot und tunkte ihn in die restliche Suppe.
“Irgendwann..”
Er schob den Teller kauend von sich fort, und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.
Wenig später stand ich auf und ging um den Tisch herum, bis ich den Platz erreichte, wo Ringos Mutter saß. Ich hatte das Bedürfnis, ihr zum Abschied etwas Nettes mitzugeben. Ihr Sohn war nicht an einer einzigen Überdosis gestorben, es war eine ganze Versuchsreihe gewesen, eine Überdosis nach der anderen, bis der Körper, der alte Schutzmann, den Verkehr entnervt eingestellt hatte.
Was bleibt am Ende eines Lebens?Was bleibt nach all dem Abstrampeln für ein Schäufelchen voll Anerkennung, für die Momente des Durchatmens, für die paar Highlights? Für die vielen Fuffies?
Was bleibt?
Mir fiel nichts ein.
"Ringo war ein toller Typ", kondolierte ich der alten Mutter und drückte ihre überraschend warme Hand. "Er war ein Aufrechter. Er hat sich niemals klein gemacht, er hat sich niemals auch nur für irgendetwas in seinem Leben geschämt und klein gemacht, und das war.. ja, das war toll."
"Ja, mein Ringo, mein Ringo.. er war ein Lieber, aber er war auch ein Armer", sagte seine Mutter traurig.
Mütter dürfen so etwas sagen, wenn sie weinen. Und auch wenn sie nicht weinen, dürfen sie so etwas sagen. Mütter sind die große Ausnahme, weil man sich schon kannte, bevor man zur Welt kam. Und so nah wie in den neun Monaten Storchgeschäft im Bauch der Mutter, so nah kommt man niemals wieder einem Menschen.
"Ringo war ein toller Typ."
Einer wie Tim.
Dass es so Leute noch gibt

"Dass es so Leute noch gibt", grummelte der Berater und blickte mich ratlos an, als ich ihm aus meinem Leben erzählte in einem 160.000-Einwohner-Kaff, dessen Szene er doch so gut zu kennen glaubte. "Ihr seid so was von.. tot.. So was von nicht mehr vorgesehen."
Wir saßen uns gegenüber an seinem aufgeräumten Schreibtisch. Aktenordner quollen aus dem Holzregal, Fachzeitschriften stapelten sich auf dem Boden. Es war brüllheiss in seinem engen Beratungsraum unterm Dach. Fenster aufmachen bringt nichts, hatte er gleich zur Begrüßung gesagt, das heizt sich sonst noch mehr auf.Dann haben wir aber den Backofen.
Wieder kam er auf das Gros seiner sonstigen Klienten zu sprechen, das sich, ich erzähl Ihnen sicher nichts neues, aus Leuten von der Platte zusammensetzte, Leuten, die in prekären Verhältnissen und ohne jegliche Struktur in den Tag hinein lebten, die von eher beschränktem geistigen Niveau waren und oft nicht mal den Hauptschulabschluss hatten - Leuten, die ihr Weltwissen aus amerikanischen Actionserien und Trickfilmen saugten,
Hulkwissen.
"Gestalten, die alles einwerfen, was sie in die Finger kriegen, ganz egal ob Upper, Downer oder was immer, immer nur rein damit."
Mich, beziehungsweise Leute wie mich, schien er für Typen zu halten, die sich mit intellektuellem Unterbau ausschließlich auf Heroin konzentrierten, einen IQ knapp unter seinem besaßen und schwierige Gedichte lasen.
"Ihr seid so richtige.. so.. na, wie hießen die früher, die langhaarigen Typen in amerikanischen Sixties-Romanen.."
"Hippies."
"Nee, nicht Hippies.. also schon Hippies, aber literarischer.."
"Beatniks?"
"Beatniks! Genau das! Euch gibts doch gar nicht mehr. Beziehungsweise.. euch hat's hier nie richtig gegeben.. in Berlin vielleicht, klar, in Berlin, aber in der Provinz..?"
Der Typ gefiel mir nicht. Ein Drogenberater voller Vorurteile und Klischees. Bloß weil man Abi gemacht hatte, zählte man zu den besseren Süchtigen, denen er auf Augenhöhe begegnete, während die Leute von der Platte, unter denen doch die erstaunlichsten Typen zu finden waren, wahre Großmeister des Durchwurschtelns, für ihn Abschaum waren.
Sollte einem ab einem gewissen Alter nicht klar sein, wo das wirkliche Leben stattfindet, nämlich zwischen den Dingen, die wir zu wissen und zu benennen glauben?
Das wirkliche Leben findet statt, wenn man die Klappe hält und träumt.
Andererseits war es natürlich nicht verkehrt, sich Typen wie ihn warmzuhalten, Typen von der offiziellen Seite brauchte man immer mal ganz plötzlich, ganz dringend, Typen, die am Stellwerk arbeiteten, die wichtige Kontakte hatten, die ein Wort einlegen konnten zur rechten Zeit.
Und er hatte ja Recht. Es gab uns nicht nur nicht mehr, wir waren nicht nur weg vom Fenster, wir waren nicht nur unser eigener dunkler Schatten geworden und hatten uns nicht nur selber von der Bildfläche geixt, ach was! Es hatte uns nie gegeben, wir waren bloß schön fassad gewesen.
Hatte Ringo früher nur noch ein goldener Schneidezahn und ein Sombrero gefehlt und er wäre als Freischärler durchgegangen, als Guerillero, der auf leuchtenden Pfaden durch die Berge reitet und nachts armen Opiumbauern die Ernte raubt, so ging Ringo in seinen späten Tagen als Angestellter durch, der morgens um acht den Vorortzug nach Düsseldorf nahm, und da konnte ihm noch so viel golden-brauner Heroinrotz aus der Nase tropfen, Reste der Frühverköstigung:
Vorortzug blieb Vorortzug.
Dass wir süchtig geworden waren auf unserem langen Ritt durch die 80er und 90er - geschenkt. Ein endloser Betriebsunfall. Als hätte man im Eifer des Gedichts jeden Morgen die Hose falschrum angezogen und nun saßen die Gesäßtaschen wie angegossen vorn an den Lenden und juckten wie Sau - na ja und?! Es gab schlimmeres! Gab es Schlimmeres? Für den Einzelnen? Als Sucht?
Das war hier die Frage, das ist die Frage, die hier gestellt wird, das ist es, was ich nicht gebacken kriege, wo mir keine Antwort einfällt, vielleicht auch weil ich nicht richtig ausleuchte. Nur Häppchen hinwerfe.
Fresst.
Fragt nicht.
Ich frag auch nicht.
Beatniks waren wir nicht mehr. Das war vorbei. So gesehen hatte der Mann von der Drogenberatung recht. Es stimmte. "Da kommen die Intellektuellen!" rief längst niemand mehr, wenn wir mit vier Mann und drei Puppen auf einer Party einliefen. Erstens gab es keine Party mehr, wo man noch hätte einlaufen können, zweitens waren die drei relevanten Puppen verheiratet, drittens waren die Intellektuellen am Ende immer besoffener gewesen als der ganze verdammte Rest.
Weshalb am Ende auch niemand mehr "Da kommen die Intellektuellen!" gerufen hatte, sondern da kommen die Trinker. Die Koksnasen. Die Polytoxikomanen.
Die Multiplen.
Ich saß in der Kammer unterm Dach. Es war drückend heiß, und durch die geschlossene Dachluke hörte man das verzweifelte Blöken der Kühe, die keinen Schatten auf Potts Wiese fanden und sich lauthals beim Bauer beschwerten - hol uns rein! Mach uns lecker was zu trinken! Wir haben die Kuhnase voll, Bauer Pott!
Ich saß beim Drogenberater und hörte mir an, was der Mann zu sagen hatte - tausend Mal geschwurbeltes Geschwurbel von einem Mann, der aus beruflichen Gründen Tag um Tag Süchtigen gegenüber saß, die nur eines von ihm wollten: den Anwesenheitsstempel. Die Bestätigung, dass man seine psychologische Hilfe in Anspruch nahm, eiserne Voraussetzung, um überhaupt ins Methadonprogramm eines niedergelassenen Arztes übernommen zu werden.
Wir waren der verdammte Rest. Es gab uns nicht mehr. Es gab uns nicht mehr, weil es uns nie gegeben hatte, vielleicht auch weil wir genau wie die Anderen geworden waren, schon immer so gewesen waren. Wir nahmen den Vorortzug morgen um acht nach Düsseldorf, wir waren erwachsen gewordene Babyboomer, die ihre Burn out-Probleme von Abteil zu Abteil schoben wie ihre verdammten weißen Fischbäuche, die niemand sehen wollte, weil einem die Werbung ständig andere Sachen suggerierte, Sachen mit Muskeln, keine verdammten dicken weißen Bäuche.
Wir waren Design geworden, Allerweltsdesign.
Und weil wir als Süchtel gewöhnt waren, uns im Alltag zu suhlen, suhlten wir uns jetzt eben in Normalität - und gingen schneller unter als der Cleanste unter der Sonne.
"Ihr seid so was von.. tot!"
Sophisticated
Ich war sechzehn, ich war siebzehn, dann 18 und schließlich neunzehn, und die ganze Zeit lagen zwei Taschenbücher neben meinem Bett: Gammler, Zen und Hohe Berge von Jack Kerouac und A Wop Bop A Loo Bop A Lop Bam Boom von Nik Cohn. Immer griffbereit. Auf dem Nachttisch. Zwei schmale Bücher. Mit einem kleinen Unterschied.
Gammler, Zen und Hohe Berge von Jack Kerouac, ein rororo-Bändchen, das laut Klappentext von Cool Jazz und LSD handelte, habe ich nie gelesen. Ich hab es schätzungsweise zehn Mal angefangen und zehn Mal weggelegt. Aber das war auch nicht so wichtig. Bei Gammler, Zen und Hohe Berge ging es allein um die Verheißung, die von diesem Buch ausging, vom geheimnisvoll und fremd klingenden Titel, vom Cover, das weite Horizonte zeigte und Linien, stilisierte Formen von Freiheit;
Amerika.
Nicht so sehr darum, was wirklich drin stand.
Zur gleichen Zeit, wir befinden uns im Jahre des Herren 1976 immerdar, begannen meine Locken zu spriessen. Meine Pubertät war ein Feuerwerk. Das Haar explodierte. Es franste aus in tausendundeiner Richtung, es verschachtelte sich in- und übereinander, eine gewiefte Nicht-Konstruktion, Locken wie Ausschreitungen.
Krauses Haar, krause Gedanken, sagten die Leute. Da lagen sie gar nicht mal so verkehrt.
Dazu trug ich den ausgemusterten schwarzen Persianer meiner Mutter, den ich vom Speicher geholt hatte, den Operettenmantel, wie er in der Familie genannt wurde. Ich sah aus wie ein schräger russischer Fürst auf Obeinen.
Ich war nicht der einzige, der den alten Persianer seiner Mutter auftrug, es war wie eine Welle unter Jugendlichen, die schnell Fahrt aufnahm. Karlos erschien eines Morgens in einem braunen Pelzimitat in der Schule, das an ein Bärenfell erinnerte. Der Mantel war viel zu groß, Karlos sah aus wie ein aufgeplusterter Grizzly. Wir steckten ihm ein Glas Bienenhonig Extra in die Manteltasche und reizten ihn mit Stöcken, bis er wie ein gaga gewordener Tanzbär über den Schulhof torkelte - zweifellos, Karlos war der Hit.
Das Tragen alter Mutti-Klamotten war unser Protest gegen die kleinbürgerliche und duckmäuserische Was-sollen-denn-die-Nachbarn-denken-Haltung unserer Eltern, das brachte uns wirklich auf die Barrikaden. Dieser Satz, der das Jungsein in den Siebzigern zu 100 Prozent abdeckte:
WAS SOLLEN DENN DIE NACHBARN DENKEN!
Woran sich wenig geändert hat. Jedes Mal, wenn in der deutschen Gegenwart wieder irgendetwas zum NO GO! erklärt wird, zum nächsten Tabu, zur nächsten Todsünde, muss ich daran denken, was in Wahrheit dahinter steckt, nichts anderes als: DAS TUT MAN NICHT! Was sollen denn die Nachbarn denken!
Es bündelt die deutsche Angst aufzufallen, herauszuragen aus der Masse, so als wäre es erste Bürgerpflicht, nichts darzustellen im Leben, lieber als durchgestylte Null ins Grab zu rauschen.
Das ganze Land schien vor Angst erstarrt 1977. Man hatte Angst vor der RAF, Angst vor Drogen, Angst vorm Nachbarn. Deutschland, großes Angstland. Während die USA die Mondlandung hatten, Andy Warhol und Campbells Dosensuppen, hatten wir Sonnen Bassermann und Schiss in der Buxe.
Aber nicht mit mir. Ohne mich. Da wollte ich nicht mitmachen. Nicht mit 17. Ich wurde ein Gammler und tat: nichts. NICHT war überhaupt die große Überschrift in jenen Tagen. Ich ging irgendwann NICHT mehr in die Schule, ich spielte NICHT mehr im Fußballverein, ich ging NICHT MEHR zu Familienfeiern. Ich wurde so destruktiv, dass ich alles mit meiner Passivität verpestete. Dazu Locken wie Ausschreitungen und der schwarze Persianer meiner Mutter, mein Gott, was müssen damals die Nachbarn gedacht haben.
Meine Eltern tun mir noch im Nachhinein leid. Mit der Furcht aufzufallen war ihre Generation aufgewachsen. Im Dritten Reich aufzufallen war gefährlich. Früh am Abend ging meine Großmutter ums Haus herum und schloss sorgsam die Schlagläden, damit die Nachbarn nicht hören konnten, wie bei Glumms über die Nazis hergezogen wurde. (Was sie Jahre zuvor nicht daran gehindert hatte, NSDAP zu wählen.) 1940 konnte es lebensgefährlich sein, was die Nachbarn von einem dachten.
Ich hole zu weit aus? Nicht wirklich. Schliesslich befinden wir uns Mitte der 70er Jahre, und da bin ich 16 Jahre alt und zwei explosive Bücher liegen neben meinem Bett, und die alten Nazis sind noch überall, sie leben.
Wenn ich 1976 Bus fuhr mit meiner Struwwelpetermatte konnte es passieren, dass mir ein Nazi-Rentner von hinten am Haar zog, DU ZIGEUNER brüllte und von Arbeitslager schimpfte, das hätte es beim Adolf nicht gegeben.
Beim Adolf, so lernten wir damals, muss die schönste und gemütlichste Kneipe gewesen sein, in der Deutschland je zusammengefunden hatte. Warum hatte die eigentlich zugemacht? Mit Bier liess sich doch immer Geld verdienen.
All das hatte für mich mit Gammler, Zen und Hohe Berge zu tun, ohne dass ich das Buch je gelesen hätte. Es reichte aus, Gammler, Zen und Hohe Berge auf dem Nachttisch so zu platzieren, dass es jedem Besucher sofort ins Auge fiel.
Es war ein Statement, an Deutlichkeit schwer zu toppen.
*
Das andere Buch dagegen, A Wop Bop A Loo Bop A Lop Bam Boom von Nik Cohn, ist bis heute mein Rock’n Roll-Mantra, ich hatte es gelesen. Und wie. Ich hatte es mit Klauen und Zähnen gelesen, wieder und wieder hatte ich es mir einverleibt, ohne Ende. Nik Cohn, britischer Musikjournalist, erzählt darin die Story des Rock’n Roll, von seinen Anfängen bis etwa 1970, dem Termin der Drucklegung.
Vergangene Woche wollte es der Zufall, dass mir ein bestimmtes Wort nicht einfiel. Es war nicht so, dass ich das Wort für einen Text benötigte, ich wollte das Wort einfach noch mal lesen. Es war mir lange nicht begegnet, zu lange, wie ich fand, und ich spürte den Wunsch, es aus der Versenkung zu holen. Noch mal zu lesen.
Ich wusste, wo ich es zu suchen hatte.
Ich nahm das zerfledderte A Wop Bop A Loo Bop-Taschenbuch, das von keinem Umschlag mehr zusammengehalten wird, und machte mich auf die Suche. Dummerweise hatte ich das Wort aber so lange nicht gelesen, ich wusste nicht mal, ob es sich um ein Hauptwort handelte oder um ein Adjektiv. Ich wusste nur noch um seine ungefähre Bedeutung: hip, camp, verdreht, mit einem schönen Schuss Intellekt und Philosophie. Und dass es englisch war. Das auch. Nicht übersetzbar.
Die Suche dauerte anderthalb Tage.
Ich verwickelte die Gräfin in die Fahndung, nachdem sie sich gewundert hatte, warum ich so konzentriert und gleichzeitig wie nebenbei in dem nikotingelben Taschenbuch ohne Cover blätterte, von dem sie nur eines wusste: dass es aus meinen Jugendtagen stammte und dass ich es verehrte wie kein zweites. Tatsächlich hab ich nie wieder so ein leidenschaftliches Werk gelesen. Cohn pflegt einen wilden urbanen Schreibstil, absolut subjektiv.
Was ihm gefällt, wie die Stones oder Little Richard, feiert er hemmungslos, er verfeuert eine Rakete nach der anderen für seine Helden, was ihn langweilt, wie Bob Dylan oder die Doors, das rotzt er auf den Boden und tritt noch drauf beim Weitergehen. Ein gnadenloser Schreiber.
Ich stiess auf das Wort im eigentlich unverdächtigen Beatles-Kapitel. Dabei hätte ich es eher bei Bob Dylan im Folk/Rock-Kapitel vermutet, oder vielleicht bei Phil Spector oder Rue Morgue, 1960. Stattdessen also in dem Kapitel, vor dem es Cohn am meisten gegraut hatte, weil schon damals alles über die Fab Four geschrieben schien.
Das Wort, das ich suchte, taucht im Zusammenhang mit Stu Sutcliffe auf, dem früh verstorbenen Ur-Beatle, der stets Sonnenbrille trug, auch bei Dunkelheit, und der, so Nik Cohn, Image von Natur aus war. Ihm gebührt das Wort, das Wort lautet sophisticated.
HIER ISSES! rief ich überwältigt und trug es laut vor.
Na Gottseidank, seufzte die Gräfin.
Zurück in den Regen
Mittlerweile waren die meisten Leute, die mich grüßten, wenn ich durch die Stadt ging, Junkies. Das lag natürlich auch daran, dass andere Leute tagsüber gar nicht die Zeit hatten, durch die Stadt zu streunen und Leute zu grüßen.
“Was macht eigentlich der Lange, der.. verflucht, wie hieß er noch..? Der lange Stan?” fragte ich Giovanni, den ich nach Jahren zufällig wiedergetroffen hatte.
“Der lange Stan.? Der ist längst tot”, antwortete Giovanni.
“Der ist auch tot? Im Ernst..? Seit wann?”
“Na, den hat man doch direkt vorm Parkhaus gefunden, die Pumpe noch im Arm. Ist aber schon lange her."
"Wie lange schon?"
"Hm. Ein halbes Jahr.”
"Ein halbes Jahr? Ist doch nicht lange."
Die alten Knaben starben wie die Fliegen. Selbst die härtesten, die zähesten Brüder gaben den Geist auf. Jahrzehntelang malträtiert, machten die inneren Organe schlapp, Dominosteinen gleich fielen sie nacheinander um, plopp plopp.
Doppelplopp.
Es gab auch Überraschungen. Leute, die sich fingen, in einem Alter, wo niemand mehr einen Penny auf sie setzte. Giovanni, der kleine Italiener, bei dem ich eine Weile Schore gekauft hatte, war eine späte Überraschung. In den Neunzigern lebte er mit einer Italienerin, deren Arme dürr waren wie ein Bündel Holz, und zwei kleinen Kindern in einer abgetakelten Sozialwohnung, bei deren Betreten man das Gefühl hatte, in einen Erdbunker zu steigen. In das dunkle Verliess von Ali Baba.
Ein bisschen schämten sich die beiden, in so einer dunklen Bude zu hausen, wo im Sommer ein Gestank in der Luft war, als liefe man in Neapel der Müllabfuhr hinterher, bei brütender Hitze. Und das mit zwei Kindern auf nicht mal anderthalb Zimmern und einem Klo, das diesen Namen nicht verdiente. Ein selbstgebasteltes abenteuerliches Geflecht aus einem Wassereimer, der halb gefüllt hinterm WC hing und bei Aktivierung durch eine runterbaumelnde Strippe umkippte und den Pott flutete. Kleine Geschäfte gingen auf diese Art runter, bei großen musste mit der Klobürste oder der Hand nachgeholfen werden. Es war jedes Mal eine Stippvisite in der Dritten Welt, bei Giovanni Stoff zu kaufen. Am schrägsten war es, wenn man spätabends kam und leise sein musste, weil die Kinder schon schliefen, aber das Radio dudelte so laut Puccini, dass die Nachbarn an die Wand klopften.
Fünfzehn Jahre später sah ich ihn auf der Strasse wieder, wir fielen uns in die Arme. Es regnete, wir gingen ein paar gemeinsame Schritte unterm Regenschirm, wie Brüder. Er war rasiert, er war schlank, er war clean. Er sah große Klasse aus. Wir sprachen über den langen Stan.
"Ist mir gar nicht aufgefallen, dass der tot ist", sagte ich.
"Na, ist ja auch kein Wunder", meinte Giovanni.
Tatsächlich war Stan immer mal ein paar Monate im Bau und ein paar Monate draussen, so ging das ständig hin und her, im fliegenden Wechsel. Der lange Stan. Ein redlicher Süchtiger. Wenn er mit seinen langen Zotteln und Zahnreihen ohne Zähnen die Warenhäuser der Stadt betrat, schlugen alle Kaufhaushunde Alarm. Was Stan jedoch niemals davon abhielt, umgehend die Parfüm-Abteilung aufzusuchen, mit riesigen hängenden Manteltaschen. Er war der Zwei-Meter-Columbo aller Süchtigen, und er rauchte Zigarillos.
Der lange Stan, die dreiste Notwendigkeit, die personifizierte Platte, der Mann, der keinen Hehl aus seiner Sucht machte und stets geradeaus war.
Dass ich Stan so lange nicht gesehen hatte, lag also an einer Pumpe in der Tiefe seine Armbeuge und nicht etwa am nächsten Aufenthalt in der JVA Siemonshöfchen, Wuppertal, wegen pathologisch fortgesetztem Ladendiebstahl. So war das also.
Als ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, war Stan gerade aus der Haft entlassen worden und auf dem Weg zu seiner Stammkundschaft in den Kneipen rund um den Neumarkt, zu all den alten Hartz 4-Hasen, die sich aufgrund Stans selbstlosem Warenhaus-Einsatz auch mal einen Flakon fürs Weib leisten konnten.
Ich fragte Stan, wie es geht und so. Ob er eine Wohnung habe, ob er im Methadon-Programm untergekommen sei. Bloß nicht, antwortete Stan, den Rucksack voller Aluminiumfolie zum Blowen, und dass er absolut keinen Nerv auf Methadon habe und lieber beim Originalstoff bleibe.
"Ich hab ein einziges Mal im Bau einen Metha-Affen geschoben, seitdem hab ich Respekt davor. Das brauche ich nicht noch mal. Das war der härteste und längste Entzug, den ich je durchgemacht hab."
Eines aber trieb Stan, eins fünfundneunzig lang, Zahnreihen ohne Zähne und Beine dünn wie Zündhölzer, die Zornesröte ins Gesicht. Im Büro des Gefängnisarztes hatte er kurz vor der Entlassung einen Blick in seine Akten werfen können und etwas von Borderline-Syndrom gelesen, schwerer Persönlichkeitsstörung, sowie einer irreversiblen Absenkung des Brustkorbs.
“Ich und Borderline, und das nur weil ich seit über dreißig Jahren saufe und drogensüchtig bin?! Alter, sag mal, wie scheiße schräg sind die Penner denn drauf??!”
Giovanni und ich lachten noch über die kleine Anekdote, als wir uns Ecke Cronenberger Strasse verabschiedeten, zurück in den Regen.
Die Dinge waren Honig im Sommer 88

Die Tussi blieb unbeeindruckt. Beim Ausfüllen des Personalbogens hatte ich wahrheitsgemäß angegeben, seit drei Jahren arbeitslos zu sein, doch das kümmerte sie nicht weiter. Ebenso wenig die Tatsache, dass ich weder Führerschein besaß noch Messer schleifen konnte noch CNC-Fräsen beherrschte, TÜV-Zertifiziert. Erst als sie die Rubrik Stundenlohnvorstellung erreichte, stutzte sie.
“Sechzehn Mark..?"
Sie blickte auf.
"Nee, junger Mann, können wir gleich vergessen. Wir hatten an elf gedacht. Elf Mark, nicht sechzehn.”
“Na, schon..”, setzte ich an.
Sie wartete.
“Aber..?”
“.. na, beim letzten Job hab ich elf fünfundsiebzig gekriegt.”
“11, 75? Hups. Das sind ja gerade mal fünfundsiebzig Pfennig mehr."
Sie rückte die Brille zurecht und fixierte mich.
"Warum fordern Sie denn plötzlich so viel mehr?”
“Warum..? Weil man mit dem bisschen Kohle nicht hinkommt. Könnten Sie nicht.. sagen wir, einen anderen Grund angeben, warum Sie mich nicht einstellen?”
“Was denn?”
Eigentlich sah sie doch ganz nett aus, so als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Verwuscheltes Haar, chinesische Teezähnchen. Eine Personalchefin muss kein Top-Mannequin sein. Die kann ruhig gerade aus dem Bett kommen, das Haar in alle Richtungen, Hauptsache, sie hat seriöse Träume gehabt, und man sieht es ihr an. Dazu das neugierige platte Näschen, wie niedlich. Als wäre der Deckel des Brutkastens zu fest aufdgedrückt gewesen, aber nur ein ganz kleines bisschen.
“Vielleicht.. dass ich untauglich wäre für den Job?”
“Das ist einfache Maschinenarbeit. Das kann jeder.” Sie gackerte.
“Hm ja.. Oder Sie hätten sich für einen anderen Bewerber entschieden. Es haben sich doch mehrere Leute vorgestellt, oder nicht.”
“Damit wir uns recht verstehen, junger Mann.” Ihre Stimme bekam diesen harschen Klang, als drückte sie plötzlich den Kehlkopf durch und stünde kerzengerade vor mir. “Wir suchen Mitarbeiter für mehrere Maschinen, und soviel Leute hat uns das Arbeitsamt gar nicht geschickt. Und den meisten, die erschienen sind, ist der Stundenlohn zu gering.”
Dabei ging es gar nicht um den Stundenlohn. Ich hatte einfach keine Zeit für den Job, ich hatte genug zu tun. Nachmittags war ich Kofferträger im Hotel und verteilte das Gepäck der ankommenden Reisegruppen, nachts arbeitete ich an der Rezeption und beschiss den Chef, wenn ich ein Zimmer schwarz vermietete. Ich klüngelte an allen Fronten. Die Dinge liefen gut im Sommer 88. Ich war seit anderthalb Jahren mit der Gräfin zusammen, die Sonne war draussen, ich hatte Bargeld satt. Die Dinge waren Honig im Sommer 88.
Nur wenn ich die Zeitung aufschlug, wurde mir mulmig. Konjunkturaufschwung, musste ich lesen.Jobs, Jobs, Jobs. Was befürchten liess, dass selbst für einen Drückeberger wie mich ein Pöstchen heraussprang, ein sozialversicherungspflichtiges, versteht sich. Aber davon hatte niemand etwas. Ich würde alles nur kaputtmachen mit meinen zwei linken Händen und Kopfhälften. Nein, nein, es konnte alles so bleiben, wie es war. Das war für alle Beteiligten die beste Lösung.
Pünktlich zum Monatsende überwies Nürnberg die Arbeitslosenhilfe auf mein Konto, das war zwar nicht die Welt, doch es reichte für Miete, Strom und eine Tageszeitung. Und für den Rest, für das High Life, wie meine Eltern es nannten, jobbte ich im Turmhotel.
Bezahlt wurde cash auf die Hand. Dollars fürs Koffertragen, D-Mark für den Nachtdienst. Ich kam mir vor wie Onkel Dagobert im Geldspeicher. Ich schwamm geradezu in Zwannis und abgegriffenen Dollarnoten. “Things are really honey”, sang ich vor mich hin, eine Zeile aus einem Popsong, ich hatte vergessen, welcher. War auch nicht wichtig. Die Dinge waren beste Imkerware,jedenfalls bis zu diesem Tag, diesem Vorstellungstermin in einem Wuppertaler Gewerbegebiet, bei Frau Patzke.
Es war ja so: Mit Siebenundzwanzig wusste ich immer noch nicht, was ich mal werden wollte, wenn ich groß bin. Es war das alte Problem. Schon Jahre zuvor, als Pepe im Knast saß und wir uns gegenseitig lange Briefe schrieben, war Pepe auf den Punkt gekommen.
Er beschwerte sich darüber, dass dieser Staat sich anmaßte, darüber zu entscheiden, welche Drogen seine Bürger nehmen dürften und welche nicht.
Die sollen uns in Ruhe lassen, schrieb Pepe zornig, wir tun diesem Land doch nichts. Wir gehen unserer Arbeit nach, wir zahlen Steuern, da können wir abends was kiffen oder ein Näschen Koks ziehen, ganz wie wir wollen, das geht keinen etwas an, den Staat schon mal gar nicht.
Er zählte Kumpel auf, die ihrer Arbeit nachgingen und Steuern zahlten. Zuletzt kam er bei mir an, und jäh riss der Faden. Es wollte ihm partout keine bezahlte Beschäftigung einfallen, die zu mir passte.
Du bist ein Outlaw, schrieb er. Schreib einen Sommerhit, dann hast du ausgesorgt. Sonst seh ich schwarz.
Das Gespräch war am Tiefpunkt angekommen.
“Frau..”, ich blickte auf ihr Namenschildchen, “.. Patzke, ich muss jedes Jobangebot annehmen, ich kann gar nicht ablehnen. Wenn Sie unbedingt wollen, dass ich hier anfange, muss ich das tun, wohl oder übel. Sonst sperrt mir das Arbeitsamt die Zahlung. Aber große Freude werden Sie nicht an mir haben."”
Die Leiterin des Personalbüros starrte mich an. Da war nichts mehr mit Stupsgesicht und Teezähnchen und Träumen, da war nur noch Brille, Kassengestell, und zwischenmenschliche Vollstörung. Ich war zu weit gegangen.
“Also, das müssen Sie schon selbst entscheiden”, giftete sie, “ob Sie mit elf Mark Stundenlohn bei einer Vierzig-Stunden-Woche zufrieden sind. Wenn ja, können Sie Montagfrüh anfangen, Punkt sieben Uhr dreißig, wenn nicht, dann nicht.”
Das Gespräch neigte sich dem Ende zu, mit riesigen Schritten. Es war schon draussen auf dem Flur und suchte den Ausgang. Ich saß in der Falle. Das war exakt die Situation, die man bei einem Vorstellungsgespräch unbedingt vermeiden sollte: Wenn nichts mehr vor oder zurück ging und man selbst der Gelackmeierte war in der ganzen Geschichte.
“Elf Mark sind zu wenig”, wiederholte ich. “Da bleiben gerade tausend Mark im Monat.”
Sie zog eine veraltete Rechenmaschine heran und tippte mit flinken Fingern Zahlen ein.
“.. genau elfhundertneunzig netto, Steuerklasse eins.”
Ich griff zur finalen Maßnahme.
“Sie hätten doch gar nichts davon, wenn ich hier Montag anfange und nach, sagen wir, zwei, drei Wochen wieder in den Sack haue.”
“Da haben Sie wohl recht”, sagte sie und erhob sich. “Davon hätte ich nur jede Menge Papierkram.”
Sie ging zur Tür und öffnete sie, flankiert von einer kühlen Kopfbewegung: UND JETZT RAUS HIER, FAULER POLAKKE!
Ich hatte Glück. Ich hörte nie wieder von der Firma, auch das Amt kam nicht auf das Stellenangebot zurück. Als der Herbst nahte, sah die Sache anders aus. Im September kamen noch Amerikaner, die Europa besuchten und sich das Gepäck aufs Zimmer bringen liessen, doch Anfang November war Sense. Am 10. Dezember hatte ich exakt 25 Pfennig auf dem Konto.
Aber die holte ich mir ab.
Ohrfeigengesicht

Ich fuhr mit der Linie 3 Richtung Innenstadt, als Jack zustieg. Oben am Zentral, wo Pina Bausch aufgewachsen ist. Hände wie ein Werkzeugmacher, eine Stimme wie ein Aufzug, der im Kellergeschoß hält und nicht mehr vom Fleck kommt. Also Jack jetzt.
Ob ich das vom Ohrfeigengesicht schon gehört hätte. Nee, wieso.
Na, der wäre ja jetzt auch tot.
Erst wusste ich nicht genau, wer mit Ohrfeigengesicht gemeint war, dann störte mich die Formulierung auch tot - wieso auch tot? Wer war denn noch tot? Bekam ich überhaupt noch was mit? Lebte ich noch in dieser Stadt?
Immerhin, den Namen Ohrfeigengesicht hatte ich schon gehört, war ja auch einprägsam, unverwechselbar eigentlich, doch welches Gesicht gehörte dazu? Ich kam nicht drauf. Mein Namensgedächtnis ähnelte zunehmend einer Grube, in der im Laufe der Jahre ganze Kasernen an Namen verschütt gegangen waren, Mietskasernen mit doppelt und dreifach Klingelleisten. Zurückgeblieben waren bloß Namensschildchen, lose im Gedächtnis-Schutt, ohne Verbindung, ohne Geschichte. Sinnlose Zeichen.
Und außerdem: Waren die Straßen der Stadt nicht voller Ohrfeigengesichter und anderen abgewatschten Visagen? JETZT MIT NOCH MEHR MONSTERN!? Eine visuelle Gesamtstörung, die besonders Leuten auffiel, die von außerhalb kamen und erschreckten, was sich hier alles tummelte im Stadtbild, ohne weggesperrt zu werden?
“Moment mal.. Ohrfeigengesicht. War das nicht der Typ mit Zopf, der Spüli vertickt hat als Codeinsaft..?”
“Nee, das war der Saarländer. Das Ohrfeigengesicht war der Typ auf dem Mofa, den kanntest du auch, den kannte jeder. Der saß immer steif auf dem Mofa, wenn er zum Hilten kam.”
“Hm. So kerzengerade, der?”
“Genau der.”
Ein komischer Kauz. Er kam morgens auf seiner alten puffroten Zündapp zur Praxis von Doktor Hilten geknattert, um seine Dosis Methadon abzuschlucken. Dann setzte er sich wieder aufs Mofa und bretterte nach Hause. Was anderes tat er nicht, jedenfalls wurde er nie bei etwas anderem beobachtet, außer Methadon schlucken und Mofa fahren.
Ein gedrungener bulliger Typ, der niemals lachte und sich so steif bewegte, als wäre er jahrelang bei der Fremdenlegion gewesen, ohne je geschissen zu haben. Den wahren Grund seiner Steifheit erfuhr ich erst im Bus der Linie 3, in Höhe Wasserturm.
Jack erzählte, dass sich das Ohrfeigengesicht bei einem schweren Verkehrsunfall beinahe das Rückgrat gebrochen hatte. Seitdem musste er dieses medizinische Korsett unter der Kleidung tragen, das zu dieser ungemütlichen Körperhaltung führte.
“Der hätte nicht mehr Mofa fahren dürfen. Der konnte sich kaum noch auf der Karre halten, mit all den Schrauben und Eisen im Kreuz. Der war eine wandelnde Ruine.”
Ich versuchte mir das Gesicht des Ohrfeigengesichts vorzustellen, was nicht so einfach war, da der Bursche den Helm fast nie abgenommen hatte. Wenn er mit einem sprach, klappte er einfach das Visier hoch und nuschelte monoton ins Futter.
“Leg doch mal endlich den fucking Helm ab!” hörte ich einmal, wie ihn jemand anpflaumte, “man versteht dich nicht!”, doch das berührte das Ohrfeigengesicht nicht. Und wer ihn doch mal ohne Helm erblickte, verstand auch, warum. Er sah aus, als habe ein Kampfhund versucht, ihm den Schlaf aus dem Auge zu reiben, und dabei gewaltig daneben gelangt. Die Stirn war so voller Narben und Katschen, dass Ohrfeigengesicht schon eine Untertreibung war, ein Kosename fast.
Das Ohrfeigengesicht starb im Spätsommer 2009, als außer ihm noch weitere Junkies ihr Leben ließen, alles geschwächte langjährige Konsumenten. Erst hieß es, ungewöhnlich sauberer Stoff sei in Umlauf gewesen, dann stellte sich heraus, dass es damit nichts zu tun hatte, jeder der Drei war seinen eigenen Tod gestorben, nur eben zufällig zur gleichen Zeit.
Längst nicht jeder Junkie stirbt an einer Überdosis. Es ist eher so, dass die Leute sich aufhängen, weil sie die Sucht nicht mehr ertragen, oder ihre Organe versagen, oder sie bekommen Krebs wie jeder andere Mensch auch. Oder sie sind müde und schlafen ein und werden morgens nicht mehr wach, von einem Gehirnschlag überrascht.
Oder sie ersticken, wie es Jack beinahe passiert war, der neben mir im Bus saß.
1999, nach der nächsten Strafanzeige wegen Ladendiebstahl, kleineren Drogenvergehen und Urkundenfälschung brummte ihm ein Richter dreißig Monate ohne Bewährung auf.
“Die Milleniums-Party findet für Sie in der JVA Bochum statt.”
Zur Feier wehten weiße Bettlaken aus den Zellenfenstern und wurden abgefackelt. Da dachte Jack, gerade in Bochum angekommen, ich zeig den Knackis mal, was eine Harke ist, und bereitete ein dickes Ding vor. Er nahm die Matratze, quetschte sie mühselig zwischen den Gitterstäben hindurch und zündete sie an. Nicht gerechnet hatte er mit der immensen Brennbarkeit von Matratzen und der Rauchentwicklung. Während die Matratze vorm Fenster lichterloh brannte und von den Gefangenen gefeiert wurde, zog der Rauch ungehindert nach hinten in die Zelle ein und raubte ihm den Sauerstoff zum Atmen und die Sicht. Er fand nicht mal mehr den Notschalter neben der Tür. Und wäre der Nachtschließer nicht gewesen, der Jacks Hilferufe ernst nahm, Jack wäre in der Silvesternacht jämmerlich erstickt, wie er mir zwischen zwei Haltestellen beteuerte.
Wahrscheinlich erzählte er nur Scheiße, irgendeine Legende, die unter Knackis die Runde machte.
Wie auch immer. Das Ohrfeigengesicht, so Jack, erwischte noch den klassischen Junkietod. Setzte sich einen Schuss zur Nacht und krepierte daran, das wars. Mehr war nicht zu erfahren, es interessierte auch keinen. Bis auf Fahnder des Rauschgiftdezernats, aus statistischen Gründen.
Mit der Linie 3 angekommen im Zentrum stellte ich Jack die Frage, die mich die ganze Zeit bewegte.
“Sag mal, hieß der Kerl nicht schon Ohrfeigengesicht lange vor dem Mofa-Unfall?”
Ben Jakubeck, genannt Jack, gegerbte Haut, Werkzeugmacherhände und ein Zinken im Gesicht wie ein unfreundliches Geschlechtsteil, glotzte verständnislos.
“Keine Ahnung. Kann sein. Wahrscheinlich sah der Arsch schon vorher scheiße aus.”
Na schön, nun war der Mann ja tot und ich konnte mich nicht daran erinnern, je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, was sollte die Frage also. Und als ich mir sein Gesicht vorstellte, dieses übelgelaunte vernarbte Gelände, das sich hinter einem ewigen Mofahelm verborgen hatte, da musste ich Jack Recht geben. Verdammt, ja. Das Leben und seine Motive waren kompliziert und undurchschaubar wie immer, und ein totes Ohrfeigengesicht war ein totes Ohrfeigengesicht, fertig, aus.
Bloß eine Schuhspitze entfernt

Frau Moll steigt aus dem Teich und schüttelt sich die Entengrütze aus dem Fell. Sie sieht aus wie eine Südsee-Sängerin in ihrem brackigen Hula-Hula-Röckchen. Hinter ihr steht Taylor, er ist Frau Moll aus dem Wasser gefolgt und schnuppert ihr am Hintern, mit zittrigen Lefzen.
Taylor ist ein bulliger schwarzer Labradorrüde aus der Nachbarschaft, er ist verrückt nach Frau Moll. Wenn es sich irgendwie managen läßt, sucht er ihren Windschatten und schnuppert an ihrem Hintern.
Die Beiden hatten Nachlaufen in der prallen Sonne gespielt und waren mit einem Riesensatz in den Ententeich unter der großen Trauerweide gesprungen.
Ich wundere mich selbst, wie ausserordentlich überzeugt ich klinge
Die Schergen vom Ordnungsamt, diese Gangstertruppe, immer im gleichen harten metallischen Singsang der Straße:
“Anleinen den Hund!”
“Zigarette in den Aschenbecher!”
“Den Regenwurm zusammenkleben!”
*
“Manchmal hab ich Hoffnung, die Menschheit findet doch noch ihren Weg zurück.”
Vor ihr liegt ein Prospekt von Woolworth, in dem ausdrücklich für Matschjacken und Buddelhosen für Kinder geworben wird, in den aktuellen Herbstfarben.
“Matschjacken und Buddelhosen.. Was für schöne Worte.. Da keimt ja fast so was wie Hoffnung auf.
*
Ein ständiges Ärgernis im Haushalt ist, aus ihrer Sicht, mein anarchischer Umgang mit der Butter. Während sie möglichst akkurat und nur mit sauberem Messer ihre jeweilige Portion abnimmt, fahre ich wie ein Punk in den Halb-Pfünder und hinterlasse lauter vakante Stellen und Schmierspuren.
“Du Asi!”
*
Auf das knatschrote Plakat, das an der Litfass-Säule für die Erotik-Messe 2014 in Wuppertal wirbt, hat jemand ein ausgelutschtes Kaugummi geklebt, exakt in den Schritt der Dessous-Lady.
Davor steht ein warm eingepackter Elfjähriger, der detailversessen in der Nase bohrt und sich das Poster anguckt, als seine Frau Mutter aus dem Supermarkt schreitet, bepackt wie ein Sherpa des Kapitalismus.
“Yannick!” ruft sie ihren Sohn bestürzt zur Ordnung, “Yannick-Eberhard!!”
*
Das Gebell mancher Strassenköter klingt, als verschluckten, ja als verspotteten sie das eigene Gebell, als wollten sie es zum Ursprungsort zurückreiten, schnurstracks zurück in die See, wo alles Gebell beginnt, bei den Seehunden. Das sind die wahren Seelenhunde. Die Seehunde. Die Hunde. Man erkennt sie an ihrem Gebell.
*
Im Coppel-Park um die Ecke sind Goldwespen zu Hause, es gibt kleine Fledermäuse und Stockenten, und da ist dieser Fischreiher, ein junger Bursche noch, der nur sporadisch auf den beiden Parkteichen zu tun hat. Wenn er an sonnigen Tagen über einen hinwegsegelt, werfen die Flügel so gewaltige Schatten, als wäre ein Zeppelin in der Luft. Ein furchtloser Bursche, im Gegensatz zu seinem Vorgänger.
Der alte Fischreiher war bedächtig und vorsichtig, man durfte sich ihm nicht nähern, schon schwang er sich auf und verschwand beleidigt Richtung Wupperberge, wo er seine Ruhe hatte. Na schön, er flog nicht wirklich, er schlurfte eher gemächlich durch die Lüfte, der alte Flaneur und Froschpicker.
Einmal verfolgte ich seinen Flug.
Ich stand im Coppel-Park und sah zu, wie der Alte eine ausladende Runde über die Anlagen drehte und schließlich zur Landung ansetzte, auf einem der spitzgiebeligen Hausdächer am Pappelweg.
Komm, sagte ich zum Hund, den gucken wir uns mal aus der Nähe an.
Wir bewegten uns vorsichtig auf die Häuser am Pappelweg zu, deren Rückfront zum Park zeigt, es ging vorbei an Gartenparzellen, Blockhütten und Blumenrabatten, in denen der Wind saß und Pause machte.
Ich liess den Fischreiher nicht aus den Augen, bei jedem Schritt vergewisserte ich mich, dass er noch hoch oben auf dem Dachfürst stand. Stolz zeichnete sich seine Silhouette gegen den klaren blauen Himmel ab. Den Kopf gereckt, den Schnabel eine Trompete.
Welche Pracht.
Erst als wir uns ihm bis auf wenige Meter genähert hatten und stehen blieben, erkannte ich, dass es nur ein scheiß Wetterhühnchen war da oben.
*
"Du bist manchmal so erschreckend nüchtern, da möchte man schreiend fortlaufen", meinte sie zu mir. "Dabei war ich mal so ein nettes Mädchen, als ich dich kennenlernte.."
Ich erkenne nicht ganz den Zusammenhang, zumal ich bloß von dem alten Weinpenner erzählt hab, der mir im Park begegnete und der so geheimnislos nach Pisse stank.
*
"Meinst du, wir haben noch fünfzehn Jahre Zeit?"
Sie hat irgendwo gelesen, dass es 25 Jahre braucht, um sein Ziel zu erreichen.
Zehn Jahre sind fast um.
"Noch fünfzehn Jahre, hm, ja.. könnte eng werden", rechne ich durch, "aber wenn wir Glück haben.. viel Glück, dann .. ja, könnte es klappen."
Doch sie ist schon woanders mit den Gedanken. Sie hat in der Küche zu tun. Sie blanchiert Gemüse.
"Kannst du mal drei Minuten auf die Uhr gucken?"
"Wann? Jetzt?"
"Ja.. ab.. jeetzt!"
Drei Minuten. Fünfzehn Jahre, fünfundzwanzig Jahre. What a difference a day makes.
Das Blanchieren von Zeit.
*
“Sie kommen zurecht?” erkundigt sich der Chef des Künstlerbedarf-und Schreibwarenladens, als ich vorm Regal mit den schönen glänzenden Notizbüchern stehe. Manche sind aus Frankreich und in Leder gebunden. Wie die riechen. Was die kosten.
“Ja.. ich komme zurecht”, gebe ich zurück, "o-ja", und wundere mich selbst, wie ausserordentlich überzeugt ich klinge.
Geht doch um nix
Den ganzen Tag irrte ich durch die Gegend und versuchte sie zu erreichen, ich nahm jede Telefonzelle, die auf dem Weg lag. Wir hatten seit einer Woche nichts voneinander gehört, komplette Funkstille. Und nun, am achten Tag, ertrug ich es nicht mehr. Je öfter ich das Freizeichen hörte, desto bedrohlicher klang es - ich verblutete in Freizeichen. Ich musste sie sprechen. Ich musste wissen, was los ist.
Am frühen Abend, ich kam aus einer Kneipe nahe der Eislaufhalle, stand ich in der nächsten Telefonzelle, und endlich nahm sie den Hörer ab.
"..ja..?"
"Ich bin's..", sagte ich hastig.
Keine Reaktion. Schweigen. Weil die Tür sich nicht richtig schließen ließ, war es nicht nur laut im Telefonhäuschen, es war auch eisig kalt, das Licht eine Funzel.
"Wie gehts?" versuchte ich es betont beiläufig, doch keine Antwort, nichts. Bloß das Radio war zu hören, leise, im Hintergrund. Ihr kleines Transistorradio. Und Geraschel. War da jemand, ausser ihr..?
"Sag mal, sind wir eigentlich noch zusammen..??" hörte ich mich fragen, atemlos, wie von weit her. Das Echo einer tausend Mal nicht gestellten Frage.
Die Antwort eine Durchsage. Sie zog an einer Zigarette.
"Ich glaube.. nicht."
"Du glaubst.. nicht?"
Wieder starrte mich ein knatschgelbes Plakat mit schwarzer Balkenschrift an: FUNKTAXI. Ich kapierte es nicht. Ich hatte das Plakat in jedem zweiten Telefonhäuschen gesehen, es hatte überall genervt. Ich meine, jedes verdammte Taxi hatte Funk, was zum Henker sollte das sein, FUNKTAXI!?
"Und warum..? Wegen einem anderen?"
Sie zögerte.
".. ja.."
"Ist der da?"
".. ja schon.. aber du.. kennst ihn nicht."
"Gib ihn mir!"
"Was, jetzt?"
"Natürlich jetzt! Wann sonst?!"
Draussen stürmten Autos vorüber, Schnee spritzte auf, dreckiger Schnee. Gehupe. Ich wusste selbst nicht, was ich von ihm wollte. Die Scheiben der Telefonzelle beschlugen von meinem Atem. Was war das für ein Kerl?! Der Soldat, von dem sie kurz erzählt hatte? Der Junkie, der mit einer Knarre im Hosenbund rumgelaufen war und mich vorm Daddy abknallen wollte, hätte ich Lena in dieser Nacht nicht in Ruhe gelassen?
"Nussbaum", meldete sich eine Stimme, förmlich wie im Büro. Als hätte seine Sekretärin gerade durchgestellt. Was ein Spiesser!
"Hör zu, Junge. Lena ist seit fünf Jahren meine Freundin. Hast du sie schon gefickt? Warst du schon mit ihr im Bett?"
"Spielt das ne Rolle?"
"HAST DU SIE GEFICKT ODER NICHT?"
"Spielt das ne Rolle?"
"WENN'S KEINE ROLLE SPIELT", äffte ich ihn nach, "DANN GIB'S DOCH ZU, DU FEIGLING!"
Lena war wieder am Apparat.
"He, jetzt bleib mal cool.."
"Ich soll cool bleiben..? Du hast sie wohl nicht mehr alle! Ich komm jetzt bei dir vorbei und wehe, du bist nicht da.."
Ich fühlte mich mitten auf der Straße, zwisachen rollenden Lastwagen, im Aufblenden greller Scheinwerfer.
"DER TYP KANN MEINETWEGEN DA BLEIBEN!"
"Ja, komm vorbei", beschwichtigte sie mich, "aber.. soll der echt hier bleiben?"
"ER KANN AUCH VERSCHWINDEN! MIR DOCH.. EGAL!"
Ohne den Strassenverkehr wahrzunehmen, stürzte ich über die Kreuzung. Wenn ich schon vorher durch den Wind war und nahe am Nervenzusammenbruch durch die Gegend gestiefelt war, dann drehte ich jetzt komplett durch. Jetzt hob ich ab. Ab sofort waren alle Kampfbomber in der Luft. Die Stadt abgedunkelt.
Am Werwolf rein in die nächstbeste Kneipe, grosses Kölsch und 103er auf ex. Das gleiche direkt noch mal. Ich hatte den Namen der Spelunke vergessen, hier hatten Pepe, Karlos und ich als Teenies Schlankheitstropfen in unser Bier gemischt und waren weggesackt, zum Geklingel der Glücksspielautomaten. Der Pächter gab uns damals Hausverbot, wenig später war er pleite und machte in Kältetechnik, der Versager. Jetzt gab es Videoclips auf dem großen TV-Bildschirm zu sehen. Madonna tanzte zu Like a virgin. Like the very first time.. With your heartbeat.
Auf dem Weg zur Teufelsinsel pochte es ununterbrochen in mir. Wieso macht sie Schluss? Wegen einem Anderen?? Ihre Stimme klang irgendwie.. entschlossen. Gleich würde sie mir sagen, warum sie von mir weg wollte, und ich würde ihr hilflos ausgeliefert sein..
Lena zitterte mindestens genauso. Wir saßen vorm Nachtstromspeicher und blickten uns kaum in die Augen. Der Typ war weg. Er gegangen, bevor ich kam. Dieser Affe, sagte ich.
Was Neues wolle sie. Nicht jedes Wochenende fernsehen, baden, bei meinen Eltern zu Mittag essen. "Immer der gleiche triste Streifen." Ihre Jugend habe sie mit mir verbracht. Jetzt sei dieser Hunger da. Dieser Lebenshunger. Es gäbe keine Zukunft für uns. Alles, was sie sagte, riss mich in Stücke, nur die Klamotten hielten mich beieinander.
"Wer ist der Typ?"
"Der ist nett."
"Ja schon, aber wer..? Der blöde Soldat? Der Fixer?"
Sie lachte. "Der Soldat."
"Bist du verliebt?"
"Ja.. Ich glaub. Ja.."
Ich spürte, es würde sich nicht wieder einrenken wie die Male zuvor, diesmal war es anders. Sie wollte weg von mir. Ich hinderte sie an ihrer Entwicklung. Sie war so jung und hatte nur mich als Mann gehabt, sie wollte andere Männer ausprobieren. Verständlich, wenn nicht ich der Gelackmeierte in der Geschichte gewesen wäre. Ist doch klar, hätte ich gesagt.
Sie versuchte mich in ihre Arme zu schliessen, ich stiess sie fort, und rannte aus der Wohnung. Wie oft war ich aus der Wohnung gerannt, wenn wir Streit gehabt hatten, jedes Mal war Lena mir nachgerannt, auf Strümpfen, auf Asphalt, mitten in der Nacht, bei Regen, bei Schneefall. Zum Schluss war sie ein paar Mal rausgerannt und ich ihr nach, immer war irgendwer gerannt und der andere hinterher, diesmal nicht.
Ich blieb stehen. Ich sah sie am Fenster, eine Erscheinung. Sie machte keinerlei Anstalten, etwas zu tun, sie stand bloß da. Ich drehte mich um und stapfte los, die Hände in den Manteltaschen, durch die klirrend kalte Winternacht. Zwanzig Grad unter Null. Vereiste Dächer. Schneehaufen türmten sich.
Als ich eine dreiviertel Stunde später vor meiner Haustür stand, sträubte ich mich aufzuschließen. Die meiste Zeit hatten wir bei mir verbracht. Wegen der Buntkiste, der großen Badewanne, und überhaupt - die Schillerstrasse war unser Quartier gewesen.
Ich knallte mich aufs Bett. Wünschte mir, was alle Verlassenen sich wünschen, dass alles nur ein böser Traum wäre, doch für einen Traum hatten die Dinge eindeutig zu viel Hand und Fuß - nein, sie war zwanzig und hatte den Streifen satt, sie war lange genug Sonntag für Sonntag mit mir zu meinen Eltern gegangen, zum Gulasch essen. Es reicht, mein Freund. Mach dich vom Acker.
Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Immer wieder tauchte ihr kleiner Busen auf. Ihre Schenkel, in die jetzt irgendein gesichtsloses Schwein eindrang, ihre zärtlichen Worte. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie tot, ich war die Asche, und ich war der Wind, der durch die Asche zog und die Glut zum Glimmen brachte. Ich sprang aus dem Bett, zog mir den Parka über und lief durch den Schnee zur Telefonzelle Margaretenstraße. Ich musste mit ihr reden! Ich brauchte einen Hoffnungsschimmer. Es konnte nicht so einfach vorbei sein, so Knall - und aus!
Ich warf ein Markstück in den Schlitz. Wegen unbezahlter Rechnungen war mein eigenes Telefon seit Wochen gesperrt. Sie hatte meinen Anruf erwartet. Befürchtet. Ich fragte, ob es denn keine Möglichkeit mehr gäbe.
"Es gibt immer eine Möglichkeit", sagte sie, halb lieb, halb genervt. Sie wusste selbst nicht genau, was sie tat. Sie folgte ihrem Instinkt. Ich jammerte wie ein kleiner Junge, dem man das Lieblingsspielzeug weggenommen hatte, und der nicht verstand, warum. Nur weil er fünf Jahre lang immer das gleiche getan hatte..? Was konnte daran falsch sein, wenn es doch am Anfang richtig gewesen war??!
"Was soll ich denn machen ohne dich?!"
"Pack meine Sachen zusammen.. Stell ein paar Möbel um. Ich weiß es nicht."
Wieder starrte mich ein FUNKTAXI-Plakat an.
"Du musst stark sein. Du bist nicht so schwach, wie du jetzt glaubst. Und lass mir Zeit, ich blicke selbst nicht durch, was in meinem Kopf abläuft. Es ist so.. so durcheinander.."
Ich schlich nach Hause und haute mich hin. Ich lag im Dunkeln, ich betete, die Nacht möge bald ein Ende haben, doch als es endlich hell wurde, als das Licht zurückkehrte, baute sich etwas viel gräßlicheres vor mir auf: die Angst vor dem Sonntag.
Sonntag. Der magische Sonntag. Im Tierpark. Sie trug ihr braunes Indianerkleid und war gut gelaunt.
"Los, zu den Kamelen!"
Im Freigehege rekelten sich zwei Lamas in der Nachmittagssonne, sie malmten Gras.
"Beiß mich", flüsterte Lena, die mal behauptet hatte, ein Fußkettchen hätte ihr gesamtes Leben umgekrempelt. Ich lugte hinüber zu den Lamas, bückte mich, und biss zu. Das Kettchen knirschte.
Vorm Gehege der Stachelschweine wartete ein Tierpfleger mit Harke in der Hand und Pfeife im Mund. Er versuchte uns irgendwas zu erklären, nuschelte aber so unverständlich, wir kapierten kein Wort. Da erst erkannte ich ihn wieder.
"Der Knabe arbeitet schon lange hier", flüsterte ich, "als Arsch für alles."
"Hm?" fragte Lena.
"Na, als ich hier mit Pepe Arbeitsstunden machen musste, war er auch schon hier."
Ich zeigte Lena den Stall der schwarzen Zwergziegen, den Pepe und ich jeden Morgen ausmisten mussten. Einmal haute ein kleiner Bock ab, weil ich vergessen hatte, das Gatter zu schließen.
"Vergessen, genau" meinte Lena. "Du meinst, ihr ward mal wieder bekifft bis zum Kragen."
"Ist ja auch egal. Jedenfalls ist der Ziegenbock durchs Gehege der Truthähne geflüchtet, das gab ein Mordsaufruhr und es dauerte, bis wir ihn endlich wieder im Stall hatten."
"Tolle Sache."
Auf Kieselsteinen weiter zum Exotenhaus. Javaneraffen turnten an nackten Stahlgerüsten. Früher, auf Bali, in ihrer Heimat, galten sie als heilig. Unantastbar.
Weit unten im Wildgatter, zwischen Mufflon und Rehkitz, fanden wir eine schattige Bank. Wir waren allein auf weiter Flur. Lena zog die Nylonstrümpfe aus und stieg auf meinen Schoß. Schob ihren Slip beiseite. Ich schmeckte ihren Hals. "Los, du Vieh!" feuerte sie mich an, und wir mussten lachen. Küsse. Papageienschreie. Rote Flecken. Die Bank kippte genau im richtigen Moment.
Bis in den Nachmittag hinein blieb ich im Bett. Ich war wie gelähmt. Rauchte tausend Kippen. Dann badete ich, doch ich weiß nicht, wie oft wir Platznot hatten in dieser Wanne, jetzt war sie eine Arena und verschlang mich.
Immerzu musste ich an sie denken. An ihr Lachen. An ihr Gefühl zu mir. Ihre Worte. Es schmerzte und machte wütend. Lena war natürlich fein aus dem Schneider. Hatte einen neuen Kerl und ihre beste Freundin plante bei ihr einziehen. Nahtloses Timing. Wozu brauchte sie mich noch?! Ich war wie das Sonntags-Gulasch meiner Mutter: gekaut, verdaut, abgezogen. Mein Selbstbewusstsein lag auf dem Klo und schielte zur Uhr. Wenn das Mumms wenigstens schon auf gehabt hätte..
Aus der Telefonzelle rief ich Karlos an. Er klang verpennt.
"Was ist los?"
"Lena hat Schluss gemacht."
"Eh..? Scheiße."
"Ich komm vorbei."
Im Gegensatz zu den Hauptstrassen waren Nebenstrassen und Fußwege kaum von Schnee und Eis geräumt, ich brauchte eine ganze Stunde bis zur Finkenstrasse, ein ausgelaugter Körper, pure Beinautomatik. Ich funktionierte nur noch. Fragte mich, wie ich das aushalten sollte in nächster Zeit.
Drei Stunden saßen Karlos und ich uns im Sessel gegenüber. Er hörte zu, nickte, schüttelte den Kopf, warf hin und wieder was ein.
"Chaos im Kopf ist nie umsonst", sagte er. Und: "Vielleicht musste das mal passieren. Vielleicht musste etwas in dein unverschämt sicheres Leben platzen, damit du endlich aufwachst und anfängst das zu tun, was der liebe Gott für dich vorgesehen hat."
Ich starrte ihn an. Wovon sprach er zum Teufel? Wer hatte was für mich vorgesehen..?
"Ja.. wahrscheinlich."
Wir tranken schwarzen Tee und Bier und ich war froh, dass Karlos sich mein Gejammer anhörte. Bei Liebekummer konnte er mitreden. Es war zwei Jahre her, dass Biene ihn verlassen hatte, seine große Liebe, doch so richtig war er darüber immer noch nicht hinweg.
"Die Sache ist noch nicht gegessen."
Es klang wie: Die Puppe hol ich mir noch zurück. Es war keine vier Wochen her, da hatte er mitten in der Nacht unter ihrem Fenster gestanden und nach ihr gepfiffen und gerufen, wie ein dummer Fünfzehnjähriger, erzählte er.
"Und?"
"Was, und?"
"Na ja, ich mein, hat Biene aufgemacht oder nicht?"
"Ach was. Die war überhaupt nicht hat da. Die war im Urlaub, wie ich hinterher gehört hab."
Wir verabredeten uns für sieben Uhr im Mumms. Bis dahin verzog ich mich wieder nach Hause, müde und aufgekratzt zugleich. Ich haute mich hin und versuchte zu lesen. Uns verbrennt die Nacht von einem Indianer, der mit Jim Morrison durchs L.A. der 60er Jahre gezogen war, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Jeder Satz endete mit Lena in meinem Kopf.
Punkt Sieben stand ich im Mumms und wartete auf Karlos. Das Mumms, ein verrauchter Karnickelbau mit einem Herz Buben an der Tür, durchstochen von einem Stilett, war unsere Zentrale und oft so brechend voll, dass wir dicht gedrängt in Dreier-Reihen am Tresen standen, als hätten wir Schiss gehabt, eines Tages aus einem endlosen großspurigen Trinkgelage zu erwachen, an einem regnerischen Montagmorgen, und alles wäre vorbei gewesen.
Davor hatten wir ordentlich Bammel.
Karlos und ich orderten Bier und Tequila. Ich war nichts als eine große offene Wunde und hatte dieses aufputschende Gefühl, allen Schmerz, allen Zorn auf Lena rauszulassen. Ich war eine Riesenrutsche und Karlos der Pool, der mich auffing, wenn ich alle paar Minuten die Leiter zur Riesenrutsche hochkletterte und mich gehen liess. Während Karlos mir geduldig das Ohr lieh, betrank er sich in aller Ruhe. Benzini gesellte sich zu uns. Benzini, die Kinnlade ein finsterer Balkon, Säbelbeine, 13-Monats-Bart.
"Du blutest aber gut", meinte er süffisant zu mir, und jemand Anderes, der mich nur vom Sehen kannte, ein Typ mit dem Spitznamen Ludi, sagte: "Versteh mich nicht falsch, aber du machst sonst so einen coolen und abgewichsten Eindruck, hätt ich dir gar nicht zugetraut, dass dich eine Frau so fertig macht."
Cool und abgewichst. Darauf die nächste Runde. Um halb drei war Sperrstunde, der Geschäftsführer schwang die Glocke. Inge, die Wunderbare, streckte mir die Zunge raus.
"Wird Zeit, dass du mir mal über die Hüfte rutscht, hör mal!"
Sie liess ein Lachen dröhnen, so laut und schmutzig, als wäre eine kleine Lokomotive um die Ecke gebogen. Ein Kohlentender. Karlos kam von hinten und fischte ihr heimlich die Schachtel Camel aus der Jackentasche. Er steckte sich eine an.
"Kippe jemand?"
"Her damit..", lallte ich.
"He, seit wann raucht ihr beiden Camel!?" drehte Inge sich um und tippte Karlos, der sich schnell wegdrehte, auf die Schulter.
"Sag mal, hast du etwa in meiner Tasche gewühlt?"
"Du merkst auch gar nix mehr, Inge. Ich hab dich schon gefickt, ohne dass du was gemerkt hast."
"Jetzt übertreibst du aber, hör mal!"
"RAUS HIER JETZT!" brüllte der Geschäftsführer mit dem roten Schürzchen.
Karlos und ich torkelten rüber zum Taxistand, die ganze Breite der Kölner Strasse nutzend. Ziel war die Finkenstraße, noch einen rauchen, Karlos hatte etwas Gras klar gemacht. Plötzlich tauchte ein Streifenwagen auf, wie aus dem Nichts, und hielt vor uns an. Ein Polizist stieg aus, ein anderer blieb sitzen.
"Augenblick mal, die Herren!"
Wegen Überqueren der Strasse und Behinderung eines Streifenwagens sollten wir jeder zehn Mark berappen.
"Hier ist doch überhaupt kein beschissenes Auto unterwegs!" ereiferte sich Karlos. "Und wo sollen wir euch behindert haben?! Ihr seid behindert!"
"Keine Diskussion, meine Herren! Jeder zehn Mark, und die Sache ist erledigt!"
Zehn Mark? Wir hatten alles versoffen, und da wir auch keine Ausweise dabei hatten, nahmen sie uns mit zur Wache. Unterwegs, auf der Rückbank, stimmten wir Fahr mit im grün-weissen Bullenbus! an, zu der Melodie von Kli-Kla-Klawitter, der Kindersendung aus alten Kindertagen. "Wir nehmen jeden mit, wir haben sehr viel Platz!"
"Na, da haben wir aber zwei Witzbolde aufgegabelt", meinte der lange Polizist auf dem Beifahrersitz. "Passt nur auf, dass es keine Backpfeifen hagelt."
"Was willst du grüner Wicht?!" gab ich zurück, und der Bulle drohte mir sofort mit einer Anzeige wegen Beamtenbeleidigung.
Auf der Wache wurden unsere Personalien aufgenommen. Weil Karlos zwar umgezogen war, sich aber nicht umgemeldet hatte, gab es Ärger. Er weigerte sich, Mietparteien zu nennen, die ebenfalls in dem Haus an der Finkenstraße wohnten, seinem neuen Domizil.
"Finkenstraße 9 wohn ich! Und ich hab ne cholerische neurotische Katze zu Hause, die heisst Lady und schifft mir dauernd ins Bett. Die könnt ihr jeden fragen, der da wohnt. Mehr sag ich nicht. Mehr müsst ihr schon aus mir rausprügeln! Das könnt ihr doch so gut! Los, macht schon!"
Er schraubte seinen cholerischen Schädel ins Neonlicht.
"Na, kommt schon her! Hier, schön auf die Nuss! Das könnt ihr doch so gut!!"
Natürlich spielte Karlos die Wut nur, wie auf einer Theaterprobe. Es war aber so gekonnt dargeboten, sogar ich war froh, als er endlich die Klappe hielt. Der lange Bulle stand kurz vorm Überkochen und kündigte an, uns bis zum nächsten Morgen in Gewahrsam nehmen zu können. Dann wollte er mir den Hintern versohlen, weil ich erneut mit dem grünen Wicht rüberkam..
"Jetzt macht doch nicht so einen Öschekk hier!" versuchte sein Kollege einzulenken, und ich musste lachen, weil ich das lange nicht mehr gehört hatte, einen Öschekk machen.
"Sagt doch kein Mensch mehr."
"Ein Mensch vielleicht nicht", krähte Karlos, "aber ein Bulle!"
Dennoch entspannte sich die Situation etwas, bis zu dem Augenblick, wo wir aufgefordert wurden, das Präsidium zu verlassen, wir uns aber weigerten. Nein, wir wollten es uns lieber auf den harten Bänken bequem machen, wie damals in den 70ern, als wir jedes zweite Wochenende Ärger mit der Schmiere gehabt hatten.
Dem Langen platzte fast der Kragen. "Ihr kriegt gleich wirklich was auf die Fresse!"
"Ja, mach nur, komm nur mit nach draußen!" rotzte Karlos zurück, schon in der Tür stehend. Tatsächlich hätte der lange Bulle große Lust dazu gehabt, Karlos eine Tracht Prügel zukommen zu lassen, doch sein Kollege behielt den Überblick.
"Jetzt macht endlich, dass ihr wegkommt!"
"Ich hab mal die härteste Knallplättchenpistole der Welt gehabt!" brüllte Karlos noch, als wir schon unten auf der Strasse waren. "Und ihr?! Was habt ihr? Ne Schlampe zuhause, sonst nix!"
Von der ganzen bescheuerten Aktion ernüchtert, verschwanden wir um die Ecke in die feuchten Malteser Gründe, und setzten uns auf die Bank. Zum Glück hatten die Bullen versäumt, Karlos zu durchsuchen. Er hatte einen Beutel Marihuana dabei. Wir dampften ein mächtiges Dreiblatt. Der ganze Malteser Grund stank nach Gras und frisch gemähter Wiese. Endlich schalteten wir einen Gang zurück.
"Sag mal, was wollte Lena eigentlich?"
Um Mitternacht hatte sie im Mumms angerufen und sich erkundigt, wie ich die letzte Nacht überstanden hatte.
"Ich hab kein Auge zugetan.. Weißt du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast?"
"Ich weiß", hatte sie kleinlaut geantwortet. "Ich mir auch.."
Halbe Stunde später tat sich Karlos in Richtung Finkenstraße dadurch, ich zur Schillerstrasse. Aufgeladen wie ich war, hob ich einen Pflasterstein vom Wegesrand auf und schmetterte ihn kurzerhand in die rückwärtige Fensterfront des Gesundheitsamtes. Das Klirren der Scheibe potenzierte sich in der Stille der Nacht, es klang wie eine Schaufensterscheibe, aber ich latschte weiter den Park runter, als wäre nichts geschehen.
Es dauerte keine Minute und auf der gegenüber liegenden Seite bog ein Streifenwagen in den Malteser Grund ein. Geistesgegenwärtig duckte ich mich, versteckte mich im dichten Gebüsch am Hochhaus, das wie ein Leuchtturm den Park überragte. Der Wagen rollte ohne Licht im Schritttempo vorüber. Hinter dem Gesundheitsamt blieb er stehen, mit ausgeschaltetem Motor. Ich wartete zwanzig Minuten, bis ich mich aus der Deckung wagte und in der Finsternis nach Hause wankte.
Als ich aufwachte, hatte ich einen Geschmack im Mund, als wär mir die Asche einer Kippe unter der Zunge eingeschlafen. Verkatert hockte ich auf der Heizung und rauchte. Vielleicht hatte sie ihren Entschluss schon bereut? Ich peitschte zur Telefonzelle gegenüber vom Gemeindeheim und rief in der Zahnarzt-Praxis an.
"Ich muss mit dir sprechen. Können wir uns treffen?"
"Klar. Klar doch."
"Heut Abend im Mumms?"
Sie zögert einen Moment.
"Gut, ich bin da. Gegen fünf Uhr. Bist du traurig..?"
Traurig.. Ja genau. Ich blieb unterwegs, ging in die Stadt. Suchte mir im Karstadt-Restaurant einen Fensterplatz, mit Blick auf den Busbahnhof. Als wir im Winter 79 zum ersten Mal verabredet waren, saßen Lena und ich bei nassem Schnee und Temperaturen um den Gefrierpunkt einen ganzen Nachmittag lang unter einem überdachten Wartehäuschen, zu schüchtern für einen ersten Kuss, aber mit löchrigen Turnschuhen und der Gewissheit: das ist es.
Noch in derselben Nacht bekam ich vierzig Grad Fieber, alle Knochen taten mir weh. Drei Wochen lang lag ich mit einer schweren Nierenbeckenentzündung flach, und Lena, nicht mal fünfzehn und bildhübsch, kam mich besuchen, den Poncho übergeworfen, und neben meinem Bett dampfte der Haschischtee.
Das erste Mal gesehen hatte ich Lena im Mankes 13, einem Jugendklub in Ohligs. Ohligs zählte eigentlich nicht zu meinem Revier, es war reiner Zufall, dass ich an diesem Freitag da gelandet war. Freitags war Disco. Es war früher Abend, rappelvoll. Ich hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die ich mir bis heute nicht erklären kann, weil ich so gut wie nie Kaffee trank. Wenn übehaupt was heisses, dann Tee. Nicht an diesem Tag. Da war Kaffee in meiner Tasse, und ich stolperte über ein Paar Beine, das zu einem Mädchen gehörte. Sie saß auf einem Sofa, ich strauchelte und schüttete ihr etwas Kaffee über den Pullover. Einen Schluck nur. So hatte ich Lena kennengelernt. Das schönste Mädchen der Welt.
Ich verliess das Karstadt-Restaurant und mache mich auf zur Jobvermittlung. Was ich brauchte, war Ablenkung. Frau Düstersiek, Leiterin der Aussenstelle des Arbeitsamtes, "Na, Sie As! Was macht Ihr Kumpel, wie heißt er noch gleich..?" "Karlos." "Ja, genau, Karlos! Was ist Sache mit Karlos?! Warum kommen Sie alleine?", rückte die Telefonnummer eines kleinen Betriebs raus, der in Türklinken machte. Firma Weidner, oben am Schaberg. Ich rief an und sagte, dass ich auf der Stelle anfangen könne. Gut. Ja.
"Kommen Sie vorbei."
"Was denn..?! Jetzt sofort?"
"Ja, natürlich. Wenn Sie Zeit haben."
"Äh.. ja, natürlich."
Ich hatte nicht damit gerechnet, beim Wort genommen zu werden. Andererseits, ein Job würde Lena gefallen. Es wurmte sie stets, dass sie früh raus musste und ich konnte durchratzen, bis in die Puppen. Ich kaufte einen Strauß Blumen, klemme ihn an ihre Wohnungstür. Mit einem Zettel. Liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Was besseres fiel mir nicht ein.
Die Firma am Schaberg entpuppte sich als Hinterhofklitsche. Ohne groß eingewiesen zu werden, setzte man mich in der Endmontage ein. Meine Aufgabe: Türbeschläge und Klinken polieren, Kartons falten, verpacken. Meine Hände flatterten vom vielen Saufen. Von Ablenkung keine Spur. Was ich auch tat, ich hatte nur Lena im Sinn.
Lüttkenhorst, der Kollege, kam an und meinte, ich solle nicht dauernd so doof in der Gegend rumsitzen, lieber mal ein paar ordentliche Kartons falten. Redete der mit mir? Am Abend im Mumms wollte ich alles auf eine Karte setzen. Ich würde sie mir zurückholen. Endlich halb Fünf. Feierabend. Ich fuhr mit dem Bus ins Mumms. Sie war schon da. Saß in der hintersten Ecke. Mit einem Glas Tee vor sich. Sie sah umwerfend aus. Ich holte mir ein Bier, setzte mich zu ihr. Ich hatte keine Zeit für Tändeleien.
"Ist wirklich Schluss?"
Ängstlich blickte sie mich an. Und nickte. Ich riss mich zusammen. Bestand darauf, dass ich eines schon kapiert hätte, in den letzten, äh, vierundzwanzig Stunden: ohne gemeinsame Zukunft keine Beziehung. Für so einen Satz hätte ich mir noch eine Woche zuvor die Schuhe bekotzt.
"Ich werde für dich arbeiten gehen und ein Buch schreiben."
Sie war überrascht. Sie nahm es ernst. Es funktionierte.
"Ein Buch..? Na, ist ja ein Ding. Da reden sich alle den Mund fuselig und der Herr tut nix, aber kaum kriegt er mal einen Schuss vor den Bug, bewegt er seinen Hintern. Guck mal einer an." Sie nahm einen Schluck Tee. "Du sollst es nicht für mich, sondern für dich tun."
"Für uns! Ich möchte mit dir meinen Weg gehen, mit dir glücklich sein." Ich spürte, dass sie nachgab. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass ich so schnell was gelernt hatte. "Und wenn wir wollen, schaffen wir das auch. Wir gehören doch zusammen.."
Wir blickten einander in die Augen. Dieses Bauchgefühl. Dann sagte sie es. Ganz leise. Fast unhörbar. Gehaucht.
"Ja."
Darauf hatte ich hingearbeitet. Ich flog ihr um den Hals. Vergrub ihren Kopf an meiner Brust.
"Hast du wirklich ja gesagt?!"
"Von dir Wahnsinnigem komm ich ja sowieso nicht los."
Ich driftete zum Tresen. Glaubte es noch gar nicht richtig. Dass das so schnell ging. So ohne viel Widerstand. Ich bestellte Tequila. Wir lachten. Küssten uns. Wie die Kinder. Das Mumms glühte. Zwei Tische weiter wurde Skat gespielt, jemand spielte lautstark den Kreuz Jungen auf und rief Butter bei die Fische.
"Ich bin stolz darauf, dass ich auch ohne dich klarkomme. Und ich möchte, dass du das auch kannst, damit wir nicht mehr wie an einer Nabelschnur zusammenhängen", stellte Lena klar.
"Ja", sagte ich, immer wieder ja. Ich hätte ihr einen Welt-Bestseller versprochen, wenn sie es nur ernst meinte.
"Wann machst du mit dem Typ Schluss?`"
"Ich werd.. es ihm gleich sagen."
Wir verabredeten uns für den folgenden Nachmittag um Fünf, bei mir. Ich blieb im Mumms und betrank mich. Karlos tauchte auf. Er hatte Probleme und war aufgebracht.
"Die Schmiere hat mich heut Nacht auf dem Nachhauseweg noch mal klargemacht, weil so ein Idiot im Park Fenster eingeschmissen hat!!"
Dummerweise geriet er dabei an dieselbe Streifenwagenbesatzung, die uns mit auf die Wache genommen hatte. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass Karlos dieses Mal die Taschen leeren musste.
"Achtzehn Gramm Marihuana!" schimpfte Karlos. Der lange Bulle musste vor Freude nur so geglüht haben. "Wie ein scheiss Lampion. Und das nur wegen irgend so einem Vollidioten!"
"Aber echt!" sagte ich, und tatsächlich dauerte es einen Moment, bis mir aufging, wem Karlos die Strafanzeige zu verdanken hatte. Als ich ihm von Lena erzählte, warnte er mich nur, ich solle mich nicht zu früh freuen, doch ich freute mich.
Die Maloche am nächsten Tag nervte. Ich konnte kaum meine Schweißausbrüche unter Kontrolle halten. Der Alkohol setzte mir zu. Aber ich liebte Lena und hatte sie wieder. Das war die Hauptsache.
"Die Kartons sind aus Pappe!" blökte Lüttkenhorst, der Vorarbeiter. Die Schatten unter seinen Augen waren groß und finster, seine Stimme tief und krächzend, fast punktuiert. "Die Kartons kann man biegen! Die kann man schön falten, hier, so! Und nicht einfach nur in die Ecke werfen! Wenn das der Chef sieht, war’s das mit dir! Da kannst du aber Gift drauf nehmen, Männeken!"
Seine Stimmbänder stellte ich mir wie Lochkarten vor, die man durch eine Drehorgel zieht und schwere russische Waisen ertönen lässt.
Punkt fünf Uhr war ich daheim. Vielleicht wartete sie schon vor der Haustür.
Tat sie nicht. Ich rauchte und hörte Radio. Machte ein Bier auf. Viertel nach Fünf, halb Sechs. Ich wurde unruhig. Wenn sie wirklich mit mir zusammenbleiben will, dachte ich, müsste sie doch pünktlich sein. Ja, überpünktlich. Vielleicht ist was mit Britta dazwischen gekommen. Ihrer besten Freundin. Wäre nicht das erste Mal.
Ich stand am Fenster und wartete. Watching and waiting. Sechs Uhr, halb Sieben. Autos fuhren vorüber, Autos hielten. Türen schlugen zu. Nur die Strasse zählte. Um sieben Uhr war Lena immer noch nicht da. Ich tigerte von einem Zimmer ins andere und wieder zurück, ich geriet in Panik. Schrie "Lena, was machst du mit mir?!" Raufte mir die Haare und schleuderte mich gegen die Wand. Blieb liegen. Stand auf. Konnte es einfach nicht fassen, wie ich verarscht wurde. Dass sie nicht gekommen war. Trotz ihrer Worte. Ich knallte mich gegen den Türpfosten.
Es schellte. Nicht ihr Schellen. Es war der lange Eli, mein Nachbar von gegenüber. Ich zerrte Poster von der Wand, trat eine Tasse durch die Küche. Sie zersplitterte unterm Spülstein. Eli begriff gar nichts.
"Du kommst wegen Lena so drauf? Gibs das? Ich dachte immer, die wäre total in dich verknallt."
Ich liess ihn stehen und lief auf Hollandblotschen zur Margaretenstraße, durch den Schnee, zur Telefonzelle. Britta hob ab.
"Ist Lena da?!"
"Die ist schon lange weg."
"Hat sie nichts gesagt? Dass sie zu mir kommen wollte?"
"Lena hat gar nichts gesagt. Keine Ahnung, wo sie hin ist."
Ich hetzte durch die Strassen. Blickte in jedes verdammte vorübersausende Auto. Auch im Mumms war sie nicht. Natürlich nicht. Das Mumms war mein Revier. Mein Wohnzimmer. Cobra hockte am Tresen.
"Hallo."
Sie hatte mich mal angemacht, nicht lange her, da hatte ich abgewunken. Zu gefährliche Augen. Zu große Titten. Jetzt war ich froh, dass sie da war. Fragte, wie es ihr geht und so. Spendierte Bier und Schnaps. Göring und seine neue Braut kamen rein, tranken einen mit.
Göring war Fernmeldetechniker bei der Bundespost. Einige Mal hatte ich ihn unterwegs getroffen, als er den Telegraphenmast hochkletterte und seine Arbeit verrichtete. Ein gutmütiger Kerl mit schweren Knochen und einem gewaltigen Alkoholproblem, der lauthals "Geht doch um nix!" posaunte, sobald er mich von dort oben erblickte. Den Spruch hatte er von einem Kumpel, der ihn seinerseits im Knast aufgeschnappt hatte.
Es dauerte nicht lange und wir beschlossen, zu verduften. Wir riefen ein Taxi, kauften unterwegs an der Tankstelle zwei Flaschen Ouzo, fuhren zu Göring nach Hause und versanken in den Ledersesseln.
Göring erzählte von seiner zerstreuten Tante, die ihm innerhalb eines Jahres dreimal zum Geburtstag gratuliert hatte, jedes Mal mit einem neuen Geschenk.
"Das sind die Tanten, die wir brauchen!" wieherte Cobra.
Sie und Göring versanden sich prächtig. Das gefiel mir nicht. Musste ich mich notgedrungen mit seiner Freundin befassen. Eine seltsam trutschige Person. Ihre Nase war groß und schief und irgendwie spanisch, eine vergeigte Steinmetzarbeit. Ich wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte. Wir versuchten es mit Musik. Im Radio liefen Bronski Beat. It ain't necessarily so. Muss doch alles nicht sein.
"GEHT DOCH UM NIX!" brüllte Göring.
Irgendwann in der Nacht lagen wir zu viert im geräumigen Ex-Ehebett, doch zwei Frauen waren zuviel für mich. Ich war sturzbetrunken und hatte nur Lenas Körper im Sinn. Cobra und Göring verschwanden ins Wohnzimmer. Während sie auf dem Tisch vögelten, hantierte ich an dieser Braut herum, deren Namen ich nicht kannte. Im Radio schepperte irgendein amerikanischer Heckmeck. Cobra kam ins Schlafzimmer zurück.
"Na, gut abgespritzt?!"
Ich sagte gar nichts und pennte ein.
Als der Morgen dämmerte, wurde ich schlagartig wach. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich stand auf und suchte das Telefon. Cobra folgte mir mit den Augen.
"Vergiss es, das Telefon ist gesperrt."
Ich zog mich an und machte mich auf die Suche nach einer funktionierenden Telefonzelle. Lena, klopfte es in meinem Bauch, sei bitte zu Hause und habe eine Ausrede. Sag nicht das, was ich weiß. Es war bitter kalt. Hundepisse im Schnee, überall. Ich fror. Als ich eine Brücke überquerte, blieb ich kurz stehen und blickte hinunter.
Endlich eine Zelle. Ich wählte die Nummer. Es dauerte. Niemand ging dran. Ich wählte nochmal. Lena hob verschlafen ab.
"Ja..?"
Ihre Stimme, wie aus unerreichbarer Ferne.
"Wo warst du gestern?! Du wolltest doch zu mir kommen..!"
Sie stöhnte.
"Es ging nicht."
"WIESO GING ES DENN NICHT?"
"Weil ich aus der Beziehung raus will! ICH WILL NICHT MEHR!"
Meine Stimme schnappte über.
"IST DER TYP DA?"
"Ja", sagte sie. "Er ist hier."
"Du hast es mir doch versprochen, dass wir es noch mal versuchen! DU HAST ES MIR DOCH VERSPROCHEN!!"
Lena seufzte.
"Ich weiß.. Aber ich kann nicht."
"WIESO HAST DU ES DANN GESAGT?!"
"Weil du mich so gequält hast.."
Ich rastete aus. Beschimpfte sie. Sie legte auf. Es war vorbei. Ich stapfte durch den Schnee zur Wohnung zurück. Cobra öffnete die Tür.
"Ich muss mit dir reden", sagte ich.
Wir holten Bier am Kiosk und fuhren mit dem Bus zu mir. Es war okay. Wir verstanden uns. Gleiche Wellenlänge. Sie studierte Germanistik. Ich spielte ihr Jonathan Richman vor. Sie musste lachen.
"Was ist das denn für einer?"
"Der sitzt am Rand vom Sandkasten und sucht sein Förmchen."
Er gefiel ihr. Ich interessierte sie. Schade, dass ihre Titten so groß waren. Am nächsten Mittag ging Cobra heim und ich ins Mumms. Karlos war auch da und legte den Leuten die Karten. Hatte er selbst erfunden. Mir prophezeite er, dass ich immer Checkerei haben würde mit der Herz Dame. Na so was. Abends war Cobra wieder da. Die Karo Dame.
"Flüchtige Liebschaft", flüsterte sie.
"Du hast mich verwirrt", sagte sie.
Der Russe war da. In seinem Armeemantel, dem langen grauen Vollbart und wuchtigen, wie zu einer Brücke zusammengewachsenen Augenbrauen erinnerte er an Solschenyzin, den Schriftsteller. Er spielte in der Bundesliga Schach für 1868 Solingen und redete kaum ein Wort. Dafür hatte er ständig eine Zigarre und ein grosses Glas Altbier in Arbeit, er lächelte sein Russenlächeln, unermüdlich, geheimnisvoll. Sperrte er den Mund doch einmal auf, dann nur für einen einzigen Satz:
"Immer gut rauchen", prostete er uns zu, "und Mathematik!"
Da Solingen Schachstadt ist, 1868 ist deutscher Abonnementmeister im Vereinsschach, ist man hier merkwürdige Figuren gewohnt, die nichts anderes im Kopf zu haben scheinen als spanische Spieleröffnungen und Springertausch, doch der Russe war ein Unikum, jeder mochte ihn. Selbst seine faulen Zähne und die triefenden Nikotinfinger fielen nicht ins Gewicht.
Eines Tages tauchte er nicht mehr auf, war fort. Niemand wusste etwas. Die Wetten im Mumms liefen auf Lungenkrebs oder Schachturnier im Irak. Auf einer Tafel wurden die Wetteinsätze notiert. Es stand Fifty-fifty.
"Immer gut rauchen und Mathematik!"
Karlos orderte Tequila und entwickelte das Kartenlegen weiter. "Kreuz As und Pik As gibt Mofaführerschein." Cobra erzählte, dass sie schon mal fünf Seiten lang ICH BIN STARK geschrieben habe. Danach sei sie zusammengeklappt. Pik Sieben war die geheime Triebkarte. Die paraintuitive Kraft.
"Liebe ist nicht alles", tröstete mich Cobra.
Ich war geknickt. Geschlaucht. Die ganze Sauferei. Und immer wieder Lena. Cobra schleppte Tequila an. Tequila baute auf.
"Liebe ist nur Spinnerei im Kopf", sagte sie.
Zitronenscheiben rutschten unter den Tisch. Kreuz Zehn bedeutete Entziehungskur. Folgte darauf die Herz Zehn, wurde man rückfällig.
"Heut bin ich verknallt", summte Cobra in mein Ohr, "morgen ist alles vorbei. Lass uns noch was trinken."
Der nächste Tequila. Endzeithunger. Mad dog days. Zwei dunkelhäutige Frauen setzten sich zu uns an den Tisch. Eine war Brasilianerin. Sie kam aus Recife. Sie erzählte von Insekten, die beim Abendessen aus den Bäumen in die Teller fielen, in ihrer Heimat.
"Du hast schöne Augen", sagte sie.
Karlos legte ihr die Zukunft. Verlegen stand ich daneben und überlegte, wie ich sie anbaggern könnte, doch andauernd drängelte sich ihre Freundin dazwischen und funkelte mich böse an.
"Mein Zug ist abgefahren", kritzelte Cobra in mein Notizbuch, das offen und für alle einsehbar auf dem Tisch lag. Ich holte das nächste Tablett Bier und wandte mich Karlos zu.
"Ich weiß überhaupt nicht mehr was Trumpf ist.."
Sturzbesoffen redete er auf mich ein.
"Ich hab lang nicht mehr so an dich geglaubt wie jetzt. Du hast soviel Möglichkeiten, du wirst es schaffen. Du musst nur schreiben.. dann wirst du es schaffen."
Ich hing an seinen Lippen.
Samstagmorgen wurde ich früh wach. Detonierter Bauch. Vollrauschnerven.
Das Klingeln des Telefons aus der Nachbarwohnung bohrte sich in meinem Gehörgang fest. Ich holte mir einen runter. Zündete mir eine Kippe an. Die erste von den nächsten tausend. Draußen regnete es.
Tauwetter.
Samstagmittag ging ich zu meinen Eltern rüber, zum Essen. Beim Nachtisch erzählte Mutter aus meiner Kindheit, und wie sie so erzählte, war es mir, als lüftete sich ein Schleier und dahinter tauchte der Kern auf, der Kern von mir. Vage erinnerte ich mich daran, dass ich bis zum siebten Lebensjahr Nacht für Nacht ins Bett meiner Eltern geklettert war, auf die Seite meiner Mutter, und dort bis zum Morgengrauen blieb.
"Ich hab schon ganz automatisch die Bettdecke angehoben, wenn ich deine leisen Schritte hörte, und schon kamst du angekrabbelt und schmiegtest dich an mich."
Dann, 1967, als die Doors beschlossen, eine Million Dollar zu machen, wurde mein Bruder geboren, im Jahr der Ziege. Es war ein Dezemberabend, als das Telefon ging. Ich war mit meiner großen Schwester allein zu Hause, sie hob den Hörer ab. Mein Vater war dran, er rief aus dem Krankenhaus an. Mutter hatte ihr drittes Kind geboren.
"Was?! Ein Junge..?" rief meine Schwester entsetzt, und ich rannte jubelnd durch die Wohnung an der Hasseldelle, von Zimmer zu Zimmer, im Schlafanzug.
"Ich hab einen Bruder! Ja! Einen Bruder! Ich hab einen Bruder!!"
Was ich nicht wissen konnte, worüber ich aber sehr bald Bescheid kriegen sollte: Der Platz im Bett, an der Seite meiner Mutter, war nun belegt. Mein kleiner Bruder beanspruchte fortan den Thron an ihrem Busen.
"Die ersten Nächte bist du trotzdem zu mir gekommen, aber es war zu eng im Bett. Es ging einfach nicht. Ich.. musste dich abweisen."
Bedauern klang durch, bei einem Schälchen Joghurt mit Schokoraspeln zum Nachtisch, Bedauern, dass sie mich nicht darauf vorbereitet hatte.
"Es war ein Schock für dich. Du hast gekrampft, und ich weiß nicht, wie oft du schreiend wach wurdest, im Albtraum, mit Schaum vorm Mund."
"Schaum vorm Mund?"
"Ja. Es quoll regelrecht aus dir heraus.."
Wie sie so erzählte, spürte ich das Kitzeln einer tiefen, fast verlorenen Erinnerung. Nun war klar, warum ich so heftig reagierte, wenn eine Frau fort ging, die ich liebte, mich verliess mit ihrem Busen.
"Und warum du so viel Bier trinkst", meinte Karlos mit trocken erhobenem Zeigefinger, als ich ihm am Abend Bericht erstattete, am Tresen im Mumms, mit Schaum am Pils-Glas, auch bekannt als:
Blume.
*
Vorankündigung:
LESUNG IN HAMBURG, 3. OKTOBER 2014, mehr hier
Mitsubishi Boy

Natürlich hatte der Mitsubishi Boy ein Schoss raus. Aber es war ein Schoss, das man gerne hervorzieht, um sich die vielen kleinen Dinge darin anzuschauen.
"Wenn ich erst mal dreißig bin, fang ich an zu überlegen, wie ich vierzig werde", sagte er, "und wenn ich vierzig bin, fang ich an zu überlegen, wie ich fünfzig werde. Und so weiter, und so weiter. Das muss reichen fürs erste."
So kam er durchs Leben.
Wir hatten etwas gemeinsam - unsere großkotzige arrogante Klappe, als wir jung waren. Die Gräfin träumt gelegentlich noch davon, wie ich war, als sie mich kennenlernte.
"In meinen Träumen liegst du mit entblößtem Oberkörper im Gras, hast ein blondes Liebchen im Arm und pöbelst die Leute an. Machst auf dicke Hose, wie du so warst früher, aber es war nur ein Spiel, es war unwichtig. Es war, als hättest du das mit links gemacht."
Der Mitsubishi Boy war ähnlich. Nach einer durchzechten Nacht bin ich mal bei ihm aufgewacht. Wir waren beide noch blau und machten uns zu Fuß auf in die Stadt.
Unterwegs, an der Hof-Einfahrt einer stadtbekannten großen Stahlfirma, blieb der Mitsubishi Boy stehen und drückte die Klingel.
"Ja bitte?" meldete sich eine freundliche weibliche Stimme über die Gegensprechanlage.
"Firma Wackastein hier. Ich steh hier mit dem Zwanzigtonner. Wo muss ich denn hin?"
Sehr trocken, sehr laut, sehr überzeugend.
"Wer? Bitte?"
"Firma Wackastein! Mädchen, ich blockier hier die Strasse, verdammt! Wo soll ich den ganzen Kram abladen? Ich hab hier äh vierzig Paletten vernickelten Chrom.. drauf. Das muss runter. Zack zack."
"Moment bitte.. Da muss ich mal.."
Getuschel. Ich machte mir fast in die Hose. Das schöne Bier vom Vortag.
Der Mitsubishi Boy war die Ruhe selbst.
"Ich muss wieder auf meinen Bock, Mädchen. Ich komm jetzt rein.."
"Ja-- dann.. fahren Sie ähh schon mal zur Rampe C.. Unser Herr Benning kommt.."
"Nee, nee, ich lad jetzt alles ab, hier vor der Einfahrt, ich hab keine Zeit mehr", meinte der Mitsubishi Boy und wir marschierten weiter. Richtung Mumms. Frühschoppen. Paar Kölschbier, schon waren wir wieder hinüber.
UNTERKANDIDELTE LEUTE stand auf seinem T-Shirt, zerknautscht hing es über seinen Gürtel.
"Eh Glumm! Hast du früher im Sand gebuddelt?"
Er kam oft mit so komischen Sachen rüber. Man wusste eigentlich nie, worauf er hinaus wollte. Gelegentlich verpuffte sein Motiv auch unterwegs. Dann war ihm selbst nicht mehr klar, was er eigentlich wollte.
"Als Knirps mein ich.. hast du da im Sand gebuddelt?"
"Na klar", sagte ich. "Das mach ich heute noch, wenn ich im Urlaub bin, am Strand. Buddeln."
"Dachte ich mir! Aber.. buddelst du nach unten? Oder versuchst du dich wieder rauszubuddeln, in Richtung Sonne? Nach oben raus?"
Spott hatte sich im Laufe der Jahre in seine Mundwinkel eingefräst. Ein hübscher Knabe, eigentlich, der Mitsubishi Boy. Kein Wunder, dass die Viertelstunde, die ich in meinem Leben stockschwul war, ihm gehörten. 1977, auf der Klassenfahrt nach Nürnberg. Ich wollte ihm einen blasen, oben auf dem Etagenbett, aber er zierte sich. Chance vertan. Blödmann.
"Du meinst, ob ich einen Tunnel grabe", sagte ich und überlegte einen Moment. "Na klar, du Arsch. Wenn du nur nach unten buddelst, kommst du einfach nicht raus."
Er klatschte mich ab.
"Siehste! Das wollt ich hören."
Der Mitsubishi Boy fuhr - natürlich - Coupe. Die Ray Ban auf der Nase, Ry Cooder im Kassettendeck, dann die Kupplung kommen lassen bis auch der letzte Passant es bolzen hörte im Getriebe, das brachte niemand so ungerührt wie der Mitsubishi Boy.
Eine Überlandfahrt mit ihm von Solingen nach Düsseldorf und zurück glich einem Ritt auf dem Baraccudaschwarm. Mitte der 80er fuhr er seinen 79er Colt Celeste, jägergrün, zu Schrott. Er verreckte ihm auf der Autobahn, mit einem Kolbenfresser. Er hatte vergessen, Öl nachzufüllen, sieben Jahre lang. Dummerweise lag zu diesem Zeitpunkt ein Kilogramm Haschisch im Handschuhfach und der Ort des Geschehens (noch dummererweise) wenige Kilometer hinter dem deutsch-holländischen Grenzübergang Emmerich; ein Jahr ohne Bewährung.
Zwei Drittel musste der Mitsubishi Boy absitzen. Acht Monate, die er mit dem Studium philosophischer Texte verbrachte, von Charles Bukowski (Nicht mit sechzig, Honey) über 'Die Straße der Ölsardinen' von John Steinbeck bis John Fante. Er landete nie wieder im Knast.
Nun ist der Mitsubishi Boy bald fünfzig, zwei Jahre nur noch, und so fängt er an zu überlegen, wie man in Wirklichkeit fünfzig wird, besser noch einundfünfzig, ein Mitsubishi Man. Er lebt in der Pfalz, fährt ein Rad mit Bananensattel, er hat einen Bauch und immer noch Damenbesuch, so kolportiert man.
*
Wir wollten gerade seine Bude an der Drosselstrasse verlassen, da fiel ihm in letzter Sekunde ein, dass er kein Geld dabei hatte.
"Das ist in meiner anderen Hose", sagte er.
Er hatte zwei Hosen. Eine für zu Hause und eine zum Ausgehen. Wie die meisten von uns trug er keine Brieftasche, das Geld saß lockerer in der Hosentasche. Keine Brieftasche der Welt konnte eine Münze so locker zum Klimpern bringen wie eine Hosentasche in Korrespondenz mit Oberschenkelmuskeln, den wahren Notenlinien. Mitsubishi zog die Hose für zu Hause aus und die andere Hose an. Die mit dem Geld drin. Zum Ausgehen die.
"Ein Mann braucht zwei Hosen", sagte der Mitsubishi Boy, "und in einer muss Geld drin sein."
Recht hatte er.
Dann zogen wir los, zwei Herren mit Kleingeld, um die Ecke wartete das Hahneköpperfest.
Wir klimperten wie die Höllenhunde.
Ebola ist überall!!

Flugbegleiterin Natalie, für die Lufthansa weltweit im Einsatz, bringt aus Quebec einen solchen Killerhusten mit, trotz sommerlicher Temperaturen läuft sie mit einem Schiffstau von Schal durch die Gegend, sie krächzt und schnieft und röchelt in einem fort.
"Mann, bist du fertig", sag ich.
"Ja, bin ich auch - danke vielmals. Aber ich dumme Kuh feiere ja nicht krank, nee, natürlich nicht, unsere Natalie doch nicht, neieiein, unsere Natalie feiert nicht krank.."
In der Regel setzt sie am Ende eines Satzes einen selbstironischen kleinen Kiekser drauf, doch der Infekt macht daraus eine Art Seehund-Gebell, und ich muss aufllachen. Und das bei Natalie, die sich per se ständig auf den Schlips getreten fühlt, auch wenn sie genau diesen Anschein unbedingt vermeiden möchte. Nein, sie möchte eine weltoffene, immer noch attraktive Stewardess Mitte Vierzig sein, zu der man ruhig Stewardess sagen darf statt Flugbegleiterin oder Flight Attendant.
Aber nicht.. Mittvierzigerin.
Mittvierzigerin ist für Mittvierzigerinnen das verbotene Wort. Mittvierzigerin, das heißt: du hast nur noch einen halben Meter, dann beginnt das Abstellgleis, die Runzel-Hallen, die Gesichtschirurgie.
Möchtest du eine Mittvierzigerin zum Feind haben, du weißt, was du zu sagen hast.
Tatsächlich kann ich es bestätigen, Mitte Vierzig ist die Wende. Wenn man Dreißig wird, denkt man eine Weile, jetzt wirst du alt, das war's, doch dann geschieht lange Zeit: nichts. Man bleibt auf unbestimmte Zeit Ende Zwanzig. Und wenn man vierzig wirst, wiederholt sich das Phänomen. Man bleibt irgendwo in den Dreißigern stecken, es fühlt sich gar nicht so schlimm an wie befürchtet. Doch wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, trifft es einen umso härter: zum 46. Geburtstag, Mit 46 wird man plötzlich wach und ist: 50. Ein altes Tier, das sich zum Sterben in die Ecke verziehen möchte.
Schwimmen Sie, Glumm! Schwimmen Sie!
Ill: Susanne Eggert
*
Schulschwimmen hatte mit Sport nichts zu tun. Nicht für mich. Zwar war ich vernarrt in alles, was mit Bewegung und Beinen zu tun hatte: Fußball, Leichtathletik, Trampolinspringen, (sogar Bodenturnen ging in Ordnung, solange es sich um Salto handelte oder einen mordsmäßig verschraubten Flic Flac und nicht um Purzelbaum mit anschliessender Kerze) – doch sobald es ins Wasser ging, versteifte ich.
Ich hasste Schwimmen.
Ich konnte nicht schwimmen.
Ich glaube, ich war so ziemlich der letzte in meiner Klasse, der noch nicht schwimmen konnte. Meine Angst vorm Wasser kulminierte alle zwei Wochen Donnerstags nach der großen Pause, wenn der Reisebus kam, um uns zum Hallenbad Birker Straße zu bringen. Spätestens ab da war der Tag für mich gelaufen. Am liebsten wäre ich stiften gegangen, egal wohin, Hauptsache raus aus dem Bus, diesem großen Gefährt Richtung Abgrund.
Ich saß zusammengekauert auf dem hintersten Sitz, neben Annemie Miller mit ihrem schweinerosa Schwimmbeutel. Die Strecke zur Badeanstalt war kurz, nicht mal fünf Minuten. Fünf Minuten im Bus können eine ungemütlich lange Zeitspanne sein, wenn am Ende die Zwangseinweisung ins Wasser droht, alle vierzehn Tage Donnerstags. Und wenn man dann noch die Badehose bereits druntergezogen hat, eine enge Buxe, die am Sack zwickt, dann ist das auch nicht schön.
Die Städtische Badeanstalt Birker Straße wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet, auf dem Areal eines ehemaligen Schlachthofs. Für mich waren Badeanstalt und Schlachthof identische Folterwerkstätten.
Alles, was mit Schulschwimmen zu tun hatte, bereitete mir seelische Qualen. Da die beiden Schwimmstunden in die reguläre Öffnungszeit des Hallenbades fielen, waren wir Jungs nicht allein im Becken, und auch unter der großen Gemeinschaftsdusche gab es normales Publikum.
Was heißt normal.
Da standen Rentner mit durchgedrückten Beinen und dicken weissen Bäuchen, die daheim keine Waschmöglichkeit hatten. Mitleidlos und zornigen Waschfrauen gleich seiften sie ihre riesigen hängenden Gemächte ein und putzten und schrubbten es mit einer Hingabe und Verachtung, als walkten sie Wäsche im Weltkrieg, während wir Kinder verschämt die Köpfe senkten und dem Seifenschaum nachblickten, der in langen Kolonnen Richtung Abfluß sickerte – ein übles Gemisch aus Schamhaaren, Kolibakterien, Alterszucker und Fa.
Und dann begann der Horror.
Noch war ich nicht im Wasser. Zum Abkühlen wechselten wir von der warmen Dusche unter die eiskalte Brause, von der es nur eine einzige gab und wo man fröstelnd darauf warten musste, bis man an der Reihe war. Danach ging es im Gänsemarsch ins Becken, ins kachelblaue Inferno.
In der Nase den Gestank von zu viel Chlor, in den Ohren die spitzen, von hohen Gründerzeitwänden widerhallenden Schreie derjenigen Mitschüler, die Spaß am Schwimmen hatten, die Butterfly und Kraulen konnten und kurz vorm Rettungsschwimmerabzeichen standen, die einen anrempelten und zur Seite stießen, weil sie es nicht erwarten konnten, ins Wasser zu kommen. Die mich anrempelten! Mich, die Nummer 1 in Sport, außer in Schwimmen, die in sich gekehrt und sehnsuchtsvoll bibbernd den Ausgang der Badeanstalt nicht aus den Augen ließ..
*
Es gibt Gerüche, die einem plötzlich in die Nase steigen und die schönsten Momente der Kindheit zurückbringen. Etwa der Geruch, der im Spätsommer beim Pflücken von Brombeeren in der Luft ist, er macht mich glücklich. Und wenn dabei ein leichter Landregen niedergeht, bin ich selig. Brombeeren im Regen sind eine sehr leise, sehr süße Bombe.
Doch wehe, von irgendwoher steigt Chlor in meine Nase. Dann ist bei mir ruckzuck Essig mit Brombeere, dann ist knallhart Schulschwimmen angesagt im gekachelten Becken Badeanstalt Birker Strasse 1969. Dann sehe ich mich wieder inmitten von Schamhaaren, Kolibakterien, Alterszucker und Fa, mit soviel Herpes am Maul wie Blumenkohl in einen Container passt.
Schulschwimmen.
Das war für mich ungefähr so, als erwachte ich alle zwei Wochen im falschen Erdzeitalter, wo die Amphibien noch in der Entwicklung waren und ich als Gottes erster Versuchsfrosch ins Wasser hüpfte. Derweil spazierte ein ganz in weiß gekleideter Bade-Herr mit amüsiertem Gesichtsausdruck und in offenen Badelatschen am Beckenrand entlang und notierte in sein gottverdammtes Bademeisternotizbuch, was alles falsch lief bei mir, da unten im Wasser.
Meine unkoordinierten Versuche, mich über Wasser zu halten und nicht abzusaufen, bedachte er solange mit Spott, “Na Glummi, wieder auf Krötenwanderung?", bis ich endlich den Freischwimmer wagte. Und wo ich schon mal dabei war, packte ich vierzehn Tage später den Fahrtenschwimmer obendrauf. Damit hatte ich gewonnen. Ich hatte den begehrten Freien-Fahrten, fertig, aus.
Kraulen kann ich bis heute nicht.
Ich bin heute noch neidisch auf die Burschen, die so lässig und souverän das Becken durchpflügen, als wären sie am Mittelmeer geboren und könnten schön singen auf Italienisch. Ich kann gerade mal Brustschwimmen und bin froh, wenn ich eine halbwegs spritzende Arschbombe hinkriege, ohne Schmauchspuren zu hinterlassen.
Apropos Schmauchspuren.
Ich habe da diesen wiederkehrenden Traum. Ich sitze mit dem Bademeister von der Birker Strasse in der Badewanne. Es ist Samstag, und Samstag ist Badetag. Wir baden in jedem Traum gemeinsam, ich und der Bademeister, mittlerweile ein alter Mann. Doch sein Gesicht ist jung und spöttisch wie eh und je. Bis plötzlich eine Kackwurst plopp! an der Wasseroberfläche auftaucht, wie ein brauner Pottwal. IIHHH! schreit der alte Bademeister und stürzt aus der Wanne. DER GLUMM HAT INS WASSER GEKACKT!
Pitschenass rutscht er auf den Badezimmerkacheln aus und legt sich lang. Zähne ausgeschlagen. Nasskot am Bauch.
Ich wache hochzufrieden auf.
Der Blueshund

Morgens um halb neun, gleich nach dem Nachtdienst, nahm ich den Oberleitungsbus Richtung Hästen. Am Pfaffenberg stieg ich aus und trödelte durch den Wald runter ins Schellbergtal, ein großes weißes Hotel-Handtuch unterm Arm, die Badehose drunter. Ich hatte Lust auf Schwimmen. Was heißt Schwimmen. Im Freibad auf der Decke liegen, Bier trinken und zwischendurch ins blaue Wasser fallen.
Stattdessen war alles verrammelt.
Öffnungszeiten in der Woche:
11-20 Uhr
Schon beim Näherkommen hatte ich mich über die ungewohnte Stille gewundert. Kein Kindergekreische, keine Bauchklätscher, nichts. Was jetzt? Etwa bis elf Uhr vorm Freibad rumlungern?! Wieder den ganzen Weg zurück, für lau?
Ich stand vor dem Drahtzaun. Das Wasser schimmerte mich teenagerblau an, ich sah Libellen, die über die Wasseroberfläche rotierten und Loopings zeigten, ein zackiges Geschwader. Und dann war da dieser Mann im Trainingsanzug. Er marschierte weit hinten auf der Liegewiese auf und ab, in den Händen so etwas wie einen riesigen überdimensionierten Frittenpieker. Ich rüttelte am Gitter.
“Halloo!?”
Keine Reaktion.
“HALLOOO!!”
“JA..??”
“SAGEN SIE, KÖNNTEN SIE MICH REINLASSEN?”
“Ist geschlossen!”
“WAAS?!”
“IST GESCHLOSSEN! WIR MACHEN ERST UM ELF AUF!”
“JA , WEISS ICH, HAB ICH GERADE GELESEN.. ABER ICH BIN EXTRA ZU FUSS RUNTERGEKOMMEN..”
Er stierte zu mir rüber.
“ZU FUSS, ICH BIN EXTRA ZU FUSS..!“ wiederholte ich.
“SCHON GUT. ICH KOMME..”
Er ließ sich Zeit. Er trottete an den Umkleidekabinen vorbei, in die der Mitsubishi Boy viele Jahre zuvor mühsam Löcher gebohrt hatte, in Muschihöhe, mit dem Handbohrer, aus Versehen bei den Knabenkabinen. Ich wartete am Eingang. Der Bademeister rief etwas. Ich verstand ihn nicht. Ich solle zu einem anderen Tor kommen. Dem um die Ecke, dem Tor.
In Ordnung.
Ich ging um die Ecke, und da stand er plötzlich mit einer Töle, die er stramm und kurz an der Leine hielt. Wo kam die denn so schnell her? Ein Boxer-Mix. Ein Mordsvieh. Hektor. Unter Garantie.
“Was gibt’s?”
“Können Sie mich reinlassen?”
“Wir machen erst um elf auf.”
“Schon, aber ich komm direkt vom Nachtdienst.. ich bin vom Pfaffenberg zu Fuß runter.. den ganzen Weg. Ich dachte, es wäre um acht auf.. Können wir nicht eine Ausnahme machen?”
Die Töle hechelte und sabberte. Wuppertaler SV las ich auf dem blau-roten Trainingsanzug des Bademeisters. Ein abgewetztes Teil, so aus der Nähe. Ich sagte nichts mehr. Ab jetzt war jedes Wort zu viel. In kniffligen Momenten sollte man dem Gegenüber das Gefühl geben, er selbst habe zu entscheiden.
“Na gut, aber ins Wasser erst ab elf. Vorher ist das Schwimmen untersagt.”
“Okay! Kein Problem. Ich will mich nur was auf die Wiese legen..!”
Er öffnete das Tor, ich drückte ihm das Eintrittsgeld in die Hand, drin war ich. Ganz allein im Schellberger Strandbad, Montag früh, August 1986, neun Uhr. Nur das Plätschern der Brunnen im Kinderbecken war zu hören, und das Knistern der Stromleitungen, die sich übers ganze Gelände schwangen, von Strommast zu Strommast.
Das Gras, noch feucht von der Nacht. Völlig übermüdet breitete ich das Handtuch aus, zog das T-Shirt aus und schlief auf der Stelle ein.
Ein windiger Schlaf.
Der Himmel bedeckte sich, ich spürte es auf der Haut. Unter den Strommasten sammelten sich erste Stechmücken und machten sich ausflugfertig für elf Uhr. Für die erste Tombola des Tages. Einmal wurde ich wach und glaubte den Bademeister schimpfen zu hören, “ja, gottverdammich! Wieso springt der nicht an?!” Kurz darauf startete ein Auto und entfernte sich knatternd den steilen engen Schellberg hinauf. Vielleicht fuhr der Chef Würstchen kaufen, dachte ich. Für den Kiosk.
Für um elf.
Es dauerte keine Minute und ein paar prüfende Blicke, schon war ich unten am Becken und mit einem sportlichen Köpper im Wasser. Ich machte einige erfrischende Tauchgänge, schnappte nach Luft, und hörte Gebell. Boxergebell! Hektor! Es dauerte keine Minute, und ich lag wieder auf meinem Handtuch in Hanglage, und schlief weiter.
“He – woher kenn ich dich denn?!”
Die Frage kam von weit her, wie durch einen Holzperlenvorhang. Ich schob die Augen auf. Ein Kerl mit schmuddeligem T-Shirt und Bierplauze stand direkt über mir, ein Bier in der Hand. Geh mir aus der Wolke, knurrte ich in Gedanken.
“Ich kenn dich doch”, wiederholte er. “Woher kenn ich dich?”
Hatte der noch was anderes auf Lager? Ich stütze mich auf und guckte mir den Knaben näher an. An seiner Schläfe wuchs eine dicke braune Warze, darauf stand ein langes einzelnes Haar – er sah aus wie ein Hexer, aber mit zu viel Kilos drauf.
“Vielleicht kennst du mich aus dem Mumms”, murmelte ich. “Die meisten Leute kennen mich aus dem Mumms.”
Er setzte sich zu mir auf die Wiese. Ein bisschen zaghaft, weil ich ihn nicht eingeladen hatte, ein bisschen unentschieden. Allerdings machte ich auch keinen abwehrenden Eindruck. Man muss die Leute nehmen, wie sie kommen. Trotz seines immensen Bauches bewegte er sich erstaunlich flink. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Es war Malzbier.
“Kennst du Rolf der Wolf und die Blueshunde?”
“Schon mal gehört, ja..”
“Das ist meine Band!”
Den Namen kannte ich von diversen Plakaten. Wenigstens kein blöder englischer Bandname.
“Dann bist du Rolf..?”
“Rolf, der Wolf, genau. Sänger und Songschreiber. Willst du auch nen Schluck?”
“Nee. Danke.”
Dann erzählte er. Ohne Umschweife. Von Lymphdrüsenkrebs. Von der Chemotherapie. Von der Psychose.
Vom Blues.
“Manchmal höre ich meine eigene Stimme im Radio, als Nachrichtensprecher. Dann denk ich, hey – seit wann bist du im Radio?! Ich ruf bei meiner Schwester an und sag ihr, sie soll das Radio anmachen, ob sie das auch hört. Sie sagt dann natürlich, das ist nicht deine Stimme, das bist du nicht, Blödsinn alles, aber sie kann sagen, was sie will, ich glaub ihr nicht, ich bleib dabei, ich bin im Radio.”
Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
“Wenn es ganz schlimm kommt, glaube ich, ich könnte das Fernsehprogramm manipulieren. Dann laufen den ganzen Tag nur Sendungen, wie ich sie will.”
“Komisch. Das hat mir schon mal einer erzählt”, sagte ich.
Aber davon wollte er nichts hören. Wenn er mich schon vereinnahmte, dann sollte es auch ein Sololauf bleiben. Dann ging es nur um ihn, um Rolf den Wolf von den Blueshunden, und nicht um irgendein Gelumpe, das er nicht kannte.
“Manchmal glaub ich sogar, ich bin Jesus. Dann springen alle Ampeln auf grün, wenn ich auf dem Moped unterwegs bin.”
“Oh, wie praktisch”, warf ich ein.
Je mehr Rolf erzählte, desto kurzatmiger wurde er. Seine Nikotinfinger glänzten. Es duftete nach frisch gepresstem Angstschweiß.
“Setz mich fünf Minuten an irgendeine verdammte Bushaltestelle und ich sage dir, was los ist in der Welt.”
Jetzt war ich voll da. In seiner nervös nestelnden Art erinnerte er mich an diese verrückten Mods in alten Top of the Pops-Ausgaben, Typen, die immer einen Tick zu aufgeregt waren im Scheinwerferlicht des Studios. Sie meinten es gut, sie hatten einen ersten Hit im Gepäck, und doch hätten sie beinah alles vermasselt. Sie waren ständig zu aufgeregt. Sie kamen ständig zu früh, und die Manager wetterten hinterher in der Umkleide, wie könnt ihr nur, nächstes Mal habt ihr nicht so viel Glück.
Und die Mädels waren auch sauer.
Auf dem Höhepunkt der Psychose sprang Rolf, der Wolf, splitternackt über die Autobahn – da nahmen sie ihn fest und steckten ihn ins Irrenhaus, wegen fortgesetzten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.
“Ich war fünfzehn Mal bis jetzt im Irrenhaus. Ich sag immer Irrenhaus. Hier.”
Er zeigte mir seinen Handrücken, auf dem drei Buchstaben eintätowiert waren: L.K.H. Darunter 15 blaue Pünktchen. Er zählte sie ab, damit ich auch sehen konnte, dass es stimmte. Niemand liess sich fünfzehn knastblaue Punkte stechen, wenn er nur zehn Mal im Landeskrankenhaus gewesen war. Logisch.
“Was willst du machen. Alle vierzehn Tage krieg ich jetzt eine Depotspritze, gegen die Jesus-Euphorie. Die ist am schlimmsten. Da dreh ich voll ab.”
Er blickte mich triefäugig an.
“Wusstest du, warum Jesus so früh sterben musste, mit Siebenundzwanzig? Er hätte es nicht länger auf der Erde ausgehalten, bei all dem Ärger, sonst wäre er doppelt so dick geworden wie der Herrgott selbst, und die Leute hätten ihn ausgelacht. Kein Jünger wäre einem Fleischklops gefolgt.”
“Wie – ist Jesus auch mit Siebenundzwanzig gestorben?”
“Ja, der auch.”
Weil Rolf so kurzatmig war, erkundigte ich mich, wie er das mit dem Singen hin bekam auf der Bühne, wie er das geregelt kriegte.
“Mit Singen hab ich kein Problem, live bin ich grundsätzlich voll. Der Bassist ist auch voll, der Organist sowieso, nur unser Schlagzeuger, der trinkt nicht, der ist link. Der will nach jedem Konzert bar ausbezahlt werden.”
“Die linke Sau”, stimmte ich zu.
“Die Psychose liegt in der Familie”, fuhr Rolf fort. “Außer meiner mittleren Schwester haben alle einen an der Klatsche bei uns. Auch meine Mutter. Die sowieso. Die ist der Vollhonk.”
Dann war das Malzbier alle, und die Mittagssonne kam durch. Der Schweiß floss durch Rolfs Gesicht wie nach einer spontanen Wurzelbehandlung ohne Betäubung an allen Zähnen.
“Aber mit dem Krebs ist gut. Ist besser geworden. Stillstand.”
Elf Uhr 15. Das Freibad füllte sich. Stechmücken rieben sich den Rüssel im Erkundungsflug, Rolf, der Wolf, seinen Bauch.
“Gleich geh ich mal ins Wasser, was gegen die Wampe tun”, sagte er und klopfte dreimal aufs Fett.
Stattdessen blieb er hocken, in seiner speckigen Jeans, und rauchte.
“Mann, ich schwitze wie eine Sau. Weißt du, woher das kommt? Vom Saufen. Ich sauf zuviel. Das ist das Dilemma in meinem Kopf. Ich will auch mal frei sein, nicht immer nur Zwang, Zwang, Zwang. Die letzten zwei Wochen war ich in Kur. Die hat mich ruiniert. Direkt gegenüber vom Kurhaus war so ein SPAR-Markt. Kennst du die Halbe-Liter-Dosen aus dem SPAR?”
“Moment.. Die weißen, wo nur BIER draufsteht – und sonst nix..?”
“Genau die. Achtundsiebzig Pfennig die Büchse. Von morgens bis abends, eine nach der anderen, bis ich Wölfe gesehen hab am hellichten Tag. Ha ha – gut, ne? Die Kur hat mich ruiniert.”
Er rauchte Schwarzer Krauser. Kaum war eine Kippe ausgedrückt, drehte er die nächste.
“Hast du vielleicht mal ne Aktive?”
“Nee, ich rauch auch Tabak”, sagte ich.
“Ach so, stimmt, da liegt er ja. Schade. So zwischendurch mal ne Aktive.. Ich bin ja nicht mehr so viel unter Leuten, seit ich wieder mit ner Frau zusammen bin, wir gehen kaum noch weg. Wir trinken unser Bier zu Hause. Maria hab ich im Psychosozialen Verein kennen gelernt, sie hat da gearbeitet. Dann hat man sie rausgeschmissen, aber sie geht immer noch jeden Tag hin und arbeitet zwei Stunden, damit sie im Herbst vielleicht wieder eingestellt wird.”
“Na Moment. Aber Geld kriegt sie doch dafür..”
“Maria?? Keinen Pfennig. Sogar das Fahrgeld muss sie selbst zahlen.”
“Und das nennt sich sozialer Verein!”
“Psychosozialer Verein”, verbesserte mich Rolf. “Ist aber egal. Ist alles der gleiche Schweineverein, wo du auch hinguckst.”
Er rotzte ins Gras.
“So, ich dreh mal weiter meine Runde, mal sehen, ob ich noch wen treffe. Machs gut.”
Am späten Nachmittag, ich brach gerade meine Zelte ab, hörte ich die Lautsprecherdurchsage vom Bademeister.
“Die Kinder, die sich mit Müllaufsammeln eine Mark verdienen wollen, bitte am Kassenhäuschen melden.”
Es bildete sich eine ziemliche Schlange beim Bademeister. Er verteilte lange Müll-Pieker und Handgreifer an die Kinder. Ich drehte mich noch mal um und sah zufällig Rolf, den Wolf, wie er mit einem Bier am Beckenrand saß, die käsige Haut sonnenverbrannt, als säße er im Fegefeuer. Mittendrin. In der Endlosschleife.
Ich winkte, doch er sah mich nicht.
Buh-Rufe aus dem Sanatorium / Party-Report 2006
Klar, einen Kater zu haben mit Mitte Vierzig ist nicht wirklich dasselbe wie mit Neunzehn, wo man morgens nach einer Party auf der Gartenbank wach wird, splitternackt und mit giftgrüner Zunge. Ich weiß bis heute nicht, was in dieser Nacht passiert ist. Nach vorsichtig-schmierigen Andeutungen der Gastgeberin hab ich nicht weiter nachgefasst. Ich wollte gar nicht mehr wissen, was so alles dazu führen kann, dass man mit grüner Zunge aufwacht.
Stutzig machte mich allerdings, dass selbst mein bester Freund Karlos mich komisch von der Seite anguckte, eine Woche lang. Irgendwie war er in die Sache mit der Zunge verwickelt gewesen.
Na, jedenfalls.
Danach hatte ich den schwersten Kater meines Lebens. Ich war 48 Stunden Alle Farben Ausser Grün-blind. Ich konnte alles nur noch absinthgrün sehen, und grob gehäckselt. Dagegen ist mein jetziger Kater ein Kätzchen, das heißen Wind bläst und mich kitzelt mit langem Barthaar. Das schnurrt geradezu, so ein Bierschädel mit Mitte Vierzig.
"Du redest nur Blödsinn, weißt du das."
Ja natürlich weiß ich das. Ich vertrage keinen Alkohol mehr, daran liegt das. Da redet man automatisch mehr Unfug. Mit Gongschlag Mitte Vierzig ist mein altes Leben vorüber. Was nun nicht bedeutet, dass ich gleich damit aufhöre, mit dem alten Drogenleben. Eine Weile läuft das noch weiter. Weiter, immer weiter. Trink-und Sitzmaschine: ein.
Und weiter.
"Bis du tot umfällst."
Ja ja ja ja - ist ja schon gut. Ich hör ja schon auf. Morgen.
Aber wie mach ich das mit dem Aus-mir-rausgehen, wenn ich nicht mehr trinke? Wie bewege ich mich in Gesellschaft, nüchtern? Dafür nimmt man doch Drogen. Um zu kommunizieren. Um zu bestehen.
Heroin-Blabla ist der Blümchenkaffee unter den Drogengesprächen, man pennt sofort ein vor lauter Bravheit. Unter dem Einfluss von Kokain fahndet man nur ununterbrochen nach den geilen Wörtern, die wenigstens entfernt die super Stimmung ausdrücken, auf der man unterwegs bist. Bekifftes Gequatsche ist einfach nur lästig, besoffen macht man sich lächerlich, auf LSD redet niemand.
Dazu der Mitsubishi Boy:
Ich muss das Rauchen aufhören und das Saufen sowieso. Am besten alles in eine Mülltüte und weg damit. Und dann noch mal neu anfangen, alles von vorn. Du Scheiße, wird das anstrengend..! Nee!!
"Und die Party? Wie war die Party?" frag ich die Gräfin, ich kann mich nämlich an nichts erinnern, nicht mal an Szenenapplaus oder Buh-Rufe aus dem nahen Sanatorium. Die Party fand auf der sonnengelben Hazienda meines Bruders statt, schräg in die Bergischen Wälder geschnitzt. Achtzig Gäste waren geladen und ein Bierzelt. Die Ska-Kapelle, die zum Tanz aufspielen sollte, hatte abgesagt, weil der Saxofonist urplötzlich in U-Haft geraten war.
"Den haben sie rausgeschmissen", korrigiert mich die Gräfin. "Aber nicht urplötzlich."
"Hm. Und sonst, wie war die Party?!"
"Da.. also, da waren jede Menge Wesen.. fremde feiernde Wesen. Ich und die Anderen."
Ich erinnere mich. Ja, es war nicht ihr Abend gewesen. Meist saß sie still und verloren auf der langen Bank, den Blick im nächtlichen Sternenhimmel, wenn ich mich zu ihr gesellte. Und wenn sie doch mal den Mund aufmachte, kamen die Sätze allzu scharf heraus. Wie das so ist, an manchen Tagen. Man will niemanden beleidigen, hat aber den Köcher voll giftiger Pfeile.
"Ich hab ne Menge Leute beleidigt", fürchtet sie."Den Roberto zum Beispiel."
"Den Roberto..? Den kann man beleidigen?"
"Na, brüskieren. Er war nicht so gut drauf, glaub ich. Er ist den ganzen Abend so steif übers Gelände gestiefelt, als hätte er ne Schippe im Hals. Und dann hab ihn auch noch gefragt, ob er seine Zweit-Perücke aufgesetzt hat."
Ich breche in schallendes Gelächter aus. Robertos Haar war frisch geföhnt gewesen, das war selbst mir aufgefallen. Es duftete nach Apfelshampoo wie eine Maxi-Tüte Colorado.
"Wen hast du noch beleidigt? Zum Beispiel."
"Dich. Zum Beispiel."
"Mich hast du beleidigt? Kann mich nicht erinnern."
"Natürlich nicht. Du warst ja auch voll. Ich hab dich einen stinkenden alten Monobock genannt, der nur eine einzige stinkige alte Schnulze drauf hat."
Es knackt in meinem Hinterkopf.
"Nein!" ruf ich. "Peter Kraus..? Hab ich etwa Peter Kraus gesungen?"
"Na sicher. Was sonst."
Ich hab es doch wieder getan: Im besoffenen Kopf Strasse der Sehnsucht gesungen. Du bist allein. Einmal glücklich sein auf Erden, einmal nicht beiseite stehen, ja. Das wär schön.
"Weißt du, was dich rettet, wenn du so peinlich bist? Dein Auflachen. Wenn es so rausplatzt aus dir, aus deinem breiten Kiefer. Dann verzeiht man dir fast alles."
Sie seufzt.
"Ich hab gestern noch mal gemerkt, wie das ist, wenn nicht jeder Satz ein Knaller ist, den man raushaut. Wenn alles falsch rüberkommt. Na, ist doch so. Ich schreib mich demnächst zur Studie aus. Echt."
Gegen den Schädel spazieren wir an den Pferde-und Kuhwiese vorbei zum Treppenbach.
"Der Mensch ist am schönsten, wenn er den ganzen Tag unterwegs ist. Dafür sind wir Menschen gebaut, zum Unterwegssein." (Die Gräfin)
Unterwegs begegnet uns Frau Heller, mit ihrer Rehpinscherdame Kara. Frau Heller, Rentnerin, hat laubrotes Haar und trägt merkwürdiges Schuhwerk, eine Mischung aus Teufelshufe und Stöckelschuh. Sie berichtet uns von ihrer 57jährigen Tochter, der man letzte Woche den halben Magen wegoperieren musste.
"Oh, sieht die schlecht aus. Die raucht zuviel. Vier Packungen am Tag. Ist doch nicht normal, oder? Und dann alle die Türken, mit denen sie rummacht. Das bleibt doch nicht in den Kleidern hängen."
Frau Hellers Handtasche ist in Hundekreisen für die selbstgebackenen Leckerchen berühmt. Allerdings verfüttert die alte Dame ihr Gebäck nicht auf die traditionell liebevolle Weise älterer Damen. Im Gegenteil. Frau Heller schmeißt die Getreideplätzchen nach den Hunden wie Kamelle. Als stünde sie oben auf dem Rosenmontagswagen. Die Hunde müssen sich sehr vorsehen.
Wir schlagen den Heimweg ein. Das bringt nichts heute. Wir sind platt. Als wir aus dem Wald heraustreten, fällt mir etwas ein. Ich saß zuletzt auf der langen Festbank im Hof, schon reichlich knülle, als sich Lonnie lautstark über die Tage seiner Kindheit beschwerte.
"Ach komm, unbeschwerte Kindheit, hör mir auf damit! Wie ich als Kind von meinem Bruder durch den Wald gezwungen wurde, auf dem Dreirad, mit dem Rässelchen und die ganze Zunge grün und blau vom Bubble Gum Blasen..! Horror!"
Verschneites Nest
Der Herr Litfass kam aber nicht aus Remscheid.
"Mein lieber Mann", schnaufte die alte Frau, die im Cafe an der Wand saÃ. Sie trug eine Bommel-Mütze und einen stabilen blauen Mantel. "Mein Bruder Valentin hatte am Valentinstag Geburtstag. Aber der ist ja längst tot."
Die alte Frau nahm zwei Bistro-Tischchen in Anspruch. Rechter Arm auf dem rechten Tisch, linker Arm auf dem linken Tisch, ihr wuchtiger Leib dazwischen auf der gepolsterten Bank. Zu ihren FüÃen: ein zum Trocknen aufgespannter Regenschirm, eine Handtasche und die prallgefüllte Einkaufstüte, aus der oben eine Packung tiefgefrorenes Kirscheis hervorlugte.
"Ich hab ja gar nicht gewusst, dass heute Valentinstag ist. Guck ich eben in ein Blumengeschäft rein. In die Auslage, weiÃt du. Liegen da lauter rote Herzen rum. So eine ganze Herzwiese voll, weiÃt du."
Ich drehte mich um, weil ich mich fragte, mit wem sie eigentlich sprach. Hinter mir war niemand. Die Serviererin brachte den Kaffee, nachsichtig lächelnd.
"Der ist aber doch schon lange tot, der Valentin.."
Die alte Frau nickte, zündete sich eine Zigarette an.
"Ja, mein Valentin ist lange tot.. Lange tot." Sie gab sich einen Ruck. "Aber was soll ich zuhause, junger Mann? Ich hab gespült und aufgeräumt, was soll ich da. Hör mal, ich rauch seit 1936, dann kam der Krieg. Nee, hör auf, mit Rauchen hab ich noch nie Schwierigkeiten gehabt, da gewöhnst du dich dran. Ich hab immer gearbeitet und immer geraucht."
Sie rauchte ohne Filter. Overstolz.
"Aber ich paff ja nur. Keine Lungenzüge. Seit 1936."
Ausser der Frau und mir waren einige Italiener anwesend, in modischen Westen. Sie schwiegen sich an, starrten angestrengt in die FuÃgängerzone. Waren das überhaupt Italiener?
"Hier läuft wenigstens schöne Musik. Nicht so wie dahinten, wie bei den Türken", meinte die alte Frau. Sie zog einen kleinen Schminkspiegel aus der Handtasche, in die sie flink zwei verpackte Zuckerstückchen vom Tisch verschwinden lieÃ. "Die mit ihrem.. Gedöns! Fräulein!"
Die Serviererin war schon da.
"Guck mal hier, Mädchen.." Die Alte drückte ihr den kleinen Spiegel in die Hand. "Schenk ich dir. Hab ich aus Paris, aus dem Theater in Paris. Musst du nur was sauber machen. Dann ist der wie neu."
Die Italienerin lächelte unverbindlich, nahm den Spiegel, und verzog sich hinter die Theke. Man hörte Geschirrklappern, das Zischen der Espressomaschine. Dann war eine Weile Ruhe. Keine Musik, kein Geschnatter.
Alles trank seinen Kaffee.
Es klopfte an der Fensterscheibe. DrauÃen stand eine riesige Spiegelei-Matrone und winkte aufgeregt.
"Hallooo..!!" Schon war sie zur Tür rein, strahlend. "Morgen zusammen!"
Mit einem Wusch Schneeluft.
"Warst du einkaufen?" fragte die Alte. "Mein lieber Mann, was hast du denn alles gekauft? Warst du zwangsshoppen?"
Die Neue setzte sich dazu, mit Unmengen Tüten und Täschchen.
"Luise kommt auch gleich. Luise ist auch gleich da. "
Ich legte Münzgeld, von dem ich annahm, dass es irgendwie reichte, auf den Tisch, und wollte mich verabschieden, aber so einfach war die Geschichte nicht. Ãberall Taschen, Körbchen, Wortschwall.
"Moment, junger Mann", meinte die Serviererin, "hier lang."
Sie hakte sich bei mir unter und begleitete mich bis zur Tür, mit einem freundlichen Zwinkern, als wäre das Leben nur ein Auf und Ab von Herzen. In Remscheid.
Mitte.
Die Gräfin und der Weltraum
(Ausserirdische)
*
"Wir könnten ja auch runterfallen. Wer garantiert uns denn, dass die Erdanziehung auf ewig hält. Manchmal gruselt es mich richtig, wenn ich mir vorstelle, dass unsere alte Erde so frei im Weltraum herumschwebt. Aber weisst du, was mich am meisten stört? Dass ich nicht mehr mitkriegen werde, was das alles soll mit der riesigen Galaxis, wer das alles erfunden und gebaut hat. Und zu welchem Zweck. Das ist richtig gemein. Jede Wette, die kriegen das erst im Jahr 2640 heraus, und dann bin ich längst Asche. Das ist ungehörig. Lach nicht. Ich meine das ernst. Da wird man erst angefixt mit all unserem Halbwissen und Vermutungen, aber was ist..? Nichts ist. Nada. Kacke alles."
Bora Bora
Es gibt Tage, da fällt meine Sozialbilanz verheerend aus. Ich spreche mit kaum einer Menschenseele, selbst mit der Gräfin nur das nötigste.
Es sind nicht die schlechtesten Tage.
An anderen Tagen bin ich unterwegs. Da ist dieser Typ, etwa mein Alter, der mir neuerdings auffällt, wenn ich in der Stadt zu tun hab. Der Typ ist auf einem Tretroller unterwegs, diesen Dingern, die vor Jahren populär waren, mittlerweile aber fast schon wieder aus dem Stadtbild verschwunden sind.
Ich bin mit dem Oberleitungsbus der Linie 683 unterwegs, von Gräfrath in die Stadtmitte, als er am Central zusteigt, mit seinem Roller. Der Bus ist so voll, es ist kein Sitzplatz frei. Nur in der Busmitte, wo sonst Kinderwagen parken oder die Doppelwagen schlechtgelaunter Postboten, ist noch Platz zum Stehen.
Der Tretrollertyp blickt mich an.
"Was soll ich groß zu Fuß zu gehen", lacht er.
"Hm", sag ich. "Sicher."
"Ist ein Cityroller. Mein kleiner Flitzer."
Er streichelt den Lenker.
Neben uns halten sich zwei Frauen in den Halteschlaufen fest. Eine hat rotes Haar und schwärmt von diesem total süßen kleinen Thailänder in Elberfeld, wo sie gestern Abend eingeladen war. "Aber tootal lecker!" "Der Koch war am Singen bei der Zubereitung, konnte man bis an unseren Tisch hören!" "Das einzige, was störte, war Schloss Neuschwanstein an der Wand. Ich mein, bei einem Thai, also ehrlich!" "Das Essen war so scharf, ich musste mr ein neues T-Shirt anziehen auf der Toilette."
In Elberfeld, Calvinstrasse, erste links. (Für Interessenten.)
Kurz darauf gibt es einen lauten Knall - der Bus stoppt. Eine der Stangen auf dem Fahrzeugdach, mit denen der Strom von der Oberleitung abgenommen wird, hat sich gelöst. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder der Fahrer schaltet auf Batterie um und kriecht den Rest der Strecke mit 30 Stukkis durch die Hauptverkehrsstraßen, oder der Mann zieht sich Arbeitshandschuhe an, verlässt den Bus und und führt die sechs Meter langen Stangen wieder ans Stromnetz. Er entscheidet sich für die Arbeitshandschuhe und das Kunststück. Ein Aufatmen schwappt durch den Bus. Keiner will Batteriebetrieb.
Danach kommt Funkverkehr.
"Hier Linie 683 Richtung Graf-Wilhelm Platz. Hab eben die Stange verloren, weil die 682 die Weiche nicht umgestellt hat. Da schreiben wir noch eine Meldung drüber."
"Das alte Schwein", lacht der Typ mit dem Roller, er steht so nah, ich rieche sein Frühstück. "Hat der seine Stange verloren."
Warmer Fleischsalat. Er trägt eine College-Kappe, falschrum aufgesetzt. Eine gute Blue Jeans, gute saubere Zähne. Wir fahren gemeinsam bis zum Mühlenplatz, steigen aus und bleiben auf ein Viertelstündchen vor der Sparkasse stehen.
Wenn ich jemand kennenlerne, lasse ich ihn reden, ich hör mir an, mit wem ich es zu tun hab. Dahinter steckt weniger eine ausgeklügelte Strategie als die Angewohnheit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Eingreifen ist für Macher. Ich bin 1 Lasser.
Jeder ist seine eigene Soko. Auch ich wurde speziell zusammengestellt für mein Leben.
Ich mag es, Leuten zuzuhören, ich lass sie reden. Was sie alles in eine Viertelstunde packen, erstaunlich. Dinge aus dem Graubereich zwischen den beiden großen Eckdaten des Daseins, Geburt und Niedergang, mit wem sie Strecke machen, mit wem nicht.
Ich lebe von Viertelstunden.
Dass in Zukunft jeder 15 Minuten weltberühmt sein wird, wusste schon Warhol. Dass die Zukunft jetzt ist. Und jetzt haben Pommeswissenschaftler nachgewiesen, dass man nach einer Viertelstunde satt ist, egal, was und welche Menge man vertilgt hat.
Eine Viertelstunde ist die Zeitspanne, die reicht, um unseren Hunger zu stillen, eine Viertelstunde ist die Zeitspanne, die wir im Vollbesitz unserer Kräfte sind, eine Viertelstunde ist genug Ruhm.
DAGEGEN DIE GRÄFIN:
"Nach dem Essen ist man erstmal eine Weile blöd. Etwa eine Dreiviertelstunde. Weil der ganze Körper mit Verdauen beschäftigt ist, auch das Gehirn."
Der Tretrollermann, Baujahr 60 wie ich, ist geschieden, hat einen 16jährigen Sohn und berufsmäßig zuletzt in Holz-Pellets gemacht, bevor der Unfall geschah.
"Mich hat voll ein Pole überfahren."
"Wo, in Polen?"
"Nee, an der Foche. Ich hatte die Beine mehrfach gebrochen, die Hüfte gebrochen, ich war zwei Monate im Krankenhaus. Seitdem bin ich Frührentner, 100 Prozent. Willst du meinen Schwerbehindertenausweis sehen?"
Ich seh aus wie ein Sozialkontrolleur. Ich wusste es. Ich möchte gerne den Ausweis sehen.
Er war mit dem Motorrad unterwegs gewesen an diesem Tag vor vier Jahren, als ein Pole, ohne Führerschein, ihm die Vorfahrt nahm, in einem gestohlenen Wagen, dessen Kennzeichen gefälscht waren, unten an der Foche, nahe dem Hallenbad.
"Zwei Jahre vorher hatte ich meiner Frau ein Haus gebaut. Ich bau nie wieder ein Haus mit Keller, Fußbodenheizung reicht. Einen Keller bauen, nur damit die Frau keine kalten Füße kriegt, ich glaub, ich spinne. Die nächste Frau kriegt Fußbodenheizung. Nach dem Unfall hat es kein halbes Jahr gedauert, war sie weg. Hat diesen Kerl kennengelernt, diesen Doktor Doktor. Der freut sich heute über das Haus. Der wohnt da. Nicht ich."
Es leuchtet wieder in seinen Augen, als er von seinem fünfzehn Jahre älteren Bruder erzählt, Unternehmer in Guatemala, im Hochland, richtig mit Pferderanch und Kaffeeplantage, so wie man sich das vorstellt da unten. Ein gemachter Mann, vier Betriebe, vierzig Mitarbeiter, viertausend Stück Vieh.
"Warum gehst du nicht nach Guatemala?"
"War ich doch schon! Schon vier mal!"
"Na ja, ich mein, warum lebst du nicht da, kannst du doch auf der Ranch deines Bruders arbeiten.."
"Mach ich doch vielleicht. Nächsten Sommer fliegt erstmal mein 16jähriger Sohn rüber, für ein halbes Jahr."
Die Viertelstunde ist gleich um. Weil Ende des Monats ist, schleicht eine Menge Gesindel vor der Sparkasse herum. Abwechselnd verschwindet einer in der Filiale und schiebt die S-Card in den Kontoauszugsdrucker, um zu gucken, ob die Sozi-Kohle drauf ist. Eine Menge schlechter Laune schleicht am 31. in der Innenstadt herum.
"Vor dem Unfall bin ich Motorrad gefahren, alle Rennserien. Ich hab ein ganzes Zimmer voller Pokale. Sogar in der alten DDR hab ich einen Silberteller geholt, 2. Platz unter fünfzig Fahrern. Und zuletzt bin ich in Schottland Squad gefahren.."
Am schönsten war seine Weltreise 1982, AROUND THE WORLD, wie er in schönstem Hauptschulenglisch betont.
"Ich hatte ein Weltticket für 3200 Mark, damit konnte ich jedes Flugzeug in der Welt besteigen, ein Jahr lang. Ich war in Amerika, Australien, Asien.. Und wenn ich Asien sage, mein ich nicht Thailand, sondern Indonesien. Die Inseln."
Zuletzt flog er in die Karibik.
"Bora Bora", sagt er. "Bei Tahiti."
"Bora Bora..?" sag ich. "Woher kenn ich das denn nochmal...?"
Er ist auch nicht sicher. "Aus.. einem Film..?"
"Kann sein. Ja.. Ist das nicht die Insel, auf der die Meurerei auf der Bounty gedreht wurde? Mit Marlon Brando?"
Er trägt eine College-Kappe, falschrum aufgesetzt. Eine gute Blue Jeans, gute saubere Zähne. Sein Gang ist beschädigt, vom Unfall. Die Hüfte steht an einer Seite ein Stück weit heraus, wie eine Schublade, die klemmt.
"Ja, mit Marlon Brando." Jetzt laufe ich zu Form auf. Vielleicht keine Bestform, aber ich bin noch im Erzählgeschäft. "Der hat doch bei den Dreharbeiten so ne Eingeborne kennengelernt und später geheiratet. War das nicht auf Bora Bora?"
"Weiss nicht.. Aber solange es irgendwie geht, fahr ich mit dem Roller durch die Gegend. Was soll ich groß zu Fuß gehen.. So, machs gut. Schönen Tag noch."
Hm.
"Ist Kohle schon drauf?" frag ich den Russen, der seit langem an Krücken humpelt und wie Käptn Trübsal persönlich rüberkommt. Eine vereinsamte abgedunkelte Figur mit einer eigentümlichen Narbe im Gesicht, wie ein Fähnchen. Ich hab mich immer gefragt, welche Art Unfall oder Unglück solch eine Narbe hinterlässt, bis mich eine Landsfrau von ihm aufklärte. Die Narbe wurde ihm extra zugefügt, es ist ein Zeichen, das unter Russen Bedeutung hat: Der Typ ist ein Zinker. Eine Hafenratte. Er hat Kameraden bei der Polizei verpfiffen. Er ist mit Vorsicht zu geniessen. Du darfst ihm in die Fresse treten.
"Nee, is noch nix drauf."
Dann kann ich auch nach Hause gehen.
Niemals kehrt je auch nur irgendetwas wieder
*
"Jeden Tag geht irgendwo in meinem Kopf ein Licht an und leuchtet eine dieser zahllosen Nischen aus, in denen sich meine Kindheit verbirgt.."
Die Gräfin wuchs am Rande von Düsseldorf auf, in einem kleinen Garten Eden.
"Links wohnten wir, rechts Frau Zimmermann, die Hühnermörderin".
Der alte Zwei-Familien-Bungalow gehörte dem Stromkonzern RWE, für den ihr Vater als Programmierer arbeitete.
"Alle Kinder in meiner Klasse hatten Väter, die als Elektriker arbeiteten, als Anstreicher oder was weiß ich, nur mein Vater war Programmierer. Ich wusste überhaupt nicht, was das sein sollte. Manchmal brachte mein Vater große Bögen Papier aus dem Büro mit, dann durften meine Schwester und ich die Rückseiten bemalen. Vorn waren lauter Zahlenkolonnen, da dachte ich natürlich, Papa muss rechnen auf der Arbeit, genau wie wir Kinder. Ich schämte mich für seinen Beruf."
"Wenn er von seinen Kolleginnen bei RWE erzählte, sah ich immer großbusige Regimentsführerinnen vor mir, echte Furien. Was hab ich die gehasst."
Der Mietvertrag für das Haus wurde stets nur um ein Jahr verlängert, weil das Gelände einem künftigen Industriepark im Weg stand. Das Gute daran: es wurde nichts modernisiert. Alles blieb, wie es war.
"Direkt hinterm Haus rauschte ein wilder Bach, der jeden Sommer Hochwasser führte. Schon ein einziger Sturzregen genügte und ich war nicht mehr zu halten. Anlauf, Köpper - yippiiehhh, rein! Das Wasser war sauber und voller Blutegel. Wenn ich aus dem Bach stieg, waren die Beine voll von den Viechern, sie bissen sich überall fest. Sofort kam Mutter an und riss mir die Blutegel von der Haut. Das muss sein, rief sie, sonst wirst du krank! Das hat so weh getan, ich hab geschrieen vor Schmerz. Aber sobald die ekligen Dinger runter waren, stürzte ich mich sofort wieder in die Fluten, wie Tarzan. Ich war Tarzan, ich war Jane und ich war Cheetah, der Affe. Schon als Kind war ich erst glücklich, wenn ich alles hatte."
*
"Wenn meine Mutter gewusst hätte, was ich da draussen im Wald alles angefasst hab, tote Kröten, glitschigen Fischlaich und was sonst noch alles, sie hätte mich nicht mehr in den Wald gelassen. Jedenfalls nicht mit Händen."
*
"Nun sei mal doch einmal etwas damenhaft!" Ihre Mutter schüttelte verständnislos den Kopf. "Du siehst immer aus, als würdest du gleich die Bäume rauf wollen."
"Stimmt ja auch!" tanzte die kleine Gräfin durch den Garten Eden, wo ein Plumpsklo stand mit den herrlichsten Riesenspinnen, die man sich denken konnte. Sie klebten an der Wand und zitterten bei Durchzug wie Urwaldmonster, die in den falschen Zaubertrank gefallen waren: einem, der alles klein und hässlich machte.
Erst als die Gräfin das Teenageralter erreichte, war das Plumpsklo plötzlich nicht mehr so toll. Sie traute sich kaum noch, Schulfreundinnen heimzubringen, aus Angst, die Mädels könnten sich lustig machten, über das Klo. Die Riesenspinnen. Das Paradies.
*
Als mit 13 die erste Periode kam, deckte sie sich am Kiosk mit Unmengen Ungarischer Chips ein und blieb zur Freude von Mama endlich mal daheim, mit einem guten Buch, ihrem Lieblingsbuch.
"Tom!!"
Huckleberry Finn war ihr großes Idol. So wollte sie leben. Nur der Freiheit verpflichtet und in den Tag hinein. Hin und wieder ein Pfeifchen smoken und in einer Tonne wohnen. Jedenfalls ohne Teppich. Teppiche waren ihr ein Gräuel. Man lief doch so viel besser auf Steinboden. Und noch viel viel besser barfuß auf der Erde. Und auf Wiese am allerbesten.
Mark Twains kultivierte, zu Herzen gehende Sprache hatte sie ganz allein entdeckt, in der Autobücherei, die einmal im Monat in der Nähe hielt. Sie las Die Abenteuer von Tom Saywer ein ums andere Mal, sie konnte nicht genug davon kriegen.
"Mark Twain hat meine Lust auf Sprache erst geweckt."
Zwar ist sie auch ihrem Vater dankbar, dass er ihr abends vorm Einschlafen klassische Gedichte vorlas. Beim Erlkönig musste sie jedes Mal weinen, wenn der Vater mit dem Kinde davonreitet, doch das war nichts gegen die Prüfungen, die Tom Saywer und Huckleberry Finn zu bestehen hatten. Und sie liebte Tante Polly, die so gerne eine strenge Tante gewesen wäre, aber ein zu großes Herz hatte. Ein Mississippiherz.
"Aber die Kindheit kommt nie wieder", seufzt die Gräfin.
"Ach, es kommt niemals auch nur irgendetwas wieder", sag ich.
*
Es ist still im Wald, neblig. Eine Atmosphäre, als tuschelten die Tiere hinter vorgehaltener Hand. Damals wie heute ist die Gräfin fest davon überzeugt, eines fernen Tages auf sich selbst zurückgeworfen im Wald aufzuwachen, aus einem Traum, der ihr Leben war..
"Es wird spät im Herbst sein und ich muss draussen überleben, das hat das Schicksal für mich auserkoren."
So gesehen ist noch der kleinste Waldspaziergang für sie ein Trainingscamp. Eine Begegnung mit den topografischen Eigenheiten des Bergischen Landes: Rübezahl-Gruben und die Fußangeln der Neuzeit, verirrte, vom Herbstwind herangetragene Plastiktüten. Der Boden so seifig, als wären wir auf weichgekochten Schuhen unterwegs.
Als der Herrgott das Bergische Land in die Gegend baute, muss er einen schweren Schluckauf gehabt haben, einen Hicks! nach dem anderen. Die Vermutung liegt nahe bei der instabilen Linienführung, den zackigen Hügeln und zahllosen Tälern und Senken.
Vielleicht war er auch heillos besoffen.
Als wir uns auf der Bank ausruhen, schnuppert sie an meinem Hals, den sie zuvor geküsst hat.
"Das riechst wie früher meine Blockflöte am Mundstück, wenn da Speichel dran war."
Sie kommt heute nicht los von ihren Kindertagen. Einmal angestossen, erinnert sie sich an die kalte Gemüsesuppe, die sie mit ihren Sandkasten-Freundinnen zubereitete.
"Weil wir kein Feuerchen ankriegten, saßen alle belämmert in der Sandgrube, meine Freundinnen guckten ziemlich betreten. Nur ich war begeistert. Kalte Gemüsesuppe, hmm, das war mal was. Da war alles drin, was sich roh essen liess. Möhren, Kohlrabi, Sauerampfer, alles schön durcheinander gematscht. Meine Freundin Rosi und ich haben zum Nachtisch noch die Blüten von Brennesseln ausgelutscht, weil die nach Honig schmeckten. Na ja, es war süß. Ein bisschen."
*
Jetzt bin ich mal dran. Als hätte ich keine Kindheit gehabt. Oder immer nur den Ball am Fuß.
Im Baumhof meiner Großeltern gab es den winzigsten Swimmingpool der Welt. Selbst als Knirps konnte man nur einen einzigen Schwimmstoß machen, schon schlug man am entgegengesetzten Ende des Bassins an. Immerhin war der Pool aber so tief, dass sich die blauen Fliesen am Grund kaum erkennen liessen, und als ich noch nicht schwimmen konnte, hatte ich Angst zu ertrinken.
"In Waging am See hat mich mein Vater mal vorm Ertrinken gerettet." (Was soll man machen. Sie hat die besseren Geschichten heute.) "Das ist ein tolles Gefühl, wenn man unter Wasser ist, wo sich das Sonnenlicht bricht und überall sind Schlingpflanzen, die sich um die Beinchen legen und du kommst nicht los und bist kurz vorm Ersaufen. Wie im Mutterleib, nur größer alles. Und gleichzeitig enger. Und plötzlich greift ein Paar kräftiger Männerarme nach dir und reißt dich im letzten Moment aus dem Wasser hoch an die Luft - toll."
*
Aus ihrer Kindheit hat die Gräfin ein schweres Knödeltrauma davongetragen. Ihre geliebte Oma Sassendorf, die immer so lecker nach Essenmachen und Nivea roch, "einen leckereren Geruch gibts auf der ganzen Welt nicht", bereitete in der Küche alles selbst zu - auch Nudeln.
"Wenn man in die Küche kam, hing der Teig über der Stuhllehne und sah aus wie ein großes viereckiges Fensterleder."
Besonders schön war es, wenn die kleine Gräfin den knochigen Händen der Oma beim Kneten von Kartoffel-Klößen zuschauen durfte.
"Sie hatte Hände wie Wurzeln, knorrige krumme Hefefinger, in denen der ganze Schmerz des Lebens steckte. Mit solchen Fingern konnte man nur gut kochen. Alles, was sie anfasste, schmeckte gut."
Oma Sassendorf hielt sich niemals an Mengenvorgaben, sie kochte nach Gefühl, selbst wenn an hohen Feiertagen die ganze Familie zusammenkam und bekocht werden wollte.
"Bestimmt fünfzig Leute!"
"Fünfzig?"
"Keine Ahnung. Aber die haben geschmatzt wie fünfzig."
Dass Oma Sassendorfs selbstgemachte Knödel die leckersten Knödel der Welt waren, geschenkt. Aber dass die Gräfin nicht mal die Fertigklöße hinkriegt, das hinterlässt tiefe Spuren bei ihr.
"Oje - wenn Oma mir jetzt zuguckt, die schlägt doch die Hände überm Kopf zusammen!" schimpft die Gräfin, als sie es Sonntagmittags wieder einmal versucht.
"Kind! Nicht soviel Milch!"
*
"Um die große Familie zusammenzuhalten, musste Oma zwangsläufig lecker kochen. Ohne ihre Mahlzeiten hätte sich die Familie zerstritten und wäre erbittert auseinandergegangen."
In den grossen Sommerferien waren sie oft in Bad Sassendorf. Alle Kinder durften so lange draussen bleiben, bis es dunkel wurde. Da hatte auch niemand Lust, zum Abendessen nach Hause zu gehen. Schon mal gar nicht, wenn die Wohnung hoch oben im vierten Stock lag. Also standen die Gräfin und ihre jüngere Schwester jeden Abend Punkt sieben unten auf der Wiese und warteten darauf, dass Oma vom Balkon ihre berühmten Hotte Mäcks in die Tiefe plumpsen liess. Butterbrote, meist mit Salami belegt, immer leicht angeröstet und handwarm, in Butterbrotpapier eingepackt.
"Wir fingen die Hotte Mäcks auf wie im Sterntaler-Märchen, mit aufgespanntem Kleidchen."
*
"Wenn man es sich genau betrachtet, macht der ganze Planet nichts als fressen und kacken", sagt sie. "Sogar Pflanzen machen das so. Von wegen blauer Planet. Das ist ein bißchen blauäugig von uns."
*
"Ihr meint, auf der Erde gibt es nicht mehr genug sauberes Trinkwasser!? Dann hauen wir doch dicke Entsalzungsmaschinen ins Meer und saufen die Ozeane leer!"
- Die Gräfin -