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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Der schönste Kommentar..

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stand 2012 unter der Geschichte Camilla und die Anderen, kam von Prinzessin Leia und lautete:

Hallo Herr Glumm,

ich finde Ihre Sicht auf die Dinge toll, nach dem Lesen Ihrer Geschichten habe ich immer das Gefühl für kurze Zeit die Welt auch so zu sehen.

 


Dukatenbaby und Filzfuß

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Als wir entlang der Laubenpieperkolonie spazieren, versucht sie den Lärm eines vollgetankten Benzinrasenmähers auszublenden, indem sie sich die Finger in die Ohren steckt. Beidhändig. Vollfingrig.

So nimmt sie nichts als die eigenen Schritte wahr.

“Das klingt wie ne Glasvitrine, wenn man da voll mit Eierlöffeln gegen haut!” sagt sie eine Spur zu laut. "Oder wie Dukaten, die aus der Tasche fallen, eine Dukate nach der anderen! Genau! Ich geh wie Hartgeld! Mach doch auch mal..!”

“Nee”, sag ich zuerst, weil es mir zu lästig ist, die Finger zu den Ohren raufzudirigieren, andererseits ist mir ja zunächst alles zu lästig.

Und bevor es nun soweit kommt, dass sie ihre Finger in die Hand nimmt und in meine Ohren rammt und meine Schnecke beschädigt, mache ich es lieber selbst.

Riegle mich hermetisch ab.

"Meine Schritte klingen anders", sag ich.

"WAS!!?"

"MEINE BEINE KLINGEN ANDERS!"

Das ist kein Vitrinen-Plingpling, das ist eine kleine Abordnung ägyptischer Sklaven auf dumpfen Filz-Schlappen, abkommandiert zum Tuscheln.

So spazieren sie dahin, Dukatenbaby und Filzfuß. Und Hund. Na aber klar, du bist auch dabei! Aber selbstverständlich, Frau Moll. Sie hockt vor uns auf dem Boden und klopft mit dem Schwanz, als wolle sie Sahne schlagen.

Gern noch länger

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Wir alle sind nur da wirklich Mensch, wo wir ohne Angst in den Augenblick hineinrauschen, wo wir uns fallen lassen ohne wenn und aber, ohne Stützräder und Fixseil  - und gern noch länger bleiben.

*

Spaziergänge mit struppigen Hunden sind eine gesunde Sache, sagt der Doktor, schon wegen der vielen Hundehaare, die einem beim Gehen in die Lunge fliegen und die sich weiträumig ums Herz legen und es abfedern.

Lebt man im Bergischen Land zudem, im fiebrigen Wupperdelta, in der Neuen Eisenzeit, wo die Wälder hermetisch rauschen, dann ist das Herz mehr als gewappnet. Dann sollte man noch viel längere Spaziergänge machen.

Wandering. Wandering in hopeless night. (Jim Morrison)

Oder wie ein türkischer Arbeitskollege, Erhan, zu sagen pflegte, bevor er sich wieder in die Kulissen verdrückte: "Erhan jetzt Spazierengehen Bla-Bla!" Streckte einem die Zunge raus, lachte keck auf und war weg für den Rest des Tages.

Sehr gesund.

Spazierengehen = ein Wort, das fatalerweise in unserer Kindheit an die Tugendhaftigkeit verfüttert wurde, an biederen Sonntagen mit den Eltern, Großeltern und Tantchen.

Dabei ist Spazieren ein Streunen. Ein wildes Klettern, ein Raufen im Morast! ein Brennen! ein Erobern von Landschaft! den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt!

voran!

*

Erhan erzählte, wie er mal versucht habe sich selbst zu hypnotisieren, indem er eine halbe Stunde ununterbrochen auf das rote Standby-Licht seiner Stereoanlage blickte.

"Und?" fragte ich, "hypnotisiert?"

"I wo. Eingepennt."

*

“Das ist nicht schön!” schnaubt die Gräfin. Na, da hat sie recht. Das ist in der Tat nicht schön, wenn man aus der Haustüre tritt und es wabert ein Geruch durch die Luft, als habe ein mopsiger alter Mann Leberwurstbrötchen gegessen und in der Folge mehrmals kräftig aufgestossen.

“Ich hab überhaupt keine Lust mehr auf Spazierengehen”, jammert sie, "bei dem Gestank!"

“Ja ich denn?” jammere ich zurück.

“Leberwurst”, denkt der Hund, die Nase hart im Wind.

Ach wo! Los jetzt! Spazier den frühen Abend! Zur besten Sportschau-Zeit im Herbst! Leichter Regen! Ritual! Eine Runde über die Felder. Es riecht nach Leder und Licht, nach Schlamm & Erde. Nach Düften, die kess durch die Zellen klimpern. Nach Radfahrern, die von hinten heranflattern, und nach Hundekot am Wegesrand, dick wie Sonntagsbuchstaben.

Und alle drei Meter muss ich stehen bleiben und eine Notiz machen. Eine Idee festhalten, ein Bild, ein kleiner Satz.

“Was schreibst du denn dauernd?”

“Drei Meter Sätze.”

Der Wald in den Wupperbergen birgt Geheimnisse. Man kann an dreißig Tagen hintereinander dreißig Mal an derselben Stelle abbiegen und glauben, jeden kleinen germanischen Feuerbusch zu kennen, doch biegt man aus Versehen auch nur einen halben Meter zu weit rechts ab, tut sich gleich ein Terrain auf, das man so noch nie gesehen hat, eine neue, die andere Welt.

Ein kleines Blatt, das AUGENSCHEINLICH keine Lust hat, zu Boden zu fallen, es steht mitten in der Luft, regungslos.

"Ich bin ein Wunder", säuselt es wie angetrunken und schwebt auf uns Spazierende zu, tänzelt in Augenhöhe vor uns wie an einem unsichtbaren Faden. Den Trick offenbart schliesslich das Gegenlicht: Das kleine Blatt, es ist vom Baum gefallen und hat sich in einem Netz verfangen, das quer über den Weg gezimmert wurde, von Spinnen.

"Dass der Tod so schön sein kann, so leicht und zart", murmelt die Gräfin.

Ja denkste Puppe! Jäh reißt ein Windstoß das Blatt fort; wie eine Sternschnuppe saust es um mich herum und kracht mir mitten auf die Stirn, samt Spinnennetz!

Die Gräfin lacht frei heraus. Sie weint. Es sind kleine LSD-Tränen. Sie steht da wie das Sterntalermädchen.


*

Geschlagene anderthalb Stunden sind wir auf dem alten Postweg unterwegs. Andauernd bleibt einer stehen, um sich etwas anzugucken, der andere schliesst auf und schaut sich das auch an.

Wir kreisen wie Satelliten um die eigene Geschichte.

"Das ist kein Gehen, das ist relativ flottes Stehen", übernehme ich die Deutungshoheit.

Wir verlassen gesicherte Pfade, kraxeln die Wupperberge rauf und runter, der Hund begeistert voran. Das ist sein Metier. Unterwegs in unwegsamen Gelände, die Nase am Boden, ein Trüffelschwein.

"Molli riecht wie meine alte Blockflöte", schnuppert die Gräfin am Fell des Hundes, "wenn das Mundstück voller Speichel war."

*

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

*

Erinnerungen an die Kindheit waren unsere Morgengabe, vom ersten Moment an. Wenn man sich kennenlernt, spürt man instinktiv, ob der andere vielleicht ähnlich aufgewachsen ist. Ob man in etwa das gleiche braucht im Leben. Als wir uns kennenlernten, war da dieses Muttermal über ihrer Oberlippe, diese Schokoperle. Ich hatte ein Grübchen, in dem ein Muttermal Platz hatte. Das ging in Ordnung. Das passte.

Es konnte losgehen.

*

Als Frau Moll noch klein war, gerade dem Welpenalter entwachsen, räuberte sie oft mit Spiky, einem Rüpel von einem Schäferhundrüden aus der Nachbarschaft. Die Nahkämpfe der Beiden endeten oft mit Zahnfleischbluten und ausgerupften Fellbüscheln, sie knallten mit den Rippen aneinander, dass es nur so schepperte, unter Einsatz des ganzen schnaubenden Hundekörpers.

Doch Frau Moll ist nicht mehr so beweglich, sie knickt schon mal mit den Hinterläufen ein, gerät ins Stolpern.

"Unsere alte Oma", ruft die Gräfin verliebt.

*

Der Wald, ein Körbchen voll schräger Geräusche. Eicheln gehen zu Boden, Kastanien klackern. Eine Krähe kräht im Fliegen mit ihrem Kumpan um die Wette.

“Krah-krah!”

“Wenn man im Herbst vorüberfliegende Krähen hört, ist man innerhalb Sekunden im Mittelalter”, meint sie. “Dieser Herbst ist uralt.”

“Bronzezeit”, schätze ich.

Wir stöbern in Schonungen, entdecken einen verwunschenen, illegalen Grillplatz, wir rücken dem Wald tiefer auf die Pelle: über den alten Postweg, wo uns alle anderthalb Meter ein frischer Kuhfladen auflauert.

“Wie zum Teufel kommen Kühe in den Wald?”

“Zu Fuß”, vermute ich. “Die grillen hier. Das ist ein uralter Grillplatz der Kühe.”

Auf Laub geht man weich, wie auf frischen Leichen.

*

Ich kann nicht anders. Mir entfährt ein “kleil!”, weil sich mein Sprachzentrum auf die Schnelle nicht entscheiden kann zwischen “Klasse!” und “Geil!”, als die Gräfin sich die rote Lederleine von Frau Moll um die Hüfte wickelt, drapiert mit okkergelbem Laub tanzt sie die Herbst-Domina, im Napoleonmantel.

KLEIL!

Die Gräfin, ein seltsames, ein seltenes Arrangement von Frau.

Wie lange noch.

Nasses Laub glimmt tief im Forst, abseits der Pfade, der Hund buddelt im Erdreich, im Windschatten unserer Worte.

Die Gräfin nimmt sich vor, in Zukunft nicht mehr so viel und sorglos zu plappern, “ach du Schande!” rufe ich aus, “mein armes Notizbuch!", sondern ihre Gedanken lieber ins Nichts rascheln zu lassen,

“dann bin ich glücklich.”

“Na schön”, sag ich. “Dann lauere ich eben mit dem Notizbuch künftig im Nichts.”

Geht in Ordnung.

*

Entlang der Bahngleise. Im Schotter nach Gegenständen fahnden, die Leute aus dem Regionalzug werfen, der alle zwanzig Minuten zwischen Solingen, Wuppertal, Remscheid verkehrt:

3 mumifizierte dunkle Rosen im Gleisbett.

“Eine Rose ist noch ein bisschen schön”, sagt die Gräfin, und legt sie zurück. “Vielleicht ist hier mal jemand tödlich verunglückt. Was meinst du? Vielleicht ist das eine Kultstätte.”

“Kann sein.”

Es kann vieles sein. Und es ist auch viel. Gewesen, vor allem. Vergangenheit überall. Solange der Mensch lebt, produziert er Vergangenheit. Und je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Vergangenheit ist in der Welt. Es ist eine mächtige Überproduktion. Man weiss nicht mehr wohin mit all der Vergangenheit. Große Deponien bedecken schon den Kontinent: VERGANGENHEIT! Ein Maximum an FRÜHER, wohin man auch den Blick wirft.

(Weil wir die Zukunft nicht kennen, multiplizieren wir einfach unsere Vergangenheit und glauben, hundert Archen werden kommen und uns retten.

Ja sicher.)

*

Ein warmer Herbstschauer pixelt vorübergehend die Gegenwart. Die Haut. Es regnet - Bindfäden?

“Wieso Bindfäden? Nein, es regnet - Bleistifte! Graphit!” ruft sie.

Und mutmaßt sofort: “Oder meinst du, der liebe Gott gurgelt? Es riecht sogar ein bißchen nach Odol.” Sie schnuppert an ihrem Ärmel. “Hier. Riech mal.”

“Leberwurst?” frag ich vorsichtig, weil ich nicht gut rieche.

“Odol! Blödmann!”

*

Pferdegetrappel in der Ferne, ein Streifen Sonne fegt heiß über unsere Köpfe, als ur-plötzliches Bügeleisen.

“Wo kommt denn die Sonne auf einmal her..?”

Ist schon wieder verschwunden.

“War nur ne Bügelvisite.”

*

Plötzlich Kuddelmuddel in der Luft. Zwei Vogelschwärme geraten aneinander, kurzfristiges Aufbrausen, denn genauso schnell wie es begonnen hat, wird die Kollision für beendet erklärt, und jeder fliegt wieder seines Luftraums.

Der Waldweg verläuft eine Weile schnurgerade, ist sogar mit Kopfstein gepflastert. Ein Biker kommt uns entgegen, mit Stirnlampe und Leuchtdioden an den Knöcheln. Fesch und sportiv rumpelt er übers Pflaster, doch als wir auf gleicher Höhe sind und grüßen, stösst er nur ein klägliches “Moin..!” aus, wie ein defektes Hodenkehlchen.

“Schätze, sein Skrotum ist angegriffen von allerhand Überlandfahrten”, so die Gräfin.

Dann doch lieber Spaziergang. Ein tugendhaftes, zutiefst biederes Wort, in der Kindheit an langeweilige Sonntage verfüttert. Dabei ist es ein Streunen. Ein Klettern und ein Raufen im Morast! Den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt! weiter!

voran!

Da taucht eine Buche vor uns auf. Präsentiert längst vergangene Botschaften, eingeritzt ins Holz. ONLY TO MY LADY-FRIEND.

Erstaunliche Daten: 23. 3. 1976. MARCH 1966. 22. 3. 1946. (!)

"..BELLA.. EYE OF MY.."

Manche Zeichen sind tief in die Baumrinde gesunken, lassen sich kaum noch entziffern, anderes wirkt wie gestern erst eingeritzt. Es ist diese plötzliche Präsenz, die verblüfft, die Wiederentdeckung eines Evergreens.

Selbst die Sonne sucht sich ein Loch in den Wolken und schaut uns zu.

MARCH 1946. HENRY U. BELLA. (Ich folge einem Pfeil zur anderen Seite des Stamms..) HENRY AND BELLA IN THE WOOS TONIGHT! Es wurde ein D vergessen im August 1946, IN THE WOODS TONIGHT. War es ein Soldat der Alliierten, der sich am bergischen Frollein (Bea) bediente?

"Hallooo.. ihr Zweiiiii!" hallt es durch die Wupperberge, eine erregte Walddurchsage der Gräfin, die bereits den Hang hoch ist. Ich blicke den Hund an, der Hund bellt mich an: nichts wie hinterher!

Feuerahorn raschelt unter unseren Füßen und Pfoten.

Der Herbst ist die einzige Jahreszeit, wo es im Wald brennt, aber niemand muss löschen, hatte sie am Morgen gemeint, als wir loszogen. Der Herbst ist der Feuerläufer.

Die Sache ist geritzt.

*

foto.sanne.imherbst

Das ganz große Okay des Universums

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Im Juni 2012, ich war noch angeschlagen von der Herzattacke, lockten wir den Hund mit einem nach Aas stinkenden Leckerchen auf den Rücksitz des Autos und fuhren nach Zeeland. Die Nordsee ist seit meinen Kindheitstagen das Allheilmittel gegen Erkrankungen jeglicher Art, aber diesmal war die Sache nicht so einfach. Ein 3facher Herzinfarkt heilt nicht mal eben so aus, nur weil man nachts im Schlafsack liegt, die Brandung rauschen hört und salzige Luft einatmet.

"Du hattest immer so weiche schwere Augen", meinte die Gräfin bekümmert, "aber seit dem Infarkt.."

Sie zögerte.

"Was ist seit dem Infarkt?"

"Na ja.., seitdem ist dein Blick so hart und aufgerissen, als hättest du das Böse gesehen.. als hättest du einen Blick in die Hölle geworfen."

"Na, die Hölle hatte ich auch vor dem Infarkt schon gesehen", relativierte ich. "Aber jetzt kenne ich auch den Hauptmann."

 

*

 

Leute, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, erzählen oft, sie lebten danach intensiver, genössen jeden einzelnen Moment, regten sich nicht mehr über jede Kleinigkeit auf. Solche Leute waren mir schon immer suspekt, genauso wie die Supermänner, die alles daran setzen, sich ständig neu zu erfinden. Ich frage mich, wie soll das funktionieren!? Sind das alles clevere kleine Daniel Düsentriebs, die mit ihrem cleveren kleinen Helferlein bei flackernder Lichtgeschwindigkeit auf Sternenstaubbasis alle Verkleidungen durchgehen, die noch nicht auf der Tagesordnung waren? Die man noch versuchen kann. um ein Anderer zu werden? Ein Neuer?

Ja, vielleicht.

Ich jedenfalls erfand mich nicht neu, und ich lebte auch nicht intensiver als vor der Herzattacke, ich genoss meine Momente nicht mehr als zuvor. Im Gegenteil, ich fühlte mich eher meiner Sicherheit beraubt, meinem geradezu unverschämten Glauben an die Unversehrtheit des Andreas Glumm, an die tausend Leben des Andreas Glumm. Das Urvertrauen war beschädigt. Mein Urvertrauen, ewig zu leben, das Sterben den Anderen zu überlassen.

Daran kannst du nicht wirklich geglaubt haben, mag man einwenden, so naiv kann man doch nicht sein. Doch, kann man, und dazu muss man noch nicht einmal ausbuchstabiert an das Konzept von Ewigkeit glauben, es reicht schon, danach zu leben.

Leben reicht in aller Regel.

 

*

 

Vielleicht war die Idee nicht so gut, so kurz nach dem Infarkt und dem Einbringen von zwei Blutgefäß-Stents ans Meer zu fahren und Ferien machen zu wollen.

Als wir am zweiten Tag in der Mittagsglut von Zeeland eine Wanderung durch das Reservat De Zwarte Polder unternahmen, bekannt für blaue See-Disteln, Riesenlöwenzahn und brütende Vögel, stieß ich schnell an meine Grenzen und lief beinah auf Grund. Ich war heilfroh, als wir den Strandpavillon erreichten und die Gräfin es bei über dreißig Grad im Schatten übernahm, heißen Pfefferminztee zu ordern.

Am nächsten Tag begann es zu regnen und hörte nicht mehr auf. Wir saßen mit aufgespanntem Regenschirm im Zelt fest wie in einer großen Fruchtblase und konnten nicht viel mehr tun als dafür zu sorgen, dass wir nicht fortschwammen und vom Wind davongetragen wurden. Da noch Vorsaison war, hatten wir ein Areal für uns allein, das normalerweise Platz bot für ein Dutzend Caravans und Mobilheime. Was bei Sonnenschein ideal gewesen wäre, sorgte bei Dauerregen für zusätzlichen Verdruss. Das Fehlen jeglicher Nachbarschaft, in deren Windschatten sich unser Zelt hätte verstecken und einigeln können, ließ uns zum Hauptangriffspunkt der Sturmböen werden, die uns fast vom Platz fegten. In der Nacht fielen die Temperaturen auf fünf Grad.

Selbst der Hund verkroch sich im Schlafsack.

Eine unglückliche Woche. Enttäuscht von uns selbst, dass wir den Widrigkeiten der Wirklichkeit nicht viel mehr entgegenzusetzen hatte als einen Regenschirm, packten wir das nasse Zelt ein und  fuhren nach Hause. Was uns früher ausgezeichnet hatte, noch aus der gröbsten Scheiße etwas zu machen, schien verloren gegangen zu sein. Wir waren ein normal humorloses Paar um die Fünfzig, das sauer war, weil es im Urlaub regnete.

"Red keinen Scheiß", sagte die Gräfin, schaute dabei aber aus der Wäsche, als hätte sie es selbst gesagt.

Als ich später die Urlaubsfotos abholte, fühlte ich mich bestätigt. Wo war der junge Mann, der einst mit jedem Tag am Strand Bräune gewann und Leichtigkeit und Charme. Die Kleinbildkamera, die wir statt der Digitalen mitgenommen hatten, der verflixte Nordseesand hatte mir schon einmal eine Spiegelreflexkamera ruiniert, tat ihr übriges. Die Fotos wirkten, als hätte man mich in den 70er Jahren extra falsch fotografiert, das Gesicht grotesk überbelichtet, wie geweißter Schweinebauch.

"Ich glaub, ich sterbe langsam", stänkerte ich, als wir die Bilder durchgingen.

"Stirb langsam, Teil 52", murmelte die Gräfin.

 

*

 

Wie immer, wenn mich etwas in der Tiefe erwischt hatte, war ich von dem Verursacher besessen. Ich versuchte mir selbst auf die Spur zu kommen. Was da passiert war, am 10. Mai 2012, dem Tag meines Infarkts. Der verfluchte Herzinfarkt dominierte noch meine Träume. Ich wachte Nacht für Nacht auf der Intensivstation auf. Eine Krankenschwester kam ans Bett, Schwester Barbara. Freundliche Augen, forschender Blick.

"Sie hatten einen schweren Herzinfarkt."

"Weiß ich doch", antwortete ich eine Spur zu leise und räusperte mich. Ich wollte nicht kläglich klingen. Ich wollte ein Filmheld sein. Ich versuchte mich zu erheben, doch Schwester Barbara drückte mich behutsam zurück und fixierte dabei die Monitore, die geschlossen wie eine Wachmannschaft hinter meinem Bett patrouillierten und ihr kühles bläuliches Licht ins Zimmer warfen.

Geräte kontrollierten die Sauerstoffsättigung im Blut und den Puls, in meiner Nase steckte eine Sonde. Über eine Kanüle lief steriles Wasser in meinen Arm, ein Druckverband sicherte die Einstichstelle an meiner Leiste. Alls zwanzig Minuten pumpte sich die Blutdruckmanschette am Oberarm selbständig auf, fünf, sechs Mal am Tag wurde Blut abgenommen.

"Sie können von Glück reden, dass der Herzinfarkt Sie mitten in der Stadt überraschte und Sie flott im OP waren. Stellen Sie sich vor, Sie wären im Wald gewesen und spazieren gegangen.."

"Am Tag zuvor war ich tatsächlich mit dem Hund im Wald", erwiderte ich fast stolz. Als hätte ich die Gefahr geradezu gesucht. Dabei wusste ich doch von gar nichts und hatte nur Riesenmassel, wie es einem durchschnittlichen Dummkopf nur ein Mal im Leben widerfährt.

"Na, sehen Sie. Im Wald wäre es eng geworden. So schnell hätte der Notarzt Sie gar nicht finden können.."

Tief im Wald waren wir sogar gewesen, der Hund und ich, Richtung Papiermühle. Im Unterholz, wo man ständig darauf gefasst sein muss, auf Leichen zu stoßen in verbuddelten ollen Koffern, die der Erdboden mit der Zeit freisetzt.

"Da sehen Sie mal, was Sie für ein Glück hatten. Der Herrgott hat bestimmt noch was vor mit Ihnen.."

 

*

 

"Haben Sie Ihr Handy dabei?" fragte die Schwester.

"Nein."

"Dann bringe ich Ihnen gleich das Stations-Handy, können Sie Ihre Leute anrufen."

Das war wirklich eine merkwürdige Sache. Nach Hause telefonieren und erzählen, dass man auf der Intensivstation liegt. In der Regel erreicht die Familie ein Anruf aus dem Klinikum, und die einfühlsame Stationsschwester oder ein Arzt teilt einem mit, dass ein Angehöriger einen Herzanfall erlitten habe. Doch wenn man selbst die Nummer wählt und daheim anruft..

"Hallo, ich bin's. Ja. Hör mal, Schatz, ich lieg im Städtischen auf der Intensivstation, ja richtig, Intensiv.. Nun warte doch mal. Nein, kein Scherz, ich hatte einen dreifachen Herzinfakt. Nein, dreifach. In der Stadt, mitten am Fronhof. Wann? Um halb elf oder so. Nein, kein Bypass, Stents. Ja, zwei, vorerst nur zwei Stents, der dritte folgt in ein paar Tagen. Na, gleich mach ich Mittag. Danke, dir auch, Schatz. Schüss!"

 

*

 

Einige Tage später feierte Vater 86. Geburtstag. Er besuchte mich in Begleitung meiner Schwester und ihrer Tochter. Ich war mittlerweile von der Intensivstation auf die Kardiologie verlegt worden. Wir gingen raus auf den Balkon. Es war immer noch ungewöhnlich heiß für Mai.

"Vielleicht hörst du besser mit dem Rauchen auf", meinte meine Schwester.

Vater nickte zustimmend, ansonsten sagte er nicht viel. Er blickte mich verständnislos an. Ich und ein Herzinfarkt, das passte schon für viele in meiner Umgebung nicht recht zusammen, aber für Vater schien es sich um eine groteske Fehldiagnose zu handeln. Die Ärzteschaft schien mich überhaupt nicht zu kennen. Herzinfarkte erlitten unruhige und flatterhafte Geister, die ihre Beine nicht still halten konnten, Leute wie mein alter Kamerad Benzini, der mit Tempo 200 über die Autobahn donnerte und eine 50 Stunden-Woche an einem einzigen Vormittag abriss - aber doch nicht ich. Ich war kein nervöser Heini, ich machte eher halblang, ich liess es ruhig angehen.

Noch ruhiger, und die Mediziner hätten Probleme, überhaupt irgendwelche Vitalfunktionen wahrzunehmen, orakelte mein Bruder, der später dazu kam und mit mir eine Zigarette rauchte auf dem Balkon.

 

*

 

Eine Woche später. Zurück aus dem Krankenhaus schnappte ich mir den Hund und spazierte zur Schillerstraße.

Vater stand in der Küche, die schon etwas muffig roch, weil lange niemand gespült hatte, und wärmte den Inhalt einer Büchse Hochzeitssuppe auf. Hochzeitssuppe von Sonnen Bassermann war sein Leibgericht geworden, seit Mutters Tod. Ein Einkaufszettel ohne Hochzeitssuppe von Sonnen Bassermann war undenkbar. Sobald der Vorrat an Hochzeitssuppe auf ein halbes Dutzend Dosen schrumpfte, wurde er nervös. "Hochzeitssuppe!" schrie er mich beinah schon an, wenn ich den neuen Einkaufszettel schrieb und ihn fragte, was ich obenan setzen sollte.

Keine Ahnung, was er an Hochzeitssuppe so lecker fand, und warum es unbedingt Sonnen Bassermann sein musste. Er war schon immer ein großer Anhänger von Hühnersuppe gewesen, die Art Hühnersuppe, wie Mutter sie gekocht hatte. Doch aus der Büchse? Sonnen Bassermann?

Ich fragte ihn, was er die letzten Tage so getrieben habe, und er antwortete lakonisch, "Oh, ich bin hübsch zu Hause geblieben", als hätte es eine Hundertschaft Alternativen gegeben.

Er rührte geduldig im Topf. Er trug seine alte speckige Lieblings-Trainingshose.

"Ich zähle genau zwei Stück Hühnerfleisch", sagte er. "Oder ist das nur eins, das sich im Kreise dreht? Guck du mal."

Wir drängelten uns um die Hochzeitssuppe herum, die allmählich Fahrt aufnahm und zu bubbeln begann.

"Na.. da sind zwei Stück", sagte ich. "Oder? Tu mal den Löffel da weg."

"Da ist nur eins!" rief Vater. "Siehst du! Nur eins! DA!"

"Nee, das andere schwimmt unter der Oberfläche. Das kommt gleich wieder hoch. Das sind zwei."

Wir warteten darauf, dass ein zweites Bröckchen Geflügelfleisch sein Haupt zeigte und vergaßen darüber, dass der Inhalt der Dose lediglich erwärmt werden sollte. Stattdessen brodelte die Suppe wie ein Geysir.

"RÜHREN!" rief Vater. "DU MUSST RÜHREN! DAS BRENNT DOCH AN!"

"WIESO ICH!? DU HAST DEN LÖFFEL!"

 

*

 

Als der Infarkt kam, war ich mit dem Hund gerade auf dem Weg zur Apotheke, um für Vater ein Rezept einzulösen. Donnerstagvormittag, 10. Mai 2012, 10 Uhr. Später schrieb ich über die Luft an diesem Tag, sie habe so schwül und so schwer geklungen wie Layla von Clapton.

Und so gefährlich.

Ich nahm die steil ansteigende Kasinostraße und geriet im Schatten der langen, nicht enden wollenden Friedhofsmauer in wachsende Luftnot. Ich kannte das schon. Jedes Mal, wenn es irgendwo bergauf ging, war ich schnell außer Puste. Ich schob es auf meine Lunge, auf die vielen tausend selbstgedrehten Kippen, auf mein ganzes Drogenleben, das ich über die Jahre geführt hatte.

Ich verlangsamte den Schritt, die Sonne stach im Nacken, ich begann zu schwitzen. Innerhalb einer Minute lief die Suppe so an mir runter, und eine seltsame Kraftlosigkeit machte sich breit, eine Schwäche, als wäre der Brustkorb unter einen Sattelschlepper geraten, als saugte jemand unablässig alle Kraft aus mir heraus.

Hatte ich mir unter einem Herzinfarkt stets eine Explosion vorgestellt, in der Art einer Sprengfalle, die bei Berührung zuschnappt, so wurde ich nun brüsk belehrt: Ein Herzinfarkt ist eher ein alles vernichtendes Schwächeln, begleitet von einem Aufgebot an Engegefühl und Schweiß. Ganze Bataillone von Drüsen sind mit der Ausschüttung von Schweiß beschäftigt.

Dass ich lange meine Lunge in Verdacht hatte, Verursacher der Misere zu sein, machte Sinn. Schon als kleiner Junge hatte ich dauernd Probleme mit den Bronchien, und zu Beginn der Neunzigerjahre war Asthma diagnostiziert worden. Bis zum Jahr 2000 ging ich nicht ohne Asthmaspray aus dem Haus, auch wenn ich es kaum noch benötigte.

Es gab zwei Asthmaanfälle, die meine letzten hätten sein können. Sie verliefen beinah identisch, und ich war beide Male allein, als es passierte, 1994 und 1995.

Ein Hustenanfall direkt nach dem Aufwachen eskalierte und verengte meine Luftröhre derart, dass ich durch die Wohnung lief und mir in die Hosen pisste, aus Angst zu ersticken. Ich bekam keinen Fitzel Luft mehr. Es war, als habe jemand in Sekundenschnelle eine Mauer hochgezogen in meinem Hals. Selbst das Spray inhalieren ging nicht, weil man zum Inhalieren Luft holen muss. Und hätte ich nicht den dringenden Rat des Lungenarztes im Ohr gehabt, bei lebensbedrohlichen Anfällen das Aerosol einfach in den Mundraum zu sprühen, "der Wirkstoff sucht sich automatisch selbst den Weg in die Lunge", ich wäre drauf gegangen.

Ich wäre zweimal schon erstickt und doppelt tot gewesen, bevor 2012 der Herzinfarkt kam und als laufende Nummer 3 schweißüberströmt durch den Ring tänzelte.

 

*

 

Vater hatte zwei Herzinfarkte in den Jahren 2003 und 2009, die er auch dank der Einpflanzung eines Bypass überlebte. Mutter erlitt ebenfalls zwei Herzinfarkte, aber beide direkt hintereinander, was sie nicht überlebte. Cousin Michael hatte von Geburt an ein Loch im Herzen, er flog in den 70ern mehrfach rüber nach Texas, um vom renommierten Dr. deBakey operiert zu werden. Er starb kaum vierzigjährig.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es in unserer Familie eine Neigung zum Herztod gibt, sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite aus. Und doch war das Herz ganz selten ein Thema. Niemand kam auf die Idee, es könnte sich um verstopfte koronare Gefäße handeln, wenn ich auf dem Weg zu meinen Eltern den steilen Klauberg hoch marschiert war und schweißüberströmt und außer Puste ankam.

"Junge, bist du am schwitzen", schüttelte Mutter den Kopf. Und Vater wartete vier, fünf Minuten, bevor er mich ansprach.

"Hüor dat Ruoken up, Jung."

 

*

 

Der Rettungswagen stand in der Fußgängerzone. Ich lag auf der Bahre, hörte von draußen einen Sanitäter rufen, "unter der Telefonnummer ist aber niemand zu erreichen." "Ist aber die richtige.. Nummer", flüsterte ich und wiederholte die Zahlenfolge, langsam wegsackend. Der Wagen fuhr an, ich nahm das metallische Zuschlagen der Schiebetür wahr, sowie einen Luftzug, der meinen Körper streifte.

Sie muss doch den Hund abholen, wenn ich im Krankenhaus bin, ging es mir durch den Kopf. Sie muss den Hund aus der Kirche holen. Der Hund kann nicht da bleiben. Der lässt sich nicht anfassen, wenn er die Leute nicht kennt. Womöglich beisst er noch. Ich war selbst überrascht von den alltäglichen Gedanken, die mir im Kopf schwirrten, obwohl mir der Herztod im Genick saß. Dass der Alltag immer noch wichtig war, obwohl ich schon wenige Minuten später vielleicht gar nicht mehr dazuzählte, zum Alltag, zur Menschheit.

Erinnerungsfetzen an die erregte Stimme des Fahrers, "Die Fußgängerzone ist blockiert!"

Dann das Rappeln und Rumpeln während der Blaulichtfahrt ins Städtische Krankenhaus - eine Infusion wurde gelegt.

"Einmal Diazepam läuft durch!"

Diazepam, scheiß Zeugs, macht nur kirre im Kopf, dachte ich und verlor das Bewusstsein.

Ich öffnete die Augen erst wieder, als ich in den Herzkatheterraum gerollt wurde, wo mir eine Pflegerin auf dem OP-Tisch in routinierter Eile Strümpfe, Jeanshose und Pulli vom Körper zog.

"Ruhig, bleiben Sie ruhig.. Wir retten Sie jetzt."

Und dann retteten sie mich.

 

*

 

- Schwester, Sagen Sie, wie viele Herzinfarkte gibt es jeden Tag in unserer Stadt? -

- Hm. Ist verschieden. -

- Na, ungefähr. -

- Manchmal zehn, manchmal gar keinen. Warum? -

- Na, nur so. -

- Infarkte häufen sich bei anhaltend schwülem Wetter und bei Frostperioden im Winter, wenn die Leute frühmorgens zum Schnee schippen raus müssen. Dann ist hier aber Daueralarm auf der Intensiv. Überall sehen Sie Gummistiefel und Moonboots rumstehen.. -

- Hm. Ja. Und heute war ich der einzige Herzinfarkt? -

- Bis jetzt, ja. -

 

*

 

Mit jeder Minute, die ich in den Sozialräumen der Stadtkirche auf den Ambulanzwagen wartete, schnürte sich der Brustkorb mehr zu, steckte ich enger im Korsett. Es war, als versuchte ich durch eine zusammengefaltete Tasche zu atmen. Als hätte ich über Jahrzehnte mit jedem Atemzug Roth Händle gequalmt und jetzt flog mir der ganze Laden um die Ohren.

Selbst der Saalschutz ging stiften, als die Schläuche platzten.

Man hatte mich ins Hinterzimmer gebracht, wo ein Sofa stand. Ein rotes Sofa. Ich musste daran denken, dass die Gräfin immer ein rotes Sofa für ihr Atelier haben wollte.

"Alle berühmten Maler haben ein rotes Sofa in ihrer Werkstatt. Nur ich nicht. Deswegen bin ich nicht berühmt. "

Und jetzt lag ich auf dem roten Sofa im Hinterzimmer der Evangelischen Stadtkirche, im Sterben. So einfach war Sterben.

So einfach, so ruhmlos.

"Können wir etwas für Sie tun, Ihnen etwas bringen?" erkundigten sich die beiden Damen, die zufällig an diesem Vormittag einen Bibelkreis vorbereiteten, wie ich später erfuhr, und nur deswegen in der Kirche waren.

"Ein Glas Wasser", wisperte ich und versuchte zu entspannen, aber wie soll man entspannen, wenn einem das Herz durch die Brust knallt. Wenn einen der Hund ängstlich anhechelt. Wenn man auf den Notarzt wartet und das Gefühl hat, die sind woanders, die vergessen einen.

"Ein Glas Wasser", wiederholten die Damen und zogen los, froh, etwas tun zu können.

Da war ein Mann auf sie zugewackelt gekommen, mit einem Hund an der Leine, an diesem stickig-heißen Vormittag im Mai, im Souterrain der Stadtkirche. Der Mann war aschfahl im Gesicht und der Schweiß plädderte an ihm runter, als käme er aus einem Platzregen. Er wankte. Er schleppte sich mühselig voran.

Ein Gespenst.

"Ich glaube, ich hab einen Herzinfarkt..", taumelte seine Stimme, "können Sie den Not.. arzt rufen?"

 

*

 

"Der schwitzt auch ganz doll", stammelte die Dame vom Bibelkreis ins Telefon, "und er ist ganz käsig.."

 

*

 

Karlos wusste nichts von dem Infarkt und sprach in den folgenden Tagen, während ich auf der Inneren lag, zweimal auf unseren Anrufbeantworter.

"Glumm, ich hab Bock auf Kicken. Los, wir treffen uns im Käfig an der Schwertstrasse. Ich bin in zehn Minuten da. Hast du noch deine blaue Adidas-Hose?!"

Die Gräfin hatte beide Nachrichten abgehört und wollte ihn schon zurückrufen, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen, doch das machte ich lieber selbst. Ich rief Karlos vom Krankenhaus an und erfuhr, dass am selben Tag, als mir die Pumpe durchgeknallt war, Karlos Lederball kaputt ging.

"Knickt das dünne Ding da oben ab, das.. das Ventil!"

"BEI MIR AUCH!"

 

*

 

Als ich das Souterrain der Kirche über den Hintereingang betreten hatte, den Hund an der Leine, sank ich nieder auf einer langen, im Dunkel liegenden, nach rustikaler Politur riechenden Holzbank, und wollte nur noch sterben, so schwach, so fertig war ich. Erst wenige Minuten waren vergangen seit Einsetzen der Schwäche und des Engegefühls, aber ich war schon auf dem Weg ins Licht, ins ewige Blei.

Niemand war zu sehen, ich hörte vorn fern leises Geschirrklappern. Kuchen- und Kaffeeduft.

Mit der Bitte, einen Notarzt zu rufen, hätte ich mich in der Fußgängerzone an jeden x-beliebigen Passanten mit Handy wenden können, doch das wollte ich nicht. Bei aller Geschwindigkeit, mit der es geschah, ich war ein Sterbender, der Schutz suchte, ein Sterbender, der sich intuitiv in der nahen Stadtkirche einlieferte, über den Hintereingang, den ich aus alten Zeiten kannte, als Karlos' Vater in der Stadtkirche als Küster gearbeitet hatte.

Als Karlos und ich oben im Gemeindesaal über eine PA-Anlage Gedichte geprobt hatten.

"Ich möcht sterben", wisperte es in mir.

The echoes of my mind.

Im Malstrom meines nachlassenden Bewusstseins hatte sich der Gedanke eingeschlichen: Du kannst dich ruhig sterben lassen.

Du kannst dich ja auch sterben lassen.

Wer sagt, dass du kämpfen musst. Wer sagt, dass du gerettet werden willst. Winsel um dein Leben, wo steht das geschrieben? So jäh wie der Infarkt mich überrumpelt hatte, so jäh blitzte die Alternative auf. Mich einfach sterben.. lassen.

Es war kein typischer Suizidmoment, wo man selbst noch aktiv werden muss, wo man sich die Smith and Wesson an die Schläfe setzen, wo man 90 gebunkerte Schlaftabletten futtern muss - ach was. Ich hätte nichts weiter tun müssen, als den Dingen ihren Lauf zu lassen und.. es wäre getan.

Ihren Lauf, wie die Dinge ihn in alten Zeiten genommen hätten, als es noch keinen Telefon-Notruf gab, noch keine rund um die Uhr besetzten Herzkatheterräume, keine pulsierenden Ultraschallaufnahmen. Als es nur das gute alte Herz gab, den guten alten Herzanfall, den guten alten Gevatter Tod, der sich seine verdiente Beute nahm, wann immer es ihn gelüstete, ohne abwarten zu müssen, ob dem Team Notfallmedizin vielleicht noch ein verdammtes Wunder gelingt.

 

*

 

Auch wenn ich zuvor nie an die Möglichkeit eines Herzinfarkts gedacht hatte, ich wusste sofort, was los war. Es war, als legten Arbeitselefanten einen Trampelpfad über die Brust, und sie wurden mit jeder Sekunde entschlossener - einerseits.

Andererseits kündigte sich eine leichte, fast milde Stimmung an, als machte der Heilige Geist schon alles bereit zum Empfang im Himmel, mit einem sanften Schulterklopfen.

Alles halb so schlimm, Meister, alles fügt sich, nur keine Angst.

Ich schlich um die Stadtkirche herum, betrat sie zögernd über den Hintereingang. Im Bauch der Katakomben duftete es nach Kaffee und Kuchen. Nach Gemeindearbeit. Ich kauerte vor der polierten Holzbank, neben mir der Hund, im Gebet. Du hast die Wahl, dachte ich, während das Herz drückte und stauchte, während Holme knackten.

Du hast die Wahl.

Musst bloß ein wenig warten. Lass dich doch einfach sterben, wenn du magst. Eine wärmende Hand schob sich wie eine Kuchengabel unter meinen Körper und schaufelte mich hoch. Ich flog ein bisschen. Ich bewegte mich zwischen Erd- und Himmelreich, in der entmaterialisierten Zone. Erst kurz bevor ich das Leben aus der Hand gab, in letzter Sekunde, entschied jemand: Moment. Nein. Es fehlt noch was.

Es fehlte noch das ganz große Okay des Universums.

Der Hund zerrte an der Leine. Ich erhob mich und wankte den langen Flur entlang, stehend k.o., als wäre ich in eine Presse geraten. Zwei Menschen vom Bibelkreis empfingen mich, einer wählte die 112.

"Der schwitzt auch ganz doll, und er ist ganz käsig.."

 

*

 

Ich ruhte auf dem Sofa, halb hingeschlagen und dem Tode so nah, dass ich rüberspucken konnte. An der Demarkationslinie zwischen Leben und Tod rutschte ich mit jedem Augenblick, der verstrich, Stück für Stück mehr aus dem Bild.., nahm ich den Hund schon nicht mehr richtig wahr.

Viertel vor elf raste ein großer Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn durch die Nordstadt ins Klinikum, mit mir hinten drin. Seither höre ich anders hin, wenn sich von irgendwo die Sirene nähert. Seither liege ich in jedem gottverdammten Ambulanzwagen, der durch die Straßen jagt. Seit mir das Leben gerettet wurde, wird mir jedes Mal das Leben gerettet, wenn irgendwo ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs ist.

Und auch wenn jemand anderes hinten drin liegt:

Ich bin es.

 

*

 

Mit Diazepam fortlaufend ruhig gestellt wurde ich an der Krankenhausambulanz vorbei in die Kardiologie gerollt. Herzkatheterraum. Der Oberarzt, erst nett, schimpfte, weil ich nicht still liegen wollte, und erst seine massive Zurechtweisung, HERRGOTT, WIR WOLLEN SIE DOCH RETTEN und die Drohung SONST MÜSSEN WIR SIE FIXIEREN zeigten Wirkung.

Zwei Engstellen in den Herzkranzgefäßen, voller Plaque, mussten per Ballon aufgedehnt und mit BM-Stents versorgt werden, um die Gefäße offen zu halten. Stents. Sind kleine Gittergerüste, erklärte der Oberarzt geduldig. Klettergerüste? Ich sah einen von Plaqueablagerungen verwüsteten Kinderspielplatz vor mir. Auf links gedreht, die Luft raus. Ab hier kein Transport.

Ab hier: minimalinvasiv.

Koronare 3-Gefäßerkrankung, Kalkablagerungen in den Herzkranzgefäßen, diktierte der Doktor. Aufnahme via Notarzt.

Die Kühle auf dem OP-Tisch, die routinierte Geschwindigkeit, mit der das OP-Team mich entkleidete, wie gekonnt die OP-Schwester mit dem Einmalrasierer mein Schamhaar stutzte. Wir müssen an Ihre Leiste ran. Kalter Schweiß auf der Haut.

O Herr, reiße alle Himmel auf! Es ist soweit.

 

*

 

Auf der Intensivstation war ich verblüfft von der Helligkeit und Freundlichkeit, die mich empfing. Einzig meine Zimmergenossin erinnerte an die Gefahr, in der ich mich befand. Die Frau, die maschinell beatmet wurde, aber ich konnte sie von meinem Bett aus nicht sehen, ihr Anblick war von einem weißen Rollvorhang verstellt.

Sie sprach kein Wort. Vielleicht hatte sie das Locked In-Syndrom. Das übelste, was ich mir vorstellen kann: schreien, ohne gehört zu werden. Ein Niemand zu sein in einem großen Leib.

Ich lag flach auf dem Rücken, durfte mein rechtes Bein nicht bewegen, vierundzwanzig Stunden lang. Eine strenge Vorgabe, die mir Schwester Barbara wieder und wieder einimpfte. Es könne sonst zu einer Verletzung der Leistenarterie kommen. Vierundzwanzig Stunden still liegen, das Bein nicht bewegen, "sonst passiert es noch, dass Sie innerlich verbluten", impfte sie mir ein.

Na, da bleibt man dann schon mal vierundzwanzig Stunden ruhig auf der Stelle liegen.

Dennoch gab es später am Abend einen verzweifelten Moment, wo ich das Stillhalten fast nicht mehr ertrug und kurz davor war, sämtliche Schläuche und Sonden vom Körper zu reißen und mich mitsamt Infusionsständer aus dem Fenster zu schmeißen, damit ich es hinter mir hatte.

Was nicht funktioniert hätte.

Denn das Fenster des Zimmers auf der Intensivstation war zwar weit geöffnet an diesem Maiabend, doch den Weg ins Freie versperrte ein robustes Insektengitter.

Intensivstation: Fluchtversuch endet im Fliegenrollo

 

*

 

Während ich im Klinikum lag, träumte sie von Abenteuern im Weltraum und in den Bergen, von langen einsamen Wanderungen in Gegenden, wo keine Sondermeldung hinkommt, wo der Wind alles erzählt, was man wissen muss. Sie träumte von Planeten und Monden und glitzernden Sternen, die vom Himmel hinabstiegen. Sie nahmen sie in ihre Mitte und ließen sie hochleben, warfen die Gräfin in die Luft und fingen sie auf, wie Sieger das tun nach einem gewonnenen Endspiel. Da waren überall Hände, die zugriffen und Wärme ausstrahlten, die Sicherheit von Jahrbillionen.

Wir sind es! riefen die Gestirne im Traum. Wir sind für dich da!

Nach Mitternacht wachte sie auf. Sie stand mit dem alten Feldstecher meines Vaters am Fenster, in dieser bestimmten, genau austarierten Position, aus der sie den Vollmond perfekt ausspähen konnte, und erkundigte sich nach dem ganz großen Okay des Universums.

 

*

 

10. Mai 2012, Andi Stadtkirche, Susanne Eggert, 2012

Das (fast) ganz große Okay des Universums, Susanne Eggert

Erhaltene Wunden in hiesiger Stadt

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So erlag er beinahe den Anstrengungen des Krieges gegen sich selbst und den erhaltenen Wunden in hiesiger Stadt.

 

*

 

Auf der Intensivstation wurde morgens eine Waschschüssel mit lauwarmen Wasser ans Bett gebracht, inklusive Seife und einer Zahnbürste to go. Aufstehen konnte ich schon am zweiten Tag wieder, Bewegung war allerdings nur möglich im Radius der Schläuche und Kabel, etwa einen Meter ums Bett herum. Gepinkelt wurde im Liegen in die Urinflasche. Ich machte eine Pulle nach der anderen voll und klingelte nach dem Personal.

"Ist voll, Schwester."

Eine der wechselnden Pflegerinnen meinte es besonders gut mit mir. Sie reichte mir zur Morgentoilette eine Dose 8x4, für die frische feminine Note. Zur Abwechslung sprühte ich mir tatsächlich einen Hub unter die Achseln, und so kam es, dass mir bis in den Nachmittag jedes Mal ein Fähnchen Blümchenscheiße um die Nase wehte, sobald ich den Kopf drehte und aus dem Fenster blickte.

 

*

 

Am Abend wurde die Lunge geröntgt, mit Hilfe eines mobilen Röntgenwagens. Ich saß aufrecht im Bett, Röntgenschürze vorm Sack, Platte vorm Bauch.

"Morgen früh werden Sie auf die Kardiologie verlegt", sagte die Röntgenassistentin und drückte den Buzzer, wie in einer Sat 1-Game-Show.

"So."

War die Röntgenaufnahme auch im Kasten.

 

*

 

Pflegegruppe 32. Zimmer 13.

"Auf einmal geht das KLATSCH! und dann rappelt es und ich lieg auf dem Boden!", erzählte Günter, der Bettnachbar. "Wegen dem Zucker", fügte er frohgemut hinzu.

Günter war einundsiebzig und redselig, ein Veteran der Krankenhausaufenthalte. Als er vor Jahren Wasser in der Lunge hatte, so viel, dass die Ärzte ihn schon aufgeben wollten, rettete ihn im Besucherzimmer eine russische Handarbeitslehrerin das Leben, indem sie ihm ein Schwämmchen unters Herz drückte. Günter demonstrierte es mir so feierlich wie umständlich.

"Hier, so hat.. die Tante das gemacht.. so ungefähr. Und dann blieb das Schwämmchen vierundzwanzig Stunden dran und hat mir peu a peu sämtliches Wasser abgesaugt."

Ich verstand keinen Ton. Günter erzählte viel, wenn der Tag lang war, und der Tag hatte gerade erst begonnen. Weil er mich nun mit riesengroßen, nach Bestätigung heischenden Froschaugen ansah, hob ich den Daumen zum internationalen Gut gemacht-Zeichen: Allerhand, das mit der russischen Handarbeitslehrerin, Günter, wirklich, allerhand! Sämtliches Herzwasser, alles abgesaugt, hui! Mit dem Schwämmchen!!

"Private Russen sind gute Russen!" schrie Günter. Er wurde fast hysterisch bei der Erinnerung an die alte russische Handarbeitslehrerin.

Günter, ein grosser Jerry Cotton-Fan, zeichnete für sein Leben gern Filme auf DVD auf. Das war sein grösstes Hobby, Filme aus dem Fernsehen aufzeichnen. Er hatte daheim schon ein üppiges Archiv aufgebaut, leider aber kaum Zeit, es sich anzuschauen, trotz der brillianten technischen Unterstützung von zwei HD-Beamern.

"Meistens guckt meine Frau oben einen Film und ich unten meinen Krimi, aber manchmal gucken wir uns auch zusammen einen Film an, oben bei ihr, dann schneide ich bei mir unten auf DVD mit, damit ich nichts verpasse, ist doch kein Thema."

Einmal bereichtete er lang und bräsig von irgendeinem ARD-Tatort, den er gesehen hatte, ich hörte nach einer Weile kaum noch hin. Erst, als ich dachte, so, jetzt müsste ich langsam mal den Kopf heben und nicken, damit Günter nicht denkt, ich hör gar nicht zu, erst da sah ich, dass er die ganze Zeit ein Handy am Ohr hatte und mit seiner Frau telefonierte.

Der Penner.

 

*

 

"Hast du gestern Tatort geguckt?" hörte ich ihre schrille Stimme, obwohl ich gut fünf Meter entfernt in meinem Krankenbett lag.

"Ja klar hab ich gestern Tatort geguckt ", antwortete Günter, ihr Ehegatte.

"Gut. Hab ich für dich aufgenommen. Aber dann kann ich den ja löschen, oder?"

"Tatort?"

"Ja. Tatort. Hast du doch schon gesehen. Kann ich löschen?"

"Ja, hab ich gesehen. Kannst du löschen. Aber danach bei Inspektor Lewis, da bin ich eingeschlafen. Hast du auch aufgenommen?"

"Inspektor Lewis hab ich auch aufgenommen. Soll ich nicht löschen?"

"Nee, Lewis nicht löschen! Bin ich gestern Abend nach fünf Minuten eingenickt. Guck ich mir in acht Tagen an, wenn ich zu Hause bin."

"Gut."

Nichts ist privater als die Kommunikation unter Eheleuten.

 

*

 

Der andere Bettnachbar war ein Maschinenbau-Ingenieur namens Raschke. Er stammte ursprünglich vom Chiemsee, lebte aber seit langem im Bergischen Land. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und einer fürstlichen Abfindung seines Arbeitgebers sollte es wenig später, im Juli, in Rente gehen.

"Meine Frau und ich sind unter die Mobilisten gegangen", erzählte er und es dauerte einen Moment, bis ich kapierte, dass Mobilisten Leute sind, die im Wohnmobil durch die Gegend gondeln.

"Früher sind wir um die ganze Welt geflogen..", sagte der Mann, dessen tief-bratwürstelrote Gesichtsfarbe den Herzkranken verriet.

"Der hat eine künstliche Herzklappe, das klappert nachts so laut bei dem", sagte Günter, "als wär er wieder am Kühlschrank."

"Heute sind wir froh, wenn wir in Holland morgens aufbrechen, ein paar Meilen fahren und stehen bleiben, wenn wir der Meinung sind, dass es das Richtige für uns ist. Dafür muss man nicht um die Welt fliegen."

Und wieder einmal blickte jemand beifallheischend in meine Richtung.

"Obwohl, ab und zu im Winter eine kleine Fernreise, dagegen ist ja nichts einzuwenden, oder..?"

Ich nickte. "Nee."

 

*

 

So modern die Intensivstation auch eingerichtet war, auf der Pflegegruppe schienen die Krankenzimmer auf dem Stand der 60er Jahre eingefroren zu sein, mit ihrer zerschundenen Möblierung. Als ich das Nachtschränkchen neben meinem Bett genauer in Augenschein nahm, fühlte ich mich an eine DDR-Musiktruhe aus dem Jahre 1958 erinnert, designmäßig auf Ostblock-Linie getrimmt. Schön waren besonders die vielen silbrigen Knöpfe, die sich ins Nichts drehen liessen, die eingebauten toten kleinen Lautsprecher und die Buchsen für den Anschluss moderner Tonbandmaschinen.

 

*

 

"Ja, selbstverschnittlauch!" tönte Günter jedes Mal, wenn er in der Früh wach wurde und die Augen aufschlug. Gerne auch: "Guten Morgen, Kameraden zur See! Schon geschissen?!"

Er war schwerst zucker- und schwer herzkrank und sollte am folgenden Tag operiert werden. Ein Defilibrator wurde eingesetzt. Eine grosse Operation von mindestens drei Stunden Länge. Es war seine insgesamte siebzehnte OP. Ein Profi durch und durch. Entsprechend wusste er auch, worauf es ankommt: "Man muss vorher noch mal richtig kacken." Diesen Rat hatte er in der ersten Nacht, die ich auf der Kardiologie verbrachte, dann auch ordentlich beherzigt.

"Wer weiss, wann ich dafür wieder Gelegenheit habe", schnaufte er um halb fünf in der Früh, als die ersten Vögel sangen und er zum dritten Mal den Pott aufsuchte. Jede Sitzung, jeden noch so kleinen Klecks Stuhl leitete Günter mit einem ausgelassen knatternden Furz ein. Da kannte er nichts. Nichts war ihm peinlich. Warum auch. Sollte doch die Nachtschwester auf dem Flur ruhig wissen, dass Günter wieder auf dem Töpfchen saß, früh um halb fünf. Ein echter Spitalprofi.

Nicht mal als Pfleger Daniel, 32, drei Stunden später kam und einen Blasenkatheter legte, zeigte Günter irgendwelche Spuren von Nervosität.

"Wenn meine Frau anruft, sag ihr, wir gucken nächste Woche Inspektor Lewis zusammen. Kennst du Inspektor  Lewis, Daniel? Ist Klasse. Musst du gucken. Kannst mich ja mal besuchen. Ich hab zweitausend Krimis zu Hause, auf Video und auf DVD."

 

*

 

Sanne rief an.

"Lass uns ein paar Tage an die See fahren, wenn du aus dem Krankenhaus kommst und etwas Zeit vergangen ist."

Sie träumte von Abenteuern in den Dünen, von Wandern mit dem Hund, von Orten, wo uns niemand erreicht, wo keine Sondermeldung hinkommt, wo der Wind einem alles erzählt, was man wissen muss.

"Aber erstmal koche ich uns ne schöne Hühnersuppe, wenn du draussen bist."

"Ja selbstverschnittlauch", sagte ich.

Da freute sich auch der Hund. Blieben ja immer ein paar schöne Knochen übrig, bei der Hühnersuppe.

 

*

 

Mittags stand die Oberärztin vor meinem Bett.

"Also, Herr Glumm, wie ich sehe haben unsere Ärzte Sie wieder von der Strasse weggeschnappt", scherzte sie mit Blick auf mein Patientenblatt. "Sie sind ja zum ersten Mal im Krankenhaus, und das in Ihrem Alter, Respekt."

Sie verpasste mir einige Elektroden auf der Brust und ein Maschinchen, das ein 24-Stunden-EKG durchführen sollte. Auf dem dazugehörigen Merkblatt las ich zwar was von empfindlichen Hochleistunggeräten, der Anblick des handygroßen Dings erinnerte jedoch eher an Raumschiff Orion und die Untertassen. Auch Günter hatte nur "Mann, sieht das scheisse aus!" gerufen, als er das Gerät tags zuvor am Körper getragen hatte.

Die Oberärztin informierte mich über die Risiken der zweiten Herzkatheteruntersuchung, die einige Tage später, am Mittwoch, stattfinden sollte, und erklärte den Eingriff anhand einiger Schaubilder. Ein Ballon wird durch die Arterie eingeführt und im Herzen aufgeblasen, um die von Kalk verstopften Gefäße zu öffnen. Dann wird ein Stent, ein kleines Gittergerüst eingesetzt, um das Gefäß auf Dauer geöffnet zu halten. Ich erfuhr, dass es dabei, im Ausnahmefall, auch zum Schlaganfall kommen könne. Oder es stellt sich heraus, dass die Arterien so dicht sind, dass kein Stent mehr gesetzt werden kann. Dann wird der Eingriff abgebrochen, ".. und Sie werden über einen Zeitraum von einem Jahr medikamentös weiterbehandelt."

Das liess mich aufhorchen. Ich war schliesslich alles andere als scharf darauf, noch mal in den OP zu müssen.

"Kann man das nicht gleich mit Medikamenten weiterbehandeln? Brauche ich unbedingt noch einen dritten Stent?"

"Ja natürlich", sagte sie einigermaßen fassungslos, und schickte mich runter auf U1 zur Echo-Untersuchung. Da traf ich zufällig den Oberarzt wieder, Doktor Dierks, der den Erst-Eingriff durchgeführt hatte, gleich nach dem Infarkt.

"Sie hatten relativ schlechte Karten an dem Tag, als es passierte. Gut, dass Sie so schnell auf unserem Tisch gelandet sind", sagte er und führte noch einmal aus, wie chronisch kaputt mein Herz schon gewesen war.

"Erinnern Sie sich überhaupt noch an mich?" fragte er zum Schluss.

"Nicht wirklich. Nur der Klang Ihrer Stimme kommt mir bekannt vor."

"Ja, ich musste laut werden, weil Sie einfach nicht still liegenbleiben wollten."

Ein groß gewachsener Mann, der Oberarzt, kurzes blondes Haar, eher sym- als unsympathisch.

"Bis Mittwoch", sagte er. "Und keine Angst. Das machen wir schon."

Heute vor 10 Jahren..

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ging das los mit den 500beinen. 

Auch wenn ich mittlerweile auf Studio Glumm blogge,

ein paar Besucher kommen immer noch, um nachzusehen, was

geht in der Orthopädie.

 

#10 Jahre Bloggen..

 

 


 

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Benzini weiss, wie man sich Freunde macht unter den Stubenhunden dieser Welt

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Ill.: Sanne Eggert

*

Abends schellt es Hagel und Granaten. Der Hund kläfft sich die Seele aus dem Leib. Durch den Tür-Spion erkennt die Gräfin schemenhaft eine Gestalt, die im Dunkeln vor der Haustüre zu kauern scheint, ein Raubtier, bereit zum Sprung.

“Hm.. sag mal, ist das.. Benzini da draussen?”

“Lass mal gucken”, sag ich und drängle mich zum aufbegehrenden Hund an den Spion, doch zu spät, die Gräfin hat schon den Summer gedrückt und die Haustür geöffnet. Das Flurlicht springt an, Benzini schiebt sich ins Haus.

Was in den nächsten Stunden folgt, lässt sich am ehesten mit einer stabilen Windhose umschreiben, die durch unsere Wohnküche fegt. Ein unrasiertes Naturphänomen, das neuerdings ein schwarzes Helmut Schmidt-Käppi trägt und als Ein-Mann-Marsch defiliert.

HEIDEWITZKA, HERR KAPITÄN!!

Benzini kommt quartalsmäßig zu Besuch, im Gepäck die jüngsten Abenteuer. Es braust und grollt durch unsere auf Rückzug und Ruhe bedachten Klause, dass es mich wundert, warum niemand auf die Idee kommt, eine Tafel mit Sponsorenlogos aufzustellen und die Wände mit Werbebannern zuzupflastern, von 10000 Lux angestrahlt, bei gleichzeitigem Bockwurst- und Bierverkauf.

Und warum niemand die Titel-Melodie von Der Pate einspielt, wenn Benzini in Cinemascope Mafiastorys auspackt, wo gebündelte Dollarnoten in der Tiefgarage mit dem Lineal abgemessen werden, oder wenigstens der Rosarote Panther, man versteht es nicht. Immerzu geht es um Leben und Tod, wenn Benzini seine Aufwartung macht. Seit ich Benzini kenne, geht es bei ihm um Leben und Tod, seit fast vierzig Jahren ist Krimi, wenn Benzini kommt.

In den frühen 80ern verschlug es ihn an den Rhein, wo er einen Handel mit US-amerikanischen Strassenkreuzern aufzog. “Jeden zweiten Fifty-Seven Chevy, der durch Deutschland schnurrt, hab ich verschifft.” Noch heute lebt er in Köln, doch den Kontakt zu den alten Gaunern in seiner Heimatstadt hat er nie aufgegeben, nie schleifen lassen.

Ich frag mich nur, ob Benzini bei anderen alten Kumpeln auch so auf die Pauke haut, wenn er sie besucht, oder ob er bei uns besonders vital und quirlig vom Leder zieht, weil er nur zu gut weiss, dass sowohl die Gräfin als auch ich dankbare Zuhörer sind, denen nicht viel daran liegt, alles auszuplaudern.

HA HA - GUTER WITZ! HÖR MAL!!

“Na, hier am Kannenhof passiert ja auch nix!” dröhnt Benzini. "Ist ja auch nicht schwer, hier vom Leder zu ziehen!"

Erstaunlich. Frau Moll, sonst hypernervös, wenn fremde Männer in der Küche sitzen, die uns anbrüllen, bleibt die Ruhe selbst. Sie ist vor ein paar Tagen 9 Jahre alt geworden.* Sie liegt auf dem Küchenboden. Eine eisgraue Lady, die Pfoten brav nebeneinander wie die Sphinx von Gizeh, eine zottelige und schmutzstarrende und aufmerksam den Besuch ausspähende Altägypterin: Ist das nicht der laute Onkel, der immer die dicken Knochen bringt?

Benzini, stets ein Näschen für den richtigen Augenblick, packt einen stinkigen Rinderpansen auf den Küchentisch und lässt Frau Moll Männchen machen.

“Tu was für dein Geld, Hektor!”

Der Mann weiss, wie man sich Freunde macht unter den Stubenhunden dieser Welt. Im Anschluss hagelt es die erste Story. Ohne großen Übergang. Aber eine Windhose verteilt ja auch keine Nettigkeiten, bevor sie losbläst und Anarchie verbreitet. Sie bläst los und man muss schleunigst zusehen, wo der Bunker ist und wie man die Tür von innen zukriegt und blockiert.

Manches Neue, was Benzini im Gepäck hat, ist dann doch nicht so neu, wie es auf den ersten Blick erscheint, man hat davon schon gehört, anderes hingegen ist brandneu, nie davon gehört, findet aber kein Ende, kurzum: selbst die Gräfin und ich als gelernte Zuhörer sind nach drei Stunden Zuhören am Ende unserer Kapazitäten.

Bleich und schrumpelig verabschieden wir uns von Benzini, und noch als er längst über alle Berge ist, “Kinder, war schön, aber jetzt muss ich los, Geld verdienen!", haben wir immer noch diese Rückkopplungen im Ohr wie von einer wummernden Leadgitarre der Who, und die Gräfin setzt die zweite Kanne Arznei-Tee auf.

“Baldrian! Tu Baldrian rein!” schreie ich verwirrt. “Mehr Extra-Baldrian!”

 

*

 

Benzini und seine Frau hatten zwei Wochen Andalusien gebucht, eine Finca in den Felsen (Cojito) mit Pool, offener Küche und französischem Bett. Das Wetter war schön, selbst der Wind kam mittags in die Hängematte gekrochen und blieb über Nacht. Entspannte Ferientage im Süden, doch schon bald erwischte es die beiden Workaholics. Sie, die es gewohnt sind, 60-80 Stunden die Woche zu arbeiten und das Handy nicht ausglühen zu lassen, fanden sich plötzlich in der tödlichen Super-Stille ihres spanischen Ferienhauses wieder, wo es 24 Stunden am Tag nichts als Sonne und Natur und den Partner in der Hängematte gibt, den man daheim vielleicht ein Stündchen vorm Zubettgehen wahrnimmt.

Es kam zum Streit an diesem Abend, weil beide verschiedene Pläne hatten. Sie wollte gern eine nahegelegene Liebesgrotte aufsuchen, eine touristische Attraktion, um die Beziehung aufzupeppen, dem Sinn der Reise insgesamt, ihrer Ansicht nach. Er wollte lieber Fußball gucken, Champions League, um mitreden zu können, wenn auch nicht unbedingt mit dem eigenen Weib. Ein Wort gab das andere, keine Lösung in Sicht.

Schliesslich machte sich Benzini in der Finsternis davon, ins benachbarte Dorf, um in der kleinen Bar ein paar Anis-Schnäpse zu kippen und live die Partie Dortmund gegen Real Madrid zu verfolgen. Es gab sogar Zoff mit den Einheimischen, nicht etwa, weil Real verlor, sondern wegen Angela Merkels Europa-Politik.

Sternenklar ist die Nacht, als sich Benzini zu Fuß auf den Rückweg macht. Es sind nur zwei Kilometer bis zur Finca, doch bislang ist er die Strecke stets mit dem Mietwagen gefahren, er verläuft sich in der Dunkelheit.

“Ich denk, da waren Sterne draussen”, werfe ich ein. “Konnten die dir nicht heimleuchten?”

“Da waren Sterne, du Schlaumeier, jede Menge Sterne, aber nicht hell genug für drei Promille. Ich war voll wie ne Haubitze! Also, ich in Schlangenlinien die Strasse runter, so Serpentinen, die jedes Geräusch schlucken - jedenfalls hab ich kein Motorgeräusch hinter mir gehört – und plötzlich macht es Rumms in der Hüfte und ich bin angefahren und lieg im Graben.”

Während der Fahrer des Lieferwagens flüchtet ohne anzuhalten, rutscht Benzini am Strassenrand die Böschung hinunter und verliert das Bewusstsein. Er wird erst wach, als Hunde an ihm zerren, zwei grosse wilde Kreaturen, die sich in seinen Ledergürtel verbeissen, begleitet von tiefen Knurrlauten.

“Die dachten, ich wäre hinüber und wollten mich schon an der Kehle packen. So streunende Ungeheuer, die nehmen, was kommt, die kein langes Brimborium machen. Tja, das war’s wohl, Benzini, dachte ich. Verreckst hier in der Pampa, angefahren von irgendnem Besoffski und zerfleischt von wilden Tölen, die dir auch noch den teuren Gürtel mopsen. Das hab ich wirklich gedacht, es war eine ganz nüchterne Bestandsaufnahme.”

Erst, als die Hunde merken, dass der Leichnam noch zuckt und nach ihnen tritt, lassen sie von Benzini ab und trotten von dannen.

“Das war so elementar, wie ich so daliege und mich nicht rühren kann, von einem Auto übern Haufen gefahren und über mir das Himmelszelt, das so tief stand, als könnte man die Sterne packen und einstecken.. Und wisst ihr was? Je länger ich in den Sträuchern liege, desto einverstandener bin ich mit der Situation. Ich mein, wenn du jetzt abnippelst, dann okay, dann soll es so sein, dachte ich, so übel war dein Leben nicht. Das war schon okay alles, wie es war.”

Das erinnert mich verblüffend an meine Herzattacke, an den Moment, als ich meinen Frieden mit mir machte, du kannst dich jetzt ruhig sterben lassen, ein sehr beruhigender Gedanke damals. Ach was, letztens. Im Mai.

Wer die Auswegslosigkeit seiner Situation annimmt, wer sich mit dem Unvermeidlichen zu arrangieren beginnt, der hat gute Chancen, dass er es noch irgendwie die Böschung raufschafft, zur Strasse hoch, gegen alle Wahrscheinlichkeiten, mitten in einer Sommernacht, am Arsch von Andalusien, und dass man sogar auf ein Auto stösst, das..

anhält!

Guardia Civil. Zwei Beamte, eine Taschenlampe. Sie leuchten Benzini ins Gesicht, taxieren ihn.

“Die hielten mich für einen betrunkenen Penner, der auf die Fresse gefallen ist.. klar, ich sah nicht gerade wie Marcus Schenkenberg aus, mit all den Quetschungen und Prellungen und überall das Blut.. doch statt zu helfen, versetzt mir einer der Bullen noch einen Stiefeltritt: Vete a la mierda! Fahr zur Hölle!”

Sie setzen sich in den Wagen und brausen davon. Jetzt mobilisiert Benzini letzte Reserven. Er rafft sich auf und schleppt sich die Serpentinen runter, findet nach einer Weile tatsächlich die schmale Zufahrt zum Grundstück der Finca.

Er zeigt uns ein Foto auf dem Smartphone, unmittelbar aufgenommen, nachdem er dort ankommt. Seine Hüfte ist grün und blau.

“Junge, Junge”, sag ich blass im Gesicht und hätte ihn gern in den Arm genommen. Wie Benzini da in unserer Küche hockt, bei funzligem Licht, das Helmut Schmidt-Käppi tief in die Stirn gezogen, die dunkle Jacke immer noch nicht ausgezogen – ein moderner Don Quichotte, im verzweifelten Kampf gegen die Moderne und Allradantrieb.

 

*

 

Erst jetzt, viele Jahre später, macht eine Äusserung Sinn, die Benzini mir gegenüber einmal gemacht hat: “Ich bin ein Pechvogel”, sagte er, “und weil ich das weiss, muss ich besonders clever sein.” Damals dachte ich, wieso zum Teufel sollte Benzini ein grösserer Pechvogel sein als sonstwer, aber die Zweifel sind ausgeräumt. Sein Pechvogel war nichts anderes als eine frühzeitige Beschwörung des Augenblicks, auf den es irgendwann einmal ankommen wird. Ein cleverer Schachzug. Hut ab.

Also den Sombrero.

 

*

 

Benzinis Probleme mit der Bauchspeicheldrüse waren komplex, und zuerst wussten auch die Ärzte nicht, was los war. Er fühlte sich schlecht, er hatte keinen Appetit, war lustlos.

“Nicht mal den Weibern bin ich noch nachgestiegen!”

Er stellte verzweifelt das Rauchen ein, reduzierte das Trinken, “nur noch guten Wein!", doch mit welchem Ergebnis? Richtig. Eine handfeste depressive Episode.

“Du sitzt nichtsahnend vorm Fernseher und denkst nichts böses, jedenfalls nichts besonders böses, und plötzlich springt dich die Traurigkeit an, die Depression, ein Tier aus finsterster Ecke. Du bist wie gelähmt, du kommst nicht mehr hoch, du bist in den Klauen gefangen. Und das tage-, ach was, wochenlang.”

“Kenn ich”, sag ich leise.

“Kenn ich”, sagt die Gräfin.

Benzini kannte es bis dahin nicht. Er starrte stundenlang die Decke an, als gäbe es dort etwas zu entdecken. Er konnte sich nicht aufraffen, zur Arbeit zu gehen.

“Nicht mal den Weibern bin ich noch nachgestiegen!”

“Hm, ja, das sagtest du bereits.”

“Nicht mal Geldverdienen machte noch Spaß!”

Der Arzt diagnostizierte, was ein Arzt bei Privatpatienten seines Kalibers gern diagnostiziert, Burn-Out-Syndrom, und verschrieb Tranquilizer und Work-Life-Balance-Beratung. Da zudem in seiner Familie Darmkrebs zum Ton gehört, wurde eine Darmspiegelung anberaumt. Bei der Kamerafahrt durch den Dickdarm passierte es: ein Stück der winzigen Videokamera brach ab.

“Wer hatte mal wieder die Arschkarte gezogen?! Benzini!”

Die Gräfin: “Die haben das Ding aber doch wieder rausgeholt, oder nicht..?”

“Glaub schon. Ich lag bräsig auf dem OP-Tisch, als ich hörte, es wäre ein Chip abgebrochen, und dann war ich auch schon wieder weg. Aber ich denke, dass die Brüder die Antenne wieder rausgefischt haben, ja sicher, ich denk schon..”

“Antenne!? Was für ne Antenne?”

“Na, was weiss ich denn, was da so alles los war in meinen Hintern!”

 

*

 

Ein anderes Foto auf dem Smartphone zeigt Benzini von hinten, mit einem prallen Furunkel am Hintern. Nah an der Ritze, was es nicht nur beim Abwischen unangenehm machte, er konnte zudem kaum noch sitzen, was längere Autofahrten zur Tortur werden liess.

Nun ist ein Furunkel an sich keine große Sache. Wäre er zeitig zum Arzt gegangen, wäre das Ding aufgeschnitten worden, der Sabber wäre in eine Nierenschale geflossen, alles wäre gut gewesen.

“Wäre, war aber nicht”, stöhnt Benzini.

Er hatte gerade mal wieder die Nase voll von Arztbesuchen, und so entwickelte sich aus der knubbeligen kleinen Arschtasche ein faustgrosses Ei nahe der Kackritze, bis obenhin voll Eiter. Selbst seine langjährige Freundin, einiges gewohnt, was Benzinis Umgang mit dem eigenen Körper angeht, fordert ihn auf, zum Arzt zu gehen.

Okay okay, ist ja gut, bin ja schon weg.

Nur noch die fünf Termine am Montag und dann am Dienstag zum Hausarzt, der keine hundert Meter entfernt praktiziert. Nur noch der Montag, nur noch die fünf Termine an fünf verschiedenen Orten, nur noch die insgesamt 1.200 Autobahnkilometer, dann aber.

Ja, sicher doch.

Schon früh am Morgen, während der Fahrt auf der Autobahn, werden die Schmerzen unerträglich, und Benzini fragt sich, wie zum Teufel er den Tag überstehen soll. Als er aber im Raum Frankfurt aus dem Wagen steigt, um den ersten Termin des Tages anzugehen, ist der Schmerz wie weggeflogen. Er fühlt sich überraschend leicht, doch schon im gleichen Moment wird ihm warm, unerklärlich warm, untenrum.

“Das war der Aquarium-Moment!!” schreit Benzini, als wären die Gräfin, der Hund und ich die gegnerische Verteidigungslinie, die es zu Tacklen gilt, und der Hund blafft zurück.“Mein verdammtes Furunkel war aufgeplatzt, die Hose voller Eiter! Das stank, wie beim Güllebauer in der Eifel!”

In letzter Sekunde telefoniert er den ersten Termin des Tages eine Stunde nach hinten und macht sich mit dem Wagen, einem Sprinter, den er eigens für die Tour gemietet hat, zum nächsten Aldi auf, Klamotten kaufen.

“Ich konnt ja schlecht vollgeschifft beim Kunden auflaufen und einen lockeren Deal machen.”

Er schnappt sich eine billige Blue Jeans und ein Peking-Hemd aus dem Regal. Zurück zum Parkplatz, auf die Ladefläche des Sprinters, schnell umziehen.

“Die Rentner fingen schon an zu feixen, weil hier ein schräger Vogel in ner nassen Buxe über den Parkplatz eiert.”

Als Benzini die Hecktüre hinter sich zuzieht, ist es stockfinster im Wagen. Er irrt über die leere Ladefläche, findet nirgends den Lichtschalter. Dummerweise hat er nicht mal ein Feuerzeug in der Tasche. Er stösst mit dem Schädel gegen die Wagendecke, stolpert und legt sich lang, “wie ein Güllekäfer auf dem Rücken hab ich mich gedreht, am strampeln!”

Vor Wut schlägt er um sich, er krabbelt auf allen vieren zur Hecktüre und tritt dagegen, bis sie endlich aufspringt.

“Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte um Hilfe geschrien. Stellt euch die Szene vor, ein Aldi-Parkplatz irgendwo vor Frankfurt, ein Mann in einem verschlossenen Lieferwagen, der um Hilfe schreit, bis ein paar Rentner von aussen die Tür aufreissen und da steht der Kerl halbnackt auf der Ladefläche, mit ner geplatzten Eiterbeule und Furunkelwasser zwischen den Beinen und in der Hand ne vollgeschiffte Hose, am schwitzen wie.. “

“.. EIN GÜLLEBAUER IN DER EIFEL!!”

(Die Gräfin meinte später, an dieser Stelle hätte ich so laut aufgelacht, dass sie es beinah mit der Angst bekam, ich würde ersticken.)

 

*

Die Story ist aus dem Jahr 2012.

 

Glumm goes Grillage

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An die locker tuffige, niemals zu mächtige Buttercreme-Geburtstagstorte meiner Mutter, die sie mir Jahr für Jahr unter einer geheimnisvoll beschlagenen Tortenhaube präsentierte, kam nur Grillage heran, eine halbgefrorene Baiser-Torte mit gemahlenen Nüsschen, erfunden vor über hundert Jahren vom Krefelder Konditormeister Hermann Wilms d. Älteren.

Ein Stück Grillage ist zum Weghängen lecker und schmilzt auf der Gabel, wenn man nicht schnell genug ist. Jedenfalls war das 1973 so, bei Cafe Kramers am Fronhof. Die hatten Grillage-Torte als Spezialität auf der Karte, ganz oben, als Spitzenreiter, als Knüller unter Knüllern, als Big Bang.

Wir waren 13 Jahre alt und vernarrt in Grillagetorte, mein Fußballkumpel Wiwi Wupperbusch und ich. Einmal im Monat schmissen wir die blau-weißen Stutzen und Schienenbeinschoner des RSV in die Ecke und putzten uns fein heraus, für ein ruhiges Plätzchen in einem mit wilden Plätzen nicht gerade gesegneten Oma-Cafe.

Dann saßen wir da.

Zwei 13jährige Burschen mit Säbelbeinen und geputzten Tretern, die sich hingebungsvoll Eiscremetorte auf Biscuitboden einführten und in Sahnerosetten schwelgten, in Schokospänen und gezuckertem Eischnee, immer schön langsam, Gabel für Gabel, damit es lange vorhielt, das köstliche Stück, war ja auch teuer genug, dazu ein Gläschen Afri Cola, danke schön, Fräulein.

Dann waren wir satt und schwiegen an. Das Kaffeekränzchen war am Ende. Es gab nichts weiter zu sagen. Ich mein, wären wir Mädels gewesen, wir hätten uns Zöpfe flechten oder über Pferde unterhalten können, Riemchensandalen wären ein Thema gewesen und der erste juckende Scheidenpilz, aber hey, wir waren Jungs! Allein das Wort jucken verursachte bei uns in diesem Zusammenhang Desinteresse.

Wir waren Jungs und rochen nach billigem Bubblegum, wir trugen gerippte Unterhosen, popelten selbstvergessen in der Nase und hatten uns nichts zu erzählen, vor allem Wiwi Wupperbusch und ich nicht.

Gut, wir spielten zufällig im selben Fußballclub, wohnten zufällig im selben Viertel und teilten zufällig dieselbe perverse Leidenschaft fürs Kuchenbuffet, aber das war's dann auch mit Gemeinsamkeiten.

Ich hab ihn später aus den Augen verloren. Hab mal gehört, er wäre ein mittleres Tier bei der Post geworden, so eins mit Vollbart, das die Eilpost unter sich hat. Pffft..!! Wiwi Wupperbusch und die Eilpost..! Dieses lahme Baiser-Püppchen! Ich lach mich halbtot! Aber eines musste man ihm lassen.

Geschmack hatte der Bursche.


Red is a mean mean colour

100 Archen werden kommen und uns retten

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*

 

Spaziergänge mit struppigen Hunden sind eine gesunde Sache, sagt der Doktor, allein schon wegen der vielen Hundehaare, die man beim Gehen einatmet und die sich weiträumig ums Herz legen und es abfedern. Lebt man zudem im Bergischen Land, im fiebrigen Wupperdelta, in der Neuen Eisenzeit, wo die Wälder wieder rauschen, bevor sie fallen, dann ist das Herz mehr als gewappnet.

Oder, wie der türkische Arbeitskollege Erhan zu sagen pflegte, bevor er sich beim Ein-Euro-Job in die Kulissen verdrückte: “Erhan jetzt spazirren gehen bla-bla!” Er streckte uns die Zunge raus und blieb verschwunden für den Rest des Tages. Sehr gesund. Diese Spaziergänge.

Spazierengehen.

Ein Wort, das fatalerweise in der Kindheit an die Tugendhaftigkeit verfüttert wurde, an biedere Sonntage mit Opa und Oma, dabei ist es doch ein wildes Streunen. ein Klettern, ein Raufen im Morast! ein Brennen! ein Erobern von Landschaft! ein den Göttern folgen, in ständiger Vorfreude auf den nächsten Schritt!

voran!

Erhan erzählte mir eines Tages, hinten in den Kulissen, wie er versucht habe, sich selbst zu hypnotisieren, indem er eine halbe Stunde lang ununterbrochen auf das rote Standby-Licht seiner Stereoanlage blickte.

“Und?” fragte ich, “hypnotisiert?”

“Eingepennt. Bla-bla.”

*

“Das ist nicht schön!” schnaubt die Gräfin. Na, da hat sie recht. Das ist in der Tat nicht schön, wenn man aus der Haustüre tritt und es wabert ein Geruch durch die Luft, als habe der mopsige alte Mann von gegenüber Leberwurstbrötchen gegessen und in der Folge mehrmals kräftig aufgestossen.

“Ich hab überhaupt keine Lust mehr auf Spazierengehen”, jammert sie.

“Ja ich denn?” jammere ich.

“Leberwurst”, denkt der Hund, die Nase im Wind.

Spaziergang am frühen Abend! Zur besten Sportschau-Zeit! Leichter Regen! Eine Runde über die Felder. Es riecht nach Leder und Licht, nach Erde. Nach wenig Schlaf und 1x kess durch die Zellen klimpern. Nach Hundekot am Wegesrand, dick wie Sonntagsbuchstaben. Doch der Himmel hat die Ruhe weg. Alle drei Meter bleib ich stehen und notiere etwas. Eine Idee, ein Bild, ein kleiner Satz nur.

“Was schreibst du da dauernd?”

“Drei Meter Sätze”, sag ich.

Der Wald in den Wupperbergen ist eine große dunkle Schatztruhe, unverrückbar. Viel Schiefergestein. Aber Achtung! Man kann dreißig Mal an derselben Stelle rechts abbiegen und glauben, jeden kleinen germanischen Feuerbusch zu kennen, doch biegt man aus Versehen nur einen halben Meter vorher rechts ab, tut sich gleich eine neue Welt auf. Eine andere Welt.

Die laufende Nummer 31.

 

*

Ich entdecke: Ein kleines Blatt, das AUGENSCHEINLICH keine Lust hat, zu Boden zu fallen. Es bleibt mitten in der Luft stehen, in Augenhöhe, regungslos. “Ich bin ein Wunder”, säuselt es wie angetrunken und von einem unsichtbaren Faden gehalten. Den Trick offenbart das Gegenlicht: das kleine Laubblatt ist tot vom Baum gefallen und hat sich in einem Spinnennetz verfangen, das quer über den Weg gezimmert wurde.

“Dass der Tod so schön sein kann, so leicht”, gluckst die Gräfin.

Jäh reißt ein Windstoß das Laub fort; einer Sternschnuppe gleich saust es um mich herum und kracht mir mitten auf die Stirn, samt zerrissenem Spinnennetz. Die Gräfin lacht frei heraus. Es sind kleine LSD-Tränen.

Ich steh da wie das Sterntalermädchen.

*

Wir alle sind nur da Mensch, wo wir uns fallen lassen können ohne wenn und aber, ohne Stützräder, ohne Fixseil volle Suppe in den Augenblick hinein.

*

Geschlagene anderthalb Stunden sind wir auf dem alten Postweg unterwegs. Dauernd bleibt einer stehen, um sich etwas anzugucken, der andere schliesst auf und schaut es sich auch an. Wir kreisen wie Satelliten um die eigene Geschichte.

“Das ist kein Gehen, das ist relativ flottes Stehen”, übernehme ich die Deutungshoheit.

Wir verlassen die gesicherten Pfade und kraxeln die Wupperberge rauf, der Hund begeistert voran. Das ist sein Metier. Unterwegs in unwegsamen Gelände, die Nase hart am Moos, ein Trüffelschwein. Eine Bodenmaschine.

“Molli riecht wie meine alte Blockflöte früher”, beschnuppert die Gräfin das Fell des Hundes, “wenn das Mundstück nass war, voller Speichel.”

*

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*

Erinnerungen an die Kindheit waren unsere Morgengabe, vom ersten Moment an. Wenn man sich kennenlernt, spürt man instinktiv, ob man in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und ob man das gleiche braucht im Leben. Als wir uns kennenlernten, war da dieses Muttermal über ihrer Oberlippe, diese Schokoperle. Ich hatte ein Grübchen, in dem ein Muttermal Platz hatte. Das ging in Ordnung. Das passte. Es konnte losgehen.

"Eigentlich sind meine kleine Schwester und ich wie auf Saltkrokan aufgewachsen", erzählte sie. "Wir hatten einen lieben Hund, wir hatten Wildnis und einen Bach hinterm Haus. Wir hatten sogar einen Opa, der die Hände hinterm Rücken herumlief und nach Zigarre roch, genau wie im Schweden der Astrid Lindgren, aber wir hatten keine so liebe Mutter. Ich wollte immer so eine Mutter haben, wie die blonde Mutter der kleinen Skrollan. Die war so empfindsam, nicht so zack zack und immer nur praktisch wie meine Mutter."

*

Als Frau Moll noch klein war, gerade dem Welpenalter entwachsen, räuberte sie oft mit Spikey, einem Schäferhundrüden. Die Nahkämpfe der beiden verliebten Rüpel endeten oft mit Zahnfleischbluten und ausgerupften Fellbüscheln, so sehr knallten sie mit den Rippen aneinander, es schepperte richtig. Mit vier war Frau Moll auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Sie strotzte vor Kraft. Wenn sie ausnahmsweise mal einen Tag lang kaum vor der Tür war, brachten sich am nächsten Morgen sämtliche Katzen der Nachbarschaft in Sicherheit.

Doch Frau Moll ist nicht mehr so beweglich, sie knickt schon mal mit den Hinterläufen ein, gerät ins Stolpern, wird vergesslich.

“Unsere alte Oma”, ruft die Gräfin verliebt.

*

Der Wald, ein Körbchen voll schräger Geräusche. Eicheln gehen zu Boden, Kastanien. Eine Krähe kräht im Fliegen mit ihrem Kumpan um die Wette.

“Krah-krah!”

“Wenn man im Herbst vorüberfliegende Krähen hört, ist man innerhalb Sekunden im Mittelalter”, meint sie. “Dieser Herbst ist uralt.”

“Bronzezeit”, schätze ich.

Wir stöbern in Schonungen, entdecken einen verwunschenen, illegalen Grillplatz, wir rücken dem Wald tiefer auf die Pelle: über den alten Postweg, wo uns alle anderthalb Meter ein frischer Kuhfladen auflauert.

“Wie zum Teufel kommen Kühe in den Wald?”

“Zu Fuß”, vermute ich. “Die grillen hier. Das ist ein uralter Grillplatz der Kühe.”

Auf Laub geht man weich, wie auf frischen Leichen.

Ich kann nicht anders. Mir entfährt ein “kleil!”, weil sich mein Sprachzentrum auf die Schnelle nicht entscheiden kann zwischen “Klasse!” und “Geil!”, als die Gräfin sich die rote Lederleine von Frau Moll um die Hüfte wickelt, drapiert mit okkergelbem Laub tanzt sie die Herbst-Domina, im Napoleonmantel. KLEIL! Die Gräfin, ein seltsames, ein seltenes Arrangement von Frau.

Nasses Laub glimmt tief im Forst, abseits der Pfade, der Hund buddelt im Erdreich, im Windschatten unserer Worte.

Die Gräfin nimmt sich vor, in Zukunft nicht mehr so viel und sorglos zu plappern, “ach du Schande! mein armes Notizbuch!", sondern ihre Gedanken lieber sauber ins Nichts rascheln zu lassen.

“Na schön”, sag ich. “Dann lauere ich mit dem Notizbuch künftig im Nichts.”

Geht in Ordnung. Auch gut.

 

*

Entlang der Bahngleise im Schotter nach Gegenständen fahnden, die Passagiere aus dem Regionalzug geworfen haben, der alle zwanzig Minuten zwischen Solingen, Wuppertal, Remscheid verkehrt.

Fundsache: 3 mumifizierte dunkle Rosen im Gleisbett.

“Guck mal, eine Rose.. ist noch ein bisschen schön”, sagt die Gräfin und legt sie zurück.

Sie vermutet, es könnte sich um eine Gedenkstelle handeln.

“Vielleicht ist hier mal jemand tödlich verunglückt. Was meinst du? Vielleicht ist das eine Kultstätte.”

Kann sein. Überhaupt, es kann vieles sein. Und es ist ja auch vieles. Gewesen, vor allem. Vergangenheit überall. Solange der Mensch lebt, produziert er Vergangenheit. Und je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Vergangenheit ist in der Welt. Es ist eine mächtige Überproduktion. Man weiss schon nicht mehr wohin mit all der Vergangenheit, all den nichtigen und großen Taten, den nichtigen und großen Gedanken. Die Deponien erstrecken sich über halbe Kontinente und gammeln und stinken vor sich hin, es ist ein Maximum an FRÜHER zu beobachten, wohin man den Blick auch wirft. Abraumhalden voller verbrauchter Anekdoten und toter Erinnerungen, ein Billionenspiel der Beliebigkeit.

Wir sind unfähig, uns der Vergangenheit zu entledigen. Wir sind Messies, wir horten Geschehenes und längst Geschehenes bis hin zu frühkindlichen Traumata. Und das bloß, weil wir die Zukunft nicht kennen, aber von allen Seiten beschworen werden, sie kennen zu müssen um unser Überleben zu sichern, das Überleben der menschlichen Rasse. In Panik multiplizieren wir alle Vergangenheiten und hoffen, das Ergebnis käme in etwa an das heran, was wir Zukunft nennen, und hundert Archen würden kommen und uns retten.

Ja sicher doch.

 

*

Ein warmer Herbstschauer pixelt vorübergehend die Gegenwart. Die Haut. Es regnet Bleistifte.

"Graphit!” ruft sie.

Und mutmaßt sofort.

“Oder meinst du, der liebe Gott gurgelt? Es riecht sogar ein bißchen nach Odol.” Sie schnuppert an ihrem Ärmel. “Hier. Riech mal.”

“Leberwurst?” frag ich vorsichtig, weil ich nicht gut rieche.

“Odol! Blödmann!”

*

Pferdegetrappel in der Ferne, ein Streifen Sonne fegt heiß über unsere Köpfe, als ur-plötzliches Bügeleisen.

“Wo kommt denn die Sonne auf einmal her..?”

Ist schon wieder verschwunden.

“War nur ne Bügelvisite.”

*

Plötzlich Kuddelmuddel in der Luft. Zwei Vogelschwärme geraten aneinander, kurzfristiges Aufbrausen, denn genauso schnell wie es begonnen hat, wird die Kollision für beendet erklärt, und jeder fliegt wieder seines Luftraums.

Der Waldweg verläuft schnurgerade, ist eine Weile sogar mit Kopfstein gepflastert. Ein Biker kommt uns entgegen, mit Stirnlampe und Leuchtdioden an den Knöcheln. Fesch und sportiv rumpelt er übers Pflaster, und als wir auf gleicher Höhe sind und grüßen, stösst er nur ein klägliches “Moin..!” aus, wie ein defektes Hodenkehlchen.

“Schätze, sein Skrotum ist angegriffen von allerhand Überlandfahrten”, so die Gräfin.

Wir ziehen uns lieber in den wilden abseitigen Wuopperwald zurück. Eine Buche präsentiert längst vergangene Botschaften, eingeritzt in ihr Holz.

ONLY TO MY LADY-FRIEND.

Erstaunliche Daten: 23. 3. 1976. MARCH 1966. 22. 3. 1946. (!)

“..BELLA.. EYE OF MY..”

Manche Zeichen sind tief in die Baumrinde gesunken, lassen sich kaum noch entziffern, anderes wirkt wie gestern erst eingeritzt. Es ist diese plötzliche Präsenz, die verblüfft, die Wiederentdeckung eines Evergreens.

Selbst die Sonne sucht sich ein Loch in den Wolken und schaut uns zu.

MARCH 1946. HENRY U. BELLA. (Ich folge einem Pfeil zur anderen Seite des Stamms..) HENRY AND BELLA IN THE WOOS TONIGHT! Es wurde ein D vergessen im August 1946, IN THE WOODS TONIGHT. War es ein Soldat der Alliierten, der sich am bergischen Frollein (Bea) bediente?

“Hallooo.. ihr Zweiiiii!” hallt es durch die Wupperberge, eine erregte Walddurchsage der Gräfin, die bereits den Hang hoch ist. Ich blicke den Hund an, der Hund bellt mich an: nichts wie hinterher!

Feuerahorn raschelt unter unseren Füßen und Pfoten.

Der Herbst ist die einzige Jahreszeit, wo es im Wald brennt, aber niemand muss löschen, hatte sie am Morgen gemeint, als wir loszogen. Der Herbst ist der Feuerläufer.

Die Sache ist geritzt.

 

Frank Zappa

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In der kleinen Kippenpause stand ich mit diesem vorwitzigen kleinen Nerd unterm Regendach, dessen Augen hinter einer viel zu großen schwarzen Feldhockeybrille verschwanden. Man wusste nie genau, was er ausheckte oder warum sonst er so frech grinste, aber er war kein übler Bursche. Mitte Zwanzig und keine Ahnung, was man mit dem restlichen Leben anstellen soll, nachdem man die ersten Schritte samt und sonders in den Sand gesetzt hat - meine Güte, sonst noch was.

Wir unterhielten uns über Rock-Musik, unsere Vorlieben, unsere Abneigungen, und als die Sprache auf mein Alter kam, und er ein bisschen rechnete, machte er große Augen.

“Moment mal.. dann hast du ja.. hast du ja die Siebziger voll miterlebt..!”

Er konnte es kaum fassen, dass da jemand LEIBHAFTIG vor ihm stand, der Led Zeppelin, den Beginn der Punkbewegung und Wir Kinder vom Bahnhof Zooüberlebt hatte - auch wenn die ganze Ära längst nicht so schräg war wie viele der Youngster glaubten. Dieser ganze Retro-Look, der unseren Alltag in Mode, Design und Musik befeuert, wird von gewaltigen Interessen gelenkt und hat in erster Linie mit Bilanzrecht zu tun. Plateau-Schuhe etwa sah man in den Siebzigerjahren eher auf Rock-Konzerten. Es gab sie auch in der Fußgängerzone und auf dem Schulhof, sicher doch, aber sie waren nicht so verbreitet wie braune Halbschuhe, die gerade in einen Hundehaufen getreten hatten.

Das nächste Rock-Konzert war schon immer der natürliche Laufsteg für die hohen Treter, hier zeigte sich die In-Crowd, hier durfte der Hipster blockübergreifend auf riesigen Silberlingen auflaufen.

Jeder, der etwas auf sich hielt, arbeitete sorgsam auf das nächste große Konzert hin, auf den nächsten Gig von Lou Reed, Laurie Anderson, von Madness und Bob Marley. Und Zappa. Natürlich.

Frank Zappa and the Mothers.

 

*

 

So viele schillernd gekleidete Verrückte auf einem Haufen wie beim vom Meister persönlich abgebrochenen Konzert 1977 in der Kölner Sporthalle hab ich nie wieder irgendwo gesehen. Wo man auch hinschaute, Diven der Sonderklasse und Pan Taus mit Melone und tonnenweise Haarspray, überall Witz und Zügellosigkeit. Verkleidung als letzte Zuspitzung des Pop. Die Konzerte-Ereignisse der Siebzigerjahre waren der letzte Nachhall von Bill Haley 1958 in Berlin, als die rasende Zuschauermenge mit Knüppeln, Brettern und Stuhlbeinen bewaffnet den Sportpalast zerlegte.

"WOLLT IHR DEN TOTALEN ROCK'N ROLL!??"

Ja, das wollten sie, 1958. Und zwanzig Jahre später war das Kindchen zu bestaunen: Das Kölner Zappa-Konzert 1977 wurde abgebrochen, weil angeblich eine volle Bierflasche auf die Bühne flog. Wir standen weiter hinten im Zuschauerraum und bekamen nur einen kleinen Tumult zu sehen und dass die Band Hals über Kopf die Bühne verließ; wenig später ging das Hallenlicht an. Niemand wusste, was los war. Der Abend war zu Ende, bevor er richtig losgegangen war.

 

*

 

Trotz Patti Smith, Punk und Led Zeppelin, trotz der rollenden Basslinien der Disco-Ära und was es sonst noch alles so gab in den wilden 70ern, (Bowie, Glitter-Rock, Stadion-Rock, Bohemian Rapsody, frühe Dire Straits, Noddy Holder), die prägende Kraft dieses Jahrzehnts war Zappa.

Mit seiner strikt antibürgerlichen Haltung und dem Hass auf sein Amerika, das die Welt mit Plastik überspülte, war Zappa die alles überstrahlende revolutionäre Freiheitsstatue der Popmusik - überlebensgroß, geschmacklos, dekadent, wahrheitsliebend.

Als 1981 “Bobby Brown” erschien, sein einziger echter Single-Hit, war der ganz große Zappa-Kult längst Vergangenheit.

Vier Jahre zuvor marschierten wir Abend für Abend beim Rüttgers mit der krausen Matte ein, ein Haufen verkiffter ungewaschener Jünglinge, die nicht genug bekommen konnten von Haschischrauchen, Trips werfen und Zappa-Hören.

Rüttgers wohnte als erster in der eigenen Bude, nachdem ihn sein psychopathischer Vater in einer Nacht-und Nebelaktion, die wir alle miterleben durften, rausgeworfen hatte, die Treppe runter, paar Klamotten hinterher. LASS DICH NIE MEHR BLICKEN, ARSCHLOCH! DU MACHST DEINER MUTTER NUR KUMMER! (Gut, diesen Satz haben wir alle gehört. Wir haben ihn quasi mit der Vatermilch aufgesaugt. Aber hier war er gefallen wie ein Würfel in der Nacht, und er zeigte Folgen.)

In Meigen, keine hundert Meter von den Eltern entfernt, bezog Rüttgers eine kleine Genossenschaftswohnung, die sich schnell zur lokalen Zappa-Zentrale mauserte. Rüttgers im Tross auf die Bude rücken, wo aus allen Tüten, Pfeifen und Shilums gekifft wurde, was das Zeugs hielt, zählt zu den schönsten Erinnerungen an das legendäre Jahr 1977, als die RAF in Berlin Polit-Bonzen entführte, die wir nicht kannten, von denen wir nie gehört hatten, die uns schnuppe waren - in der bergischen Diaspora wurden keine Steine geschmissen. Bei uns hieß es:

RÜTTGERS, SCHMEISS ZAPPA UND DIE MÜTTER AUF DEN PLATTENTELLER!!! UND DANN MACH GEFÄLLIGST NOCH EINEN RUND, DU PENNER!!!

Wer jemals nächtelang gemeinsam gekifft und gegrölt und gesungen hat, vergisst es nie wieder, auf alle Ewigkeit bleibt ein rührendes Gefühl der Zuneigung zurück. Man kann nicht gemeinsam die Nächte durchmachen bis zum Sonnenaufgang, ohne bedingungslos und von Grund auf zu lieben. Und Jungs mit Sechzehn oder Siebzehn lieben bedingungslos und von Grund auf, besonders sich selbst, die Kumpel und ein gemeinsames Idol.

Der prägendste Zappa-Song befindet sich auf dem Live-Album Fillmore East, The Mothers, 1971. Do you like my new car? ist eher ein Theaterstück. Getrieben von einer lässigen kleinen Straßenmelodie liefern sich zwei Kerle mit schneidigen Bühnen-Stimmen ein Wortgefecht, eine Art Talking Blues. Wir saßen im Kreis auf dem Boden, flankiert von den großen Magnat-Boxen mit dem Bullen obendrauf und waren hin und weg.

Keine andere Rock-Nummer schaffte es unsere Phantasie so sehr anzuregen wie Do you like my new car? Ein Song, der in der Mitte von einem chaotischen Instrumental-Intermezzo zerschnibbelt wird, durch das Frank Zappa die Zuhörer zwingt, wie durch einen unwegsamen gefährlichen Tunnel, um uns schließlich geläutert und erfrischt zum Ur-Groove zurückzuführen.

Do you like my new car? ist eine großformatige Comic-Show, in der sich alles um ein neues futuristisches Auto namens Fillmore dreht. Eine Big City-Limousine, die durch Hollywood kurvt und alles aus dem Weg schafft, was nicht da hingehört.

Nach dem Hören von Fillmore East waren wir regelmäßig so erledigt, als hätte man uns einen Fight über 12 Runden abverlangt. Wir schleppten uns ausgepumpt über die Ziellinie und waren für den Rest der Session versaut für jegliche andere Musik.

Zappa war der rotzfreche Gockel aus der Raucherecke, der sich über alles lustig machte und bei dem die blassen Blödmänner aus der Bibelstunde ebenso ihr Fett abbekamen wie die Mädels, die sich Clerasil ins Gesicht klatschten, weil sie es nicht besser wussten, aber zu wissen glaubten. Die Physik-Heinis, die Sport-Heinis, die Heini-Heinis, Zappa hatte für jeden Heini ein treffendes As im Ärmel.

Mit der Zeile You can tell all the girls they can kiss my heini sprach er den schroffen Siebzigern mehr aus dem Herzen als alle Saturday Night Fevers, Nevermind the Bollocks und Grandmaster Flashs zusammen.

Zappa war düster und kompliziert, er war radikal, er war boshaft und wenn er Lust hatte, war er eingängig.

Er hasste Plastik.

Das körnige Schwarzweiß-Poster, das Seine Haarigkeit Frank Zappa nackt auf dem Scheißhaus sitzend zeigt, es klebte in den Siebziger Jahren WIRKLICH auf jedem vierten WC, inklusive Steuerbehörde, Davidswache und Puff in Barcelona. Olé! Rekordwert.

Bis heute.

Als ich im Fernsehen das erste Mal einen Film der Marx-Brothers sah, war ich irritiert. Dieser beknackte durchgedrehte Kerl mit dicker Zigarre, obszönem Ziegenbart und zynisch-frischen Dada-Grinsen, war das nicht Zappa..!?? Was zum Teufel hatte Zappa in einer Komödie aus den 40er Jahren zu suchen? Ja, wie alt war der denn..??? Fortan, und bis zum Ende aller Screwball-Komödien, blieben Frank Zappa und Groucho Marx für mich ein und dieselbe Person, eine Erkenntnis, auf die ich bis heute nichts kommen lasse.

Wobei es gesagt werden muss. Mit dem gemütlichen Ablachen früherer Zeiten haben die heutigen, auf Power getrimmten Marihuanasorten nur noch wenig gemein.

Obwohl.

Moment. Gemütlich ablachen?! WIR!? Dass ich nicht lache. War es nicht 1977, als wir beim Rüttgers mit der krausen Matte einen Afghanen rauchten, der direkt aus der finstersten Fabrik des Teufels zu kommen schien? Der einem die Augen von innen verschnürte, der einem Wurfsterne und Dreizack in den Leib trieb?

Und was war mit dem sagenhaften Pfund Sensemilla, im Schrebergarten von Benzinis Opa gezüchtet und geerntet und in zwei heißen Septembernächten verbraten, dass wir alle dachten, au weia, das wird nie wieder, da bleibt was zurück im Kopf, das kann ja nicht gutgehen? Und tatsächlich, es ging nicht gut. Es blieb was zurück. Es blieb eine ganze Menge zurück. Ich danke dem Herrgott für alles, was je zurückblieb in meinem Kopf.

Danke, o Herr!

Gelacht haben wir beim Rüttgers wie im Leben vermutlich nie wieder. In der kleinen Erdgeschossbude stank es wie im Ziegenstall, wenn zwölf Jungs abends das Rollo herunterließen und sich dicht gedrängt gegenseitig Kopfschüsse aus dampfenden Shilums verpassten bis zum finalen Lachkollaps, wobei Gastgeber Rüttgers den Einpeitscher gab. Er war die Nordkurve von Frank Zappa. Er kannte sämtliche Texte in-und auswendig, und wir folgten ihm ergeben. Noch heute wundere ich mich, wie selbstverständlich mir manche Text-Passage von Zappa in den Sinn kommt, plötzlich und ohne erkennbaren Anlass, einfach nur, weil ich irgendwo hergehe und etwas in mir wird animiert zu trällern:

WELL, I WAS BORN TO HAVE ADVENTURE

SO I FOLLOWED UP THE STEPS

Meine Pubertät war ein Feuerwerk. Selbst mein Haar explodierte. Es schoss in Tausendundeine Richtung, es franste aus, verkam zu einer Ansammlung gewaltbereiter weißer Nigger, Locken wie Ausschreitungen.

Rüttgers, ältestes von vier Geschwistern, kämmte sich das dichte Kraushaar zu einer Afro-Krone mit Seitenscheitel hoch, was ich in dieser Form nur noch ein einziges Mal gesehen hab, beim Sänger von Boney M, der gar kein Sänger war, wie sich später herausstellte. Rüttgers hingegen war ein echter Shouter, er war die begnadete europäische Autokino-Stimme von Frank Zappa, wenn der Maestro daheim in Nordamerika im Bett lag, Zigarren paffte und einschlief. Obwohl, Zappa schlief nie.

Rüttgers hatte ständig Trouble mit den Nachbarn, die nachts kein Auge zutaten, es muss die Hölle gewesen sein für die armen Anwohner. Gelächter, Geschepper und Gegröle, Klospülungen, Mütter, Gekiffe die ganze Nacht.

Und Banane-Martin.

Banane-Martin war der Knaller, immer auf der Suche nach Brösel und Pillen, ein Fall von schwerem Haschischaucher. Jeden Abend, als Showdown quasi, führten Banane-Martin und Rüttgers einen Einakter auf, im bekifften Kopf.

Es entstand aus einer simplen kleinen Situation heraus, doch mit der Zeit dickte die Sache an, wie ein Schneeball, der durch den Schnee rollt und mehr und mehr Masse ansetzt bis zuletzt ein riesiger Jux übrigbleibt und alle den Lachflash bekommen und sich bepissen vor Vergnügen - dabei war alles, was wir jeden Abend zu sehen bekamen, Bauerntheater.

Den Anfang machte Rüttgers. Zugedröhnt zog er sein Brotmesser aus der Besteckschublade und wackelte von hinten auf Banane-Martin zu, der am Kopfende des Tisches saß und schon wusste, was kommt: Er duckte sich weg mit seinem ungewaschen schlotternden langen Kifferhaar. Er wusste nur zu gut, was nun folgte, doch bekifft war Banane-Martin nicht in der Lage sich zu wehren, bekifft war er hilflos, er war ein greinendes Äffchen auf der Drehorgel, und je näher Rüttgers ihm auf den Pelz rückte, das lange Messer in der Hand, von hinten, desto ärger wimmerte Banane-Martin, bis er zuletzt mit den Nerven am Ende vom Stuhl rutschte und den großen hysterischen Kiffertod starb, während Rüttgers, der Ripper mit der krausen Boney M.-Matte, ungerührt weiter auf Banane-Martin einstach, pantomimisch, dabei More trouble every day schmetternd von Zappas grandiosem Live-Album Roxy and elsewhere, während wir anderen Jungs längst den Überblick verloren hatten und alles und jeden anfeuerten im Zimmertheater: Wir drehten komplett durch, jeden Abend, und jede Vorstellung war garantiert ausverkauft, 12mal Afghanisches Bauerntheater, 12mal Kinder, bitteschön. Dankeschön.

Bitteschön.

Überm Rüttgers wohnte Holbein, ein undurchschaubarer bleicher Bursche, der versuchte LSD in Heimarbeit herzustellen.

Sein Gesicht war aschfahl bis auf die Bäckchen, die glühten fast wie auf dem Etikett von Rotkäppchen, dem Vitamintrunk, der in den Sechzigern in keinem Kinderzimmer fehlen durfte. Und nun saßen wir beim Rüttgers und genossen das Privileg, Rotbäckchen leibhaftig und bekifft unter uns zu haben, so bekifft mitunter, dass wir es mitten in der Nacht die Treppe hoch tragen mussten.

Kiffen war eigentlich nicht sein Ding. Holbein hatte, bevor er an uns geriet, keinerlei Kontakt zur Szene gehabt. Und auch an uns war er nur zufällig gekommen, er wohnte in dem Haus, in dem Rüttgers einzog. Holbein studierte Chemie in Bonn, aber man sah ihn selten zu Vorlesungen fahren, er blieb meist daheim. Wir wussten nicht, was er da oben trieb in seiner Dachwohnung, er erzählte kaum etwas. Außer dass es sich um Experimente handelte. Auch von Rüttgers, der sich doch sonst so leutselig gab, erfuhren wir in dieser Hinsicht wenig. Einmal hörten wir ihn im Treppenhaus lauthals schimpfen, DU JAGST UNS NOCH ALLE IN DIE LUFT!, worauf der bleichgesichtige Holbein seinen glänzenden Gestapo-Mantel zuknöpfte, den Gürtel festzurrte und beleidigt davonwatzte.

Dass es bei den Experimenten um LSD ging, erfuhren wir erst viel später. Holbein hatte sich auf dem Speicher eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, weil Derivate unter Lichteinwirkung verfielen, wie er mir und Pepe in einer vertraulichen Stunde anvertraute. Holbein, sonst so gehemmt, blühte richtig auf, als er von Massenformeln und Molekülen und Problemen bei der Vakuum-Herstellung sprach, und Karlos und ich glotzten ihn an wie einen Alien, wir kapierten nicht ein einziges Wort.

Holbein war eine Art LSD-Soldat, eine seltene Pflanze mit bleichem Fruchtstand. Weil er trotz mühsamer Recherche nicht an Mutterkorn herankam, unerlässlich für die Herstellung von LSD, versuchte er an eine Alternative zu gelangen, an den Samen einer Pflanze namens Morning Glory. Das klappte aber nicht. Es gab zwar Schieber, die mit LSD dealten, aber von Einzelheiten bei der Herstellung hatte niemand auch nur eine blasse Ahnung, geschweige denn hatte je einer von Morning Glory gehört.

Niemand, bis auf Betty aus Remscheid. Ausgerechnet Betty aus Remscheid, die auf Partys unbeteiligt in der Ecke zu stehen pflegte, mit Möpsen flach wie Harry-Brot. Betty meinte, Morning Glory kenn ich, logo, ist ne Teesorte, kann ich euch klarmachen, ist ein Früchtetee, wieviel braucht ihr? einen Karton? Doch als wir Holbein davon erzählten, fing er vor Wut an zu schnauben und zu zittern und stieß nur gepresst hervor, muss ich das LSD dann fünf Minuten ziehen lassen, oder was!?

Ich weiß nicht, was aus Holbein geworden ist, das Haus, in dem er und Rüttgers und ein Riesenhaufen Zappa-Platten wohnten, wurde schon 1978 abgerissen. Holbein verschwand irgendwo auf der Rheinschiene und wurde nie wieder gesehen, Rüttgers zog in die Nordstadt. Auch da trafen wir uns noch ab und zu zum Zappa-Hören, all die Cracks, Pepe, der alte Benzini, die Hansen-Brüder, Banane-Martin und Karlos und der Mitsubishi Boy und die beiden jüngeren Brüder von Rüttgers, doch es war nicht mehr das gleiche. Es war anders geworden. Die Achtziger Jahre brachen an.

Bobby Brown war fällig.

Die Daphne P. Story

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Neun Uhr früh in der Bibliothek des Instituts. Ich nahm gerade am Rechner Platz, um das nächste Buch in die Datenbank einzuschleusen, Grundlagentexte zum Design, Band 10, als das Telefon klingelte. Auf dem Display erschien meine eigene Nummer. Die von zu Hause.

Unsere Nummer.

"Na my darling", sagte ich gut gelaunt. Im Solinger Singsang. Ich wusste ja, wer dran ist, und es war Freitag. Das Wochenende bog um die Ecke, ich sah schon die Schuhspitzen. Nicht gerade Dancing Shoes, dafür gemütliche Sneakers. Abhängerchen. Muss ja auch mal sein.

Die Gräfin hatte andere Sorgen.

"Ich kann nicht bis heute Mittag warten", raunte sie mit schwerer schwarzer Stimme.

"Wie, nicht bis heute Mittag? Was meinst du..?"

"Na, bis du zu Hause bist."

Ach du Schande. Was war passiert? War jemand tot?

"Wer ist Daphne Peters?" zischte sie scharf.

"Wer?"

"Daphne Peters. Tu doch nicht so."

"Wie ..? Ich kenn keine Daphne.. Peters."

"Aha. Und wieso ist dann ihre Telefonnummer bei uns gespeichert bitte schön?"

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. "Welche Nummer soll bei uns gespeichert sein..?"

"Na, ihre Nummer. Daphnes Nummer. 116630."

"Wer soll das sein? Ich kenn die Nummer nicht!"

"Ah ja? Natürlich kennt der Herr die Nummer nicht. Aber wer soll sie dann gewählt haben..!? Der Heilige Geist vielleicht?"

Der Heilige Geist! Das bedeutete nichts gutes. Den Heiligen Geist hatten schon meine Mutter und meine italienische Oma ständig bemüht, wenn ich als Pico etwas ausgefressen hatte, es aber nicht zugeben konnte, ohne Fleschkönigs in die Scheiße zu reiten. Er war schliesslich auf die Idee gekommen, Doornkaat in den Goldfischteich des Getränkehandels zu kippen. Und weil ich meinen Freund aus der Nachbarschaft nicht verraten wollte, mutmaßten Mutter und Oma, ich hätte das Ding gemeinsam mit dem Heiligen Geist durchgezogen. Diesem Blödmann. Wer war das überhaupt? Und wieso trauten sie mir so viel kriminelle Energie nicht allein zu??

"Keine Ahnung, wie die komische Nummer in unser Telefon kommt, wer die gewählt hat..", sagte ich trotzig. "Vielleicht war es ja der Heilige Geist. Ich jedenfalls nicht. Ich kenn die Nummer nicht. Nie gehört."

"So so. Und wie kommt sie dann in unseren Speicher? 116630 ist die letzte Nummer, die gespeichert ist. Jemand muss sie gewählt haben."

Wenn ich irgendetwas hasse, dann Mißtrauen. Erst recht, wenn es grundlos ist, aus der Luft gegriffen. Wenn es auf einer fixen Idee, auf einen bloßen Verdacht beruht. Auf Wahnvorstellungen. Gerüchten. Dem eigenen schlechten Gewissen. Und, mal im ernst - Daphne Peters, was ist das denn für ein Name? Wie aus einem Rosamunde Pilcher-Roman. Mit Almabtrieb in Cornwall. Ich bitte Euch.

"Wer zum Henker soll das denn sein, Daphne Peters??!" kläffte ich.

"Schrei mich nicht an. Ich kann nichts dafür. Die Nummer hat sich schliesslich nicht von allein gespeichert."

So machte das keinen Sinn. Ich schaltete einen Gang zurück.

"Okay. Wie war die Nummer ? Sag noch mal."

Sie wiederholte die Zahlenfolge, betont langsam. Aufreizend langsam.

"Elf.. sechs-und-sech-zig.. dreis-sig.."

"ICH KENN DIESE SCHEISS NUMMER NICHT!" schrie ich genervt. "UND ICH KENN AUCH KEINE VERFLUCHTE DAPHNE.. DINGENS!"

"Peters."

"PETERS!"

Wenn sie mir jetzt noch mit "Wer schreit, hat Unrecht!" kam, hatte ich endgültig meine versammelte Familie am Apparat, mit all ihrem Gebell. Mutter, italienische Oma, der Heilige Geist. Der hatte seine Finger grundsätzlich im Spiel, wenn ich die Scheiße am dampfen hatte, egal wann, egal wo.

"Ich hab die Nummer eben gewählt", sagte die Gräfin mit leiser Stimme.

"Du hast was?"

"Ich hab die Nummer angerufen. 116630." Sie gab sich gefasst. Sie wollte keinen Streit. Sie wollte wissen, was los ist. Was ich da am laufen hatte.

"Da war aber nur die Mail Box an, hier spricht die bla bla Maschine von Daphne Peters. Eine ziemlich träge Stimme. Etwa unser Alter. Also, erzähl. Schieß los. Ich bin bereit."

"ES GIBT NICHTS ZU ERZÄHLEN!"

Das Fenster zum Hof stand offen, ich sah den Geschäftsführer vorfahren, in seinem kanariengelben Mercedes. Das hatte noch gefehlt. Wenn der jetzt hier auch noch aufmarschierte und den Lauten machte..

Eins aber war seltsam. Je öfter die Gräfin die Telefonnummer erwähnte, desto diffuser klingelte es in mir. Da war etwas an der Nummer, das kam mir bekannt vor. Aber das konnte ich schlecht in den Ring werfen, nicht in diesem Stadium grundloser Eifersucht. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Zumal ich auch keinen Schimmer hatte, was es mit der Nummer auf sich hatte, wo ich sie hintun sollte.

"Du hast doch gestern Abend noch telefoniert, als ich im Bett lag", unternahm ich den nächsten Anlauf. "Du warst die letzte am Apparat, spätabends, nicht ich. Die Nummer, die du gewählt hast, muss also gespeichert sein."

"Ich hab nicht telefoniert, ich hab nur den AB abgehört. Einen Anruf  von Carl. Und da war noch keine Nummer von Daphne Peters von der Zeppelinstrasse gespeichert."

"Wieso.. Zeppelinstrasse?"

"Ich hab im Telefonbuch nachgeschaut. Peters, Daphne, Zeppelinstrasse."

"Aha. Und wo soll die bittesehr sein, deine Zeppelinstrasse!?"

Ich beobachtete, wie der Geschäftsführer das Handy vom Beifahrersitz nahm und ausstieg. Ich winkte ihm zu, aber er sah mich nicht. Er war das, was er am liebsten war: busy. Er telefonierte. Er hatte drei Wochen Urlaub gehabt. Er war braun gebrannt, der alte Business-Sack. Er war Segeln gewesen.

"Weiß nicht", sagte sie. "Zeppelinstrasse hab ich nicht gefunden im Stadtplan."

"Im.. Stadtplan!!? Du hast sogar im verdammten Stadtplan gesucht?!" Ich war baff. "Was ist denn mit dir los?"

"Na, ich will schließlich wissen, wo deine kleine Nutten wohnen", sagte sie bedrückt.

Allmählich wurde ich selber mißtrauisch. Telefonierte ich jetzt schon mit irgendwelchen Flittchen, ohne mich am nächsten Tag daran zu erinnern?

"Du hast also zuletzt den Anruf von Carl abgehört, richtig?"

"Ja."

"Wann genau?"

"Hm.. gegen elf. Aber was.."

"Und danach?"

"Wie, danach?"

"Na, war danach noch was?"

"Nee. Danach war nichts mehr."

"Gut. Und heut Morgen sind wir zur gleichen Zeit aufgestanden. Wann also bitteschön soll ich deiner Meinung nach meine kleine Nutte Daphne Peters angerufen haben? Mitten in der Nacht?! Halb vier vielleicht? Halb fünf?"

"Siehst du - jetzt sagst du es schon selbst."

"Was sag ich schon selbst?!"

"Meine kleine Nutte Daphne Peters..", schluchzte sie.

"Das hab ich doch nur so.. dahin gesagt! Ach, Scheiße!"

Es knisterte in der Leitung. Immer, wenn sie nervös und aufgebracht war beim Telefonieren, knibbelte sie an der Schnur. Es brutzelte wie hundert Brötchentüten.

Und endlich ging mir ein Licht auf.

"Moment.. 1166 - was? 30?! 16630 ist doch.. unsere PIN-Zahl.. Die muss man eingeben, um die Mailbox abzuhören. Und die 1 davor steht für das Sternchen, das man vor der Geheimzahl wählen muss.. Elf 66 30! Das ist unsere eigene PIN!"

Ich schlug so vehement und jäh auf die Schreibtischplatte, dass das Telefon einen Sprung machte. Der Chef blieb im Hof stehen und starrte den Tauben hinterher, die verängstigt davonflatterten. Er sah mich am Schreibtisch der Bibliothek sitzen und winkte. Ich winkte zurück.

"Die PIN.. ich werd verrückt", stöhnte die Gräfin, "na klar, du hast recht. Scheiße, bin ich blöd.."

Sie war gleichzeitig froh und ein bißchen beschämt.

"Ich.. hab soviel Stress in letzter Zeit. Puh.. Ich seh schon Gespenster."

"Ja ja", sagte ich, "schon gut."

Aber ganz so einfach sollte sie mir nicht davonkommen.

"Weißt du was? Die ruf ich jetzt mal an."

"Wen..?"

"Na, Daphne Peters. Die gibt's doch wirklich, oder?"

"Ja klar. Die hat dieselbe Nummer wie unsere PIN.. mit ner 1 davor."

"Na also. Der Tante werd ich gehörig Dampf machen. Da sind ein paar klärende Worte nötig, was die bei uns im Display zu suchen hat, die kleine Nutte!"

"Untersteh dich", keuchte die Gräfin.

"Oder ich schreib darüber eine kleine Geschichte."

"Untersteh dich doppelt!"


 *29. Mai 93, PfingstsamstagEs i

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foto.luegner

*

29. Mai 93, Pfingstsamstag

Es ist so heiss und stickig, ich kriege tagsüber kaum ein Auge zu. Wenn ich früh um halb acht vom Nachtdienst heimkehre und mich aufs Ohr haue, um mich den vorläufigen Jagdgründen zu widmen, bin ich keine zwei Stunden später wieder wach und starre zur Decke. Ich gerate nicht mal in die Nähe der Jagdgründe.

Mittags klopft es ans Fenster, laut und fordernd. So klopft nur mein Bruder. Er steht quasi mit den Fingern schon im Bett und zerrt an mir.

"Aufmachen! Am Bärenloch hat es heut Nacht gebrannt", ruft er aus dem Vorgarten. "Es gibt vier oder fünf Tote.. alles Türken."

Ich öffne das Fenster. Die grelle Mittagssonne beisst in den Augen. Ich kapiere nicht.

"Was..? Wo?"

"Schalt das Radio ein. Alles ist in Bewegung, die ganze Stadt vibriert.. Los, mach hin..!"

Während ich mich anziehe, erzählt er, was er gehört hat. Viel ist es nicht. Eigentlich nur, was auch das Radio bringt. Ein Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus am Bärenloch. Mehrere Menschen verletzt, fünf Tote. Es wird nach jungen Neonazis gefahndet.

Beim Zubinden der Schuhe fällt mir etwas ein. Mitten in der Nacht, als ich im Hotel vorm Fernseher saß und eine alte Kojak-Folge schaute, waren plötzlich Sirenen zu hören, ein endloser Mahlstrom aus Polizei, Feuerwehr und Rettungswagen. Da war richtig Alarm, nachts um zwei. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Feuerwehr und Notarzt bei Vollmond und an langen Wochenenden im Dauereinsatz sind. Die Leute sind besoffen und hauen sich gegenseitig aufs Maul, oder sie legen sich von ganz allein flach und bluten aus der Nase, also bin ich im Büro sitzen geblieben und hab weiter ferngesehen, Lieutenant Theo Kojak, "entzückend, Baby..!" Ich hatte ja keine Ahnung.

Im Park laufen uns die Gräfin und Nachbarin Daisy in die Arme, bepackt mit Tragetaschen und Plastiktüten.

"Schau an, die Herrschaften", stöhnt die Gräfin genervt, "könnt ihr gleich mal anfassen und.."

"Am Bärenloch hat's gebrannt", unterbreche ich sie und nehme ihr einen Teil der Einkäufe ab. "Es soll fünf Tote gegeben haben."

"Fünf.. was? Tote..? Bei uns??!"

"Fünf Türken", sagt mein Bruder, fast schon missmutig.

"Wir haben auch was gehört oben im Laden, aber da war nur von Brandstiftung die Rede", meint Daisy blass.

"Das waren die Nazis", ist die Gräfin sich sicher.

Wir bringen die Einkäufe rein und machen uns auf die Socken Richtung Nordstadt.

"Ausgerechnet am Bärenloch", sagt mein Bruder.

Am Bärenloch ist unser Vater aufgewachsen, und wir Kinder sind mit seinen Erzählungen groß geworden. Was er vom Bärenloch erzählte, einer ehemaligen Wildnis voller Brombeerbüsche und Baumbuden, klang in unseren Ohren wie Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Es hatte einen fernen dunklen Zauber und war von einer zügellosen Zärtlichkeit durchdrungen, aber immer auch ein bisschen gefährlich. Vaters Kindheit trug schon früh die Armbinde der Hitlerjugend, er war noch klein, als die Nazis die Macht egriffen. Dennoch war das Bärenloch für mich stets gleichbedeutend mit Romantik, und nicht mit Hass und brennenden Häusern.

Wir begegnen Leuten, die von einer ersten spontanen Demonstration aufgebrachter Türken am Schlagbaum berichten, von einer Sitzblockade. Wir ziehen die steile Schlachthofstraße hinauf. Ein großes düsteres Gemurmel liegt über der Nordstadt, das je bedrohlicher wird, je näher wir dem Bärenloch kommen. Wir sind träge und verschwitzt. Die hohe Luftfeuchtigkeit ist wie Schweinebauch, der beständig auf den Grill tropft. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Fünf tote Menschen, mitten unter uns, und die Anschläge von Mölln und Rostock liegen nicht weit zurück.

"Die Nordstadt ist ein einziges Wespennest", sagt mein Bruder, "so fest, wie die in türkischer Hand ist. Wenn das wirklich Brandstiftung war und die Täter Neonazis, dann geht hier die Post ab."

"Stimmt", meint auch die Gräfin. "Hier wohnt ein Haufen Grauer Wölfe. Die lauern nur auf so eine Gelegenhei, es den Deutschen zu zeigen. Jede Wette, die sitzen schon im Hinterzimmer der Moschee und basteln die Mollis."

Sie war eine Weile mit einem in Deutschland geborenen Alleviten zusammen, der Probleme mit den Grauen Wölfen hatte. Sie kennt sich in einer Szene aus, die uns Deutschen normalerweise verschlossen bleibt.

"Für die Grauen Wölfe sind tote Türken ein gefundenes Fressen. Da können sie den Deutschen endlich aufs Maul hauen, darauf haben die nur gewartet. Das sind Faschos. Die hassen Deutschland, die hassen unsere ganze Demokratie. Die sind nur hier, weil sie in der Türkei gesucht werden."

"Das sind doch nicht alles Graue Wölfe", wendet Daisy ein, bleich und außer Puste.

"Natürlich nicht. Aber die heizen die Stimmung an. Wenn es hier in Solingen knallt, dann richtig."

Am Schlagbaum biegen wir in die Kuller Strasse ein, von da aus ist es ein Katzensprung bis zum Bärenloch, das mittlerweile ein großzügig angelegter Park ist. Von überall strömen Menschen zum Tatort Untere Wernerstrasse, Hubschrauber knattern über unseren Köpfen.

Das abgefackelte rußige Fachwerkhaus taucht unvermittelt auf, am Rande des Bärenlochs. Wie ein  Gespenst reckt sich die Ruine in den Himmel, ein Gespenst inmitten all der benachbarten Häuser, die nichts abbekommen haben, die so intakt und adrett dastehen, als könnten sie selbst nicht glauben, was in ihrer Mitte geschehen ist. In ihrer Mitte, in unserem Namen.

Die Sicht auf die Ruine wird von aberhundert Menschen versperrt, nur der Dachstuhl ist aus jeder Position gut zu erkennen, ein Gerippe aus verkohlten Balken. In den oberen Fensterkreuzen wehen frische Blumensträuße, darüber der türkische Halbmond. Es stinkt verbrannt, nach Kohlen, Briketts. Ein Geruch, der mich an die Kindheit erinnert, wenn nach einem langen Sommer die Kohleöfen in Gang gebracht wurden und schwarzer Rauch aus den Schornsteinen stieg.

Überall bekannte Gesichter. Man nickt sich betreten zu. Ausgerechnet Solingen, wa? Ausgerechnet Solingen. Ja. Ekki, mein immer cooler früherer Fußball-Trainer, kommt auf mich zu und umarmt mich, ohne ein Wort zu sagen. Er hat Tränen in den Augen. Jetzt bin ich tatsächlich fassungslos. Wenn sogar Ekki weint.. Ich fühle mich merkwürdig hartherzig, weil ich keine Tränen spüre. Doch wie kann ich weinen, wenn ich nicht verstehe. Ich kapiere nicht, was los ist. Wieso.. hier bei uns?

Ein Bundesgrenzschutz-Hubschrauber donnert so niedrig über die Minute für Minute anwachsende Menge hinweg, dass die Menschen sich unwillkürlich wegducken und so klein wie möglich machen, bis der Helikopter wieder abdreht und überm weitläufigen Bärenloch zur Landung ansetzt.

"Da sitzt der Seiters drin!"

Der Ruf aus der gereizten Menge klingt fast, als käme der Teufel persönlich, um nachzuschauen, ob die bestellte Arbeit auch abgeliefert wurde. Im Hintergrund ertönt ein Wehklagen, ein vereinzelter arabischer Singsang, eine Litanei, die sich nicht lokalisieren läßt. Mein Bruder zeigt mir seinen Arm: Gänsehaut.

Wir drängeln uns durch bis zum Haus, kommen endlich zum Stehen vor einer Absperrung. Niemand sagt etwas. Ab sofort wird dieses Stück Erde geweiht sein, prophezeie ich. Das wird ein Wallfahrtsort. Auf dem Grundstück sind Wäscheleinen gespannt, an denen noch Kleider und Kinderunterhosen hängen, weiße Hemden, ein Stofftier, ein Strampelanzug. Jemand hat ein Hakenkreuz in den Sand gezogen, mit den Schuhen. Es ist spiegelverkehrt.

Die Toten, hört man, sind zwei kleine Kinder und drei Frauen einer türkischen Großfamilie. Die Feuerwehr sei zu spät eingetroffen und habe wegen der vielen parkenden Autos an der Unteren Wernerstrasse Schwierigkeiten gehabt, die Drehleiter auszufahren. So sei wertvolle Zeit verstrichen. Ein Kleinkind soll aus dem zweiten Stock aufs Pflaster geknallt sein, weil es das Sprungtuch verfehlt habe. Es heisst, die junge Mutter habe oben im brennenden Fenster gestanden und das Kind in Panik fallen gelassen. Ein weiterer junger Türke liegt angeblich im Koma, die Haut zu zwei Dritteln verbrannt.

Die Gräfin macht mich auf beschriftete Einmachgläser aufmerksam, neben dem von rot-weissen Absperrbändern gesicherten Hauseingang. Die Gläser stehen auf einem kleinen Betonsockel. Teppich-Probe Eingangsbereich, entziffert sie eins der Etiketten. Probe Fußmatte. Labor.

"Das Haus hat gebrannt wie eine Fackel", spricht ein Anwohner in ein orangefarbenes ZDF-Mikrofon. Er ist umringt von Presseleuten mit Notizbüchern und Diktiergeräten. "Die Schreie haben mich geweckt. Wann das war? Das war gegen.. na, halb zwei. Eine Frau hat ein kleines Kind im Arm gehalten und stand im brennenden Fenster.. ja.. ein kleines Kind. Dann ist sie gesprungen. Da vorn schlug sie auf, auf dem Beton.. ja.. da vorn.."

"..ja.. da war die Feuerwehr schon da, aber die haben.. nein, so schnell nicht.."

".. so schnell konnten sie das Sprungtuch nicht aufspannen.."

Innenminister Seiters taucht auf, mit Gefolge. Er wird mit schrillem Pfeifkonzert und Buhrufen empfangen. "Who the fuck is Seiters?" spottet mein Bruder. "Kohl müsste hier sein. Aber der taucht ja ab, wenn's brenzlig wird."

Als die Pfiffe abgeklungen sind, stellt sich der Minister der Presse. Er spricht von einer Schande für Deutschland und der ganzen Härte des Gesetzes, die die Täter zu spüren bekommen würden. Tatsächlich wurden in der Nacht Skinheads beobachtet. Mal sind es drei, mal nur einer, mal eine ganze Gang. Doch wie viele es auch immer es waren, in jeder Version, in jeder Zeugenaussage flüchten die Täter Hals über Kopf in Richtung Bärenloch, sobald das Feuer ausgebrochen ist. Als wären sie selbst überrascht gewesen, wie lichterloh so ein Haus brennt, wenn man es anzündet.

Die Rede ist von vier stadtteilbekannten Skins. Einer soll gerade mal sechzehn sein und hier auf der Unteren Wernerstrasse wohnen,  im Nachbarhaus.

"Vier Skinheads? So viele Skinheads gibt's hier doch gar nicht", sag ich.

"Was..? In ganz Solingen keine vier Skinheads?" zieht mein Bruder die Augenbrauen hoch. "Hast du das Zählen verlernt?"

"Quatsch. Ich mein nur, hier gibt's keine echte rechte Szene."

"Aha.. Nur weil man kaum Kids in Springerstiefeln durch die Gegend rennen sieht, SS-Runen auf den rasierten Schädel?!"

Ich geb mich geschlagen. Immer mehr Auswärtige fluten die Gegend rund ums Bärenloch, hauptsächlich Türken und andere Südländer, zornige junge Männer, die eine Arena betreten. Ihre Arena. Sie kommen von überall her, die Autokennzeichen verraten es. Bochum, Duisburg, Dortmund. Der ganze Westen ist verteten. Aufruhr liegt in der Luft.

"Ich krieg es mit der Angst", meint die Gräfin. "Die Jungs haben in der Höhle des Löwen gezündelt. Die können froh sein, wenn sie mit dem Leben davonkommen. Die werden gelyncht, wenn die Türken sie in die Finger kriegen."

Sie will nach Hause. Sie mag keine Gewalt, erst recht keine, die in der Luft liegt und der man noch entrinnen kann. Daisy und die Gräfin nehmen ein Taxi, während mein Bruder und ich am Bärenloch bleiben.

"Passt auf euch auf."

Die Sorge ist nicht unberechtigt. Noch am Abend knallt es zum ersten Mal. Ich gerate in eine Situation, wo mich ein aus dem Nichts heranfliegender Stein nur um Haaresbreite verfehlt. Als ich mich umdrehe, im Laufen, beobachte ich einen Heckenschützen im dunklen Hauseingang, der mit einer Zwille auf mich zielt. Ich weiss bis heute nicht, was das sollte. Wieso ich das Ziel sein sollte.

Doch eins liegt bereits auf der Hand, wo der Anschlag gerade mal zwölf Stunden alt ist: Solingen ist kein Kaff wie das niedersächsische Mölln, wo Neonazis ebenfalls ein von Türken bewohntes Haus ansteckten, und Solingen ist auch nicht Rostock-Lichtenhagen, wo vietnamesische Asylbewerber auf der Flucht vor dem Mob fast gesteinigt wurden, wo es ansonsten aber so gut wie keine Ausländer gibt, die nach Vergeltung gieren.

Solingen ist anders.

Zusammen mit dem angrenzenden Ruhrgebiet und dem Köln-Düsseldorfer Raum ist die Stadt ein Schmelztiegel mit Hunderttausenden von Türken, die einen Mordanschlag auf ihre Landsleute nicht einfach hinnehmen, die Gerechtigkeit fordern, die Rache schwören, die Steine aus dem Pflaster reissen und Lynchjustiz suchen.

Der Gedanke ist kaum da, schon beginnt an der sechsspurigen Verkehrskreuzung am Schlagbaum die erste Sitzblockade. Erst sind es bloß ein paar versprengte Gestalten, die sich auf dem glühenden Asphalt niederlassen, schnell sind es Hunderte, trotz der beissenden Hitze. Autoreifen werden wie aus dem Nichts herangerollt, übereinander getürmt und angezündet, Matratzen aus dem nahen Bettenmarkt in Brand gesteckt.

Der Schlagbaum lodert am hellichten Tag. Es ist ein hasserfülltes und nach Gummi stinkendes, mächtiges Spekatakel, ein weithin sichtbares Lagerfeuer.

Zwei Spuren Richtung Innenstadt werden von Demonstranten auf eigene Faust abgesperrt. Richtung Südstadt geht gar nichts mehr. Polizei läßt sich nicht blicken, nicht ein einziger Streifenwagen ist zu sehen. Die wenigen Autos, die nicht in der Schlange stehen und abwarten, kurven vorsichtig um die Blockierer herum, in Schrittgeschwindigkeit. Niemand murrt, es gibt kein Gehupe, ziviler Gehorsam überall, schon im eigenen Interesse. Alle ahnen, dass nur ein einziger winziger Funke fehlt, und die nächste Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Am späten Nachmittag, ein bisschen Polizei ist dann doch aufmarschiert, beruhigt sich die Lage, und die Solinger Lokalpresse lässt kostenlos ein Extra-Blatt verteilen:

 

MIT KIND IM ARM IN DEN TOD GESTÜRZT

Ein spontaner Trauermarsch bewegt sich zum Bärenloch, flankiert von Kolonnen türkischer Taxifahrer aus Duisburg und Bochum, die stolz und aufsässig zugleich Einzug gehalten haben. Zum Schluss sind es über zehntausend Bürger, die schweigend Richtung Tatort marschieren. Noch nie habe ich in den Straßen der Stadt auch nur annähernd so viele Menschen gesehen. Es ist, als habe erst die Tat dafür gesorgt, dass eine Stadt plötzlich ihre Stimme findet. Auch wenn es vermutlich nur der Schock ist, der die Leute auf die Strasse treibt, die pure Ohnmacht. Immerhin, die Stadt zeigt Gesicht.

Sprechchöre flammen auf in türkischer Sprache, ebben ab, fluten wieder an, wütend, scheitern. Niemand weiß, wohin mit seinem Zorn und seiner Trauer. Ein bisschen die Strasse rauf und runter spazieren, soll es das gewesen sein? Die Atmosphäre ist seltsam heiß und morbide, und hat doch etwas zartes.

Dass es ausgerechnet am Bärenloch passiert ist, wo mein Vater in den 30er Jahren aufwuchs, zu einer Zeit, als das Bärenloch ginster- und brombeerüberwucherte Wildnis und grosse Freiheit war, macht sowohl mich als auch meinen Bruder ratlos. Wir können es nicht einordnen. Das Bärenloch ist von den unzähligen Geschichten unseres Vaters geprägt, es ist das verlorene Paradies seiner Kindheit, und damit auch unseres, auf immer und ewig.

Und jetzt das hier.

*

30. Mai '93, Pfingstsonntag

Der Generalbundesanwalt erlässt am Nachmittag Haftbefehl gegen einen 16jährigen Hauptschüler aus Solingen. Nach drei weiteren Komplizen wird gesucht. Sie haben aus Frust gezündelt, heißt es, weil sie zuvor auf einer Party, die in einem Schrebergarten stattfand, Hausverbot erhalten hatten.

Unter den Tätern ist ein Arztsohn, dessen Vater ich zufällig kenne. Wir haben 1980 gemeinsam Fußball gespielt in der Auswahl des Städtischen Klinikums, wo ich Zivildienst machte. Ein Liberaler, ein Linker, der sich für Ärzte gegen den Atomkrieg engagierte und auf dem Sportplatz vor Einsatzfreude nur so sprühte, der immer gute Laune hatte. Wieso fackelt sein 15jähriger Sohn das Haus einer türkischen Familie ab, als wäre es lästiger Abfall? Und was kann er als Vater dafür?

Wieso erwähne ich überhaupt, dass der Sohn Arztsohn ist?

Am Abend beginnt für mich die letzte von sieben Nachtdiensten. Das Hotel ist komplett ausgebucht. Pausenlos klingelt das Telefon, Leute aus aller Welt fragen an, ob Zimmer frei sind. Mein Chef macht das Geschäft der Saison. Die Preise ziehen an.

"Sagen Sie, Herr Glumm, können Sie noch eine Besenkammer von zu Hause mitbringen?" strahlt der Chef. "Oder ein Schuhschränkchen, das können wir dann auch noch als Zimmer verkaufen, für einen Tausender die Nacht."

Hat der gute Laune. Kein Wunder, alle wichtigen Fernsehsender haben Reporter und Kamerateams vor Ort, selbst aus Frankreich und England reisen Medienleute an, Radioleute aus Russland übernachten im Auto. Auch der Los Angeles Post muss der Chef per Telefon absagen: Sorry, sorry! We're so sorry, no room, Sir, no! No Room!!

NO!

Absurde Situationen an der Rezeption. Der Nachrichtensender n-tv wiederholt just in dem Moment seine Schalte zum Bärenloch, als derselbe Reporter, der angeblich gerade LIVE vor der Brandruine zu sehen ist, vor der Rezeption auftaucht und lauthals seinen Zimmerschlüssel verlangt. Als gleichzeitig seine Stimme aus dem Fernsehapparat hinter mir plärrt, so sonor, so souverän, so verdammt LIVE, muss ich lauthals auflachen, es platzt regelrecht aus mir heraus, so absurd ist das ganze, doch der Anchorman aus der zweiten Reihe verzieht nicht mal die Miene, als er an den Tresen tritt.

Bis spät in die Nacht läuten Telefone, laufen Fax-Nachrichten ein, hocken Techniker des WDR im Frühstücksraum und nehmen ein letztes und ein allerletztes Bier. Der Tresen ist zugeparkt mit Journalisten, die in die Redaktionen telefonieren. Die ganze Welt will wissen, warum Neonazis ausgerechnet in Solingen zugeschlagen haben, diesem kreuzbraven Nest.

Eine wichtigtuerische ZDF-Fresse, die ich aus den Nachrichten kenne, schleppt einen ganzen Hofstaat mit sich herum und fragt den Nachtportier, mich, ob ich als Solinger Kontakt zu Neonazis habe. Ob ich schnell was klarmachen könne, ein Gespräch, quasi auf die Faust, doch ich guck woanders hin. Neben ihm rattert ein Journalist routiniert seinen Text per Telefon durch, ich höre:

In der Feuerwehrleitstelle laufen in der Brandnacht 37 Anrufe von Anwohner ein.  Einer davon, Originalton,

Unser Türkenhaus brennt!

Nur allmählich kehrt Ruhe ein im Hotel. Ich setze mich hinten ins Büro, will eine Kippe rauchen, etwas relaxen, da läutet das Telefon. Diesmal ist es für mich, die Gräfin. Sie ist für zwei, drei Tage nach Soest geflüchtet, wo ihre Lieblings-Oma im Krankenhaus liegt, immer noch, es ist das Herz. Sie liegt im Sterben.

"Oma Soest schläft viel", erzählt sie, und wie immer, wenn die Gräfin weg ist, und sei es nur für wenige Tage, bin ich froh, ihre Stimme zu hören. Ihre Stimme ist mein Abklingbecken. "Wenn Oma Soest wach wird, ist sie ganz verwirrt. Sie zupft an der Bettdecke wie ein kleines Mädchen und summt Hope hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er."

Ich muss lachen. Bin froh, mal was anderes zu hören.

"Ist eigentlich nicht zum Lachen", meint die Gräfin, und lacht leise. "Als ich heute an ihrem Bett gesessen hab, sagt Oma Soest plötzlich, leg dich doch zu mir. Ist doch genug Platz im Bett."

"Und? Hast du dich dazugelegt?"

"Natürlich."

"Wann kommst du zurück?"

"Wenn es vorbei ist, mit Oma.. Im Moment muss man ja nicht daheim sein, um mitzukriegen, was sich abspielt in der Stadt. Läuft ja alles im Fernsehen. Pass auf dich auf."

Sie erkundigt sich noch, ob ich mir nicht langsam mal ein Hobby zulegen könnte, wie andere Männer auch, "Fußballbildchen einkleben oder so", damit sie sich nicht immer sorgen müsse. Wir verabschieden uns mit Küssen, die immer kleiner werden und herunterdimmen, das dauert.

Später sitz ich im Chefsessel vorm Fernseher und schau mir wie jede Nacht eine alte Folge von Kojak an, Einsatz in Manhattan,"entzückend!", aber ich kann mich nicht konzentrieren. Eher beiläufig nehme ich ein Rumpeln wahr. Ein Geräusch, als würden Müll-Container übers Kopfsteinpflaster geschoben, unten in der Fußgängerzone. Erst denke  ich mir nichts dabei, die Geräusche der Stadt kommen in fünfzig Metern Höhe häufig verzerrt an, bis mir aufgeht, da unten ist ja gar kein Kopfsteinpflaster, ausserdem ist es mitten in der Nacht  - also, was ist da los? Was treiben die da unten?

Und wer zu Henker soll das überhaupt sein - die ?!!

Ich wechsle in den Frühstücksraum, zu den riesigen Panoramafenstern, die einen grandiosen Ausblick übers Bergische Land bieten, und kann dabei zusehen, wie elf Stockwerke unter mir, im phosphorgelben Licht der Laternen, eine aufgeputschte Menge in einer breiten Schneise über den Graf-Wilhelm-Platz spurtet - so rasch, als zöge jemand in Sekundenschnelle ein Schleppnetz aus Menschen über den grossen kahlen Platz.

Pflastersteine werden geschleudert, Schaufenster angesprungen, parkende Autos umgestoßen. Ich sehe, wie eine Telefonzelle und Plexiglasverkleidungen einer Bushaltestelle mit Baseballschlägern zertrümmert werden. Bis in den elften Stock ist das Geklirre von Schaufensterscheiben zu hören, zum Teufel.. das ist.. Revolution!!

ANARCHY IN SG!

Vom Tumult überrumpelt, der sich unter mir in der Stadt abspielt,  strecke ich die Faust zur Decke, brülle in die Nacht hinaus:

"JUNGS! JAAA..!!"

Es dauert keine Minute und Dutzende Streifenwagen und Wannen bretttern heran, die Hauptwache Goerdeler Strasse ist keine dreihundert Meter entfernt. Blitzartig teilt sich die schwarzgekleidete Menge in kleine Grüppchen, stiebt auseinander. Einige flüchten in Richtung Eingang Turm-Hotel. Da ist Sackgasse, Jungs, da kommt ihr nicht weiter - da ist Schluss, verdammt! rufe ich.

Ich rase zur Rezeption, sehe im Monitor, wie die Burschen, viele mit PLO-Tüchern und Motorradhelmen vermummt, vor die verschlossene Eingangstür laufen und nicht weiterwissen, während die Polizei ihnen schon den Rückweg abschneidet. Ich zögere einen Moment, öffne dann per Summer die Eingangstür im Erdgeschoss, und die Gruppe, es sind nicht mehr als fünf oder sechs Personen, verschwindet hastig im Treppenhaus. Wenn sie clever sind und sich ein bisschen vor Ort auskennen, können sie übers Parkdeck Rot das Weite suchen, hinten zur Tankstelle raus.

Einheiten der Polizei, die nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, lassen die Brüder flüchten und machen kehrt, mit kreiselndem Blaulicht und Martinshorn, zurück zur Wache.

*

31. Mai '93, Pfingstmontag

Sieben Uhr morgens. Als die Chefin zur Frühschicht einmarschiert, um mich abzulösen, stapft sie zum Kühlschrank und entnimmt eine eisgekühlte Cola. Setzt die Flasche an und trinkt sie in einem Zug leer. Dann stöhnt sie wie eine dicke Concierge im Pariser Hochsommer.

"O la la, ist das schwül da draußen, Herr Glumm, ich schwitze jetzt schon wie ein Schwein, puh..! Haben Sie schon gesehen, was die Chaoten da draussen angerichtet haben heut Nacht?! Die ganze schöne Innenstadt liegt in Trümmern."

Hm? Die ganze schöne.. Innenstadt? Wovon spricht die Chefin?! Von.. Solingen? Seit die Altstadt am Ende des zweiten Weltkriegs ausgebombt wurde, ist Solingen eine architektonische Katastrophe. Geblieben ist, was in den 50ern wieder aufgebaut wurde, ein schmucklos-ängstliches Ville Beton nix gut. Der Wiederaufbau war wie das letzte nachträgliche Verbrechen der Nationalsozialisten und hat mit schön nichts am Hut. Was da kaputtgegangen ist letzte Nacht, das war bloß Glas.

"Ich geh mir das mal Angucken", verabschiede ich mich in meine Freiwoche.

In der Fußgängerzone sind Dutzende Schaufenster zu Bruch gegangen. Mit Ausnahme türkischer Einzelhändler und einer Musikalienhandlung am Schlagbaum, deren Inhaber Jugoslawe ist, sind alle Läden betroffen. Griechische Pommesbuden sind sogar extra plattgemacht und besprüht worden. Auch vor meiner Stamm-Kaffeestube am Graf-Wilhelm-Platz, wo die leckeren ofenwarmen Rosinenschnecken gebacken werden, türmen sich Splitter und Schutt.

"Wir sind nicht versichert gegen Glasschaden", klagt Inhaberin Rosi, die mit ihrem Mann eine große Dämmplatte an der Stelle anbringt, wo mal ein Schaufenster war. Die Beiden haben ihre letzten Kröten in den Laden gesteckt, und urplötzlich schäme ich mich für die Revolution, für meine nächtliche Begeisterung fürs Kaputtschlagen.

Scheiß Anarchie, denk ich, so aus der Nähe betrachtet.

Alles Scheiße.

Die Innenstadt ist eine einzige Reparaturmaßnahme. Überall wird genagelt, gehämmert, geküppert. Als Notbehelf werden Pressholz-Platten eingezogen, wo vorher Fenster waren - die beauftragten Schreinerbetriebe haben so viel zu tun, sie kommen mit der Arbeit nicht mit.

Sogar Teile der elektrischen Oberleitung der O-Busse sind abgerissen, hängen zu Boden wie schlaffe Tonleitern. Plünderer sollen noch in der Nacht unterwegs gewesen sein, was ich nicht recht glauben mag, bis mir auf den Treppenstufen vorm Kaufhof ein Kleiderständer auffällt, mit lauter leeren abgefressenen Bügeln.

"Alter, hat das geknallt heut Nacht!" grüßt Benno, ein Junkie, der gern vorm Kaufhof abhängt. Heute ist er besonders früh dran. Das lässt er sich nicht entgehen, den herrlichen Krawall. Er kickt eine zerdepperte Bierpulle vor sich her und setzt sie gegen eine Hauswand, wo sie in noch kleinere Scherben zerspringt.

"Wie in Kreuzberg, Alter! Ja, wa?"

Am Straßenrand sammeln sich die braven Bürger der Stadt, und ihr Palaver klingt längst nicht mehr so reserviert wie tags zuvor, als man sich noch schämte für die einheimischen Täter. Das ist Geschichte, das ist vorbei, jetzt heisst es: Chaoten, Autonome und türkische Krawallbrüder, alle mal hergehört! Verpisst euch aus unserer schönen Stadt!

Benno, der Junkie, zieht den Kopf ein und trollt sich. "Mach's gut, Alter."

Am Nachmittag findet im Bärenloch ein großes Benefizkonzert statt. Zur gleichen Zeit ziehen tausend zornige Türken zum Polizeipräsidium an der Goerdeler Strasse. Sie wollen Gesinnungsgenossen befreien, die in der vorangegangenen Nacht festgenommen wurden. Wieder fliegen Steine, diesmal zwischen rivalisierenden türkischen Gruppen: Linke Kurden gegen Graue Wölfe. Die Innenstadt befindet sich permanent im Ausnahmezustand. In den anderen Ortsteilen dagegen bleibt es ruhig und beschaulich, im gepflegten Sound der Vorgärten.

Mein erster freier Abend nach einer Woche Nachtdienst ist traditionell mein Abkicktag, wo ich mir einen ansaufe. Ich bin schon früh im Mumms. Es ist so rappelvoll wie sonst nur am Wochenende. Autonome aus Wuppertal und Berlin holen sich Tipps, wo in der Stadt sich Fluchtwege auftun, falls es in den Kampf Mann gegen Mann geht. Stadtpläne liegen aus für Auswärtige.

"Und sonst? Wie isses? Immer noch Nachtportier?" näselt Micks, der Eilpostfahrer, dem die Stimme vom vielen Koksen schräg überm Jochbein sitzt und den ich lange nicht gesehen habe. Ich nicke missmutig. Ich meine, mal im Ernst - gibt es irgendwo auf der Welt einen dämlicheren Job für einen Mann Mitte Dreißig? Es sei denn, man hat keine Ambitionen. Dann geht Nachtportier in Ordnung. Habe ich denn keine Ambitionen? Verdammt, keine Ahnung!

"Ist garantiert psychisch bedingt, glaub mir das", nuschelt Micks, "das mit dem Nachtdienst."

Ich weiß nicht genau, was er damit meint, schätze aber, er hat Recht.

"Wo ist die Gräfin?"

"In Soest", sag ich. "Auf der Flucht."

"Vor dir?"

"Vorm Chaos."

"Also doch vor dir", meint der Micks und lacht.

In den TV-Nachrichten kommentiert RTL die Ausschreitungen der letzten Nacht mit dem schönen Satz, von der Nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Nichtstun verdonnert, antwortet die Polizei mit voorsichtigem Schlagstock-Einsatz, und der Tresen im Mumms flackert vor Gelächter.

Nach Mitternacht statten wir der Brandruine einen Besuch ab. Wir, das ist in diesen Tagen eine wechselnde Geschichte, und auffallend oft ist mein Bruder mit von der Partie. Karlos lässt sich nicht blicken, Schnaat auch nicht. Der dicke Hansen weiß vermutlich nicht mal, was überhaupt passiert ist in unserer Stadt.

Die Kamerawagen der TV-Stationen, zu erkennen an ihren Satellitenschüsseln, parken die Bürgersteige am Bärenloch auch noch zu nächtlicher Stunde zu. Die Ruine wird mehr und mehr zum Wallfahrtsort. Ein Meer aus Kerzen und Teelichtern, Blumen liegen auf dem Bürgersteig. Zwei Tage schon brennt ein Mahnfeuer, immer wieder neu angefüttert. In der ersten Nacht, so erzählt man sich, hätten sich aufgebrachte Türken die Kleider vom Leib gerissen und in die Flammen geworfen, wie bei einer Teufelsaustreibung.

Das Haus wirkt merkwürdig unbeteiligt. Die Fenster im Erdgeschoß sind mit Pappe zugestellt, auf eine Fensterbank hat jemand kleine Babyschuhe abgestellt. Transparente, zuvor auf den Demonstrationen durch die Strassen getragen, füllen die Fenster wie Vorhänge, fast alle mit türkischen Parolen, nur eines ist auf Deutsch: "UN-Truppen nicht nach Kuwait, sondern nach Bosnien und Solingen!"

Ich bin unrasiert, seit Tagen.

"Du siehst allmählich selbst aus wie ein Schwarzkopf", sagt mein Bruder, "mit deinen Killerstoppeln."

"Na, das sagt der Richtige! Verdammter Hippie!"

Mitten in der Nacht verfolgen wir den Einzug der nächsten Welle türkischstämmiger Rächer, vollbesetzte Wagen, die Kennzeichen abgeklebt und den roten Halbmond aus dem Fenster flatternd.

Als wir gegen drei Uhr auf dem Heimweg sind, geht urplötzlich ein Gewitter nieder. Es blitzt und donnert, der Regen steppt in den Strassen wie der Zorn Gottes, und ein Schwall warmer Blütengerüche weht um die Ecke. Wie zur Erinnerung, dass Sommer ist.

"Friede", murmelt mein Bruder.

*

1. Juni '93, Dienstag

Der Mitsubishi Boy ruft mich an. Er ist vor zwei Jahren nach Hamburg gegangen.

"Ich häng die ganze Zeit vorm Fernseher und versuche, einen von euch Vögeln zu erkennen, aber nie ist einer zu sehen. Hängt ihr alle nur im Mumms rum? Geht ihr nicht auf die Demos? Oder habt ihr noch gar nicht mitgekriegt, was bei euch los ist, ihr Loser? ES HAT GEBRANNT IN SOLINGEN!"

Dann erzählt er, dass er sich eine neunzig Kilo schwere Heimorgel gekauft habe. "Funktioniert zwar nur noch zur Hälfte, aber zum Berühmtwerden müsste es gerade noch reichen, hab ich mir überlegt."

In Verbindung mit einer Vernissage will er dann vom Niedergang dieser Republik singen und im Sommer die Heizung voll aufdrehen, damit Energieriesen wie RWE auch was abkriegen von seinem neuen Reichtum.

"Die sollen nicht leer ausgehen."

Kaum hab ich aufgelegt, ruft die Gräfin aus Soest an. Sie ist traurig.

"Ich glaub, Oma Soest lebt nicht mehr lange."

Ihre Mutter, die Onkel und Tanten wollen nun dafür sorgen, dass sie aus dem Krankenhaus kommt und daheim sterben kann, im Kreise der Familie.

"Oma Soest hat die schönsten und krummsten Finger der Welt, da steckt der ganze Schmerz des Lebens drin."

Als kleines Mädchen schaute die Gräfin ihrer Lieblingsoma fasziniert dabei zu, wie sie in der Küche zauberte, niemals musste Oma Soest eine Waage zu Hilfe nehmen, sie mengte und würzte alles nach Gefühl. Und wie lecker sie dabei gerochen hat, nach Nivea und nach Essenmachen, für die Gräfin der leckerste Geruch der Welt, bis heute.

Zum Abschied sagt sie, ich solle aufpassen, wenn ich auf eine Demo gehe.

"Nicht, dass du dir einen Stein einfängst und blind wirst. Lach nicht. Kann doch passieren. Ein blöder Querschläger, und das war’s. Wärst du nicht der erste, dem das passiert."

"Okay. Ich halt mich zurück", sag ich. "Du kennst mich doch."

"Na, eben, deswegen. Du hast ein Talent für den falschen Moment, du Blödmann. Eigentlich brauchst du einen Leibwächter, der nur darauf achtet, dass du das Richtige tust, vierundzwanzig Stunden lang. Ach was, vierundzwanzig. Achtundvierzig! Zweiundsiebzig!"

"Ist ja gut."

Später Nachmittag, nächster Protestmarsch. Ich bin nur noch auf der Strasse. Das ist meine Stadt, das ist meine Strasse, das sind meine Toten.

Einmal, als der Zug am Mumms vorüberzieht, sehe ich eine Reihe Stammgäste vor der Tür stehen, mit dem Glas Bier in der Hand, so wie ich sonst auch vorm Mumms stehe, ein Bier in der Hand, dämlich glotzend.

Nachdem es in der Nacht zuvor erneut gekracht hat und auch die allerletzte noch intakte Schaufensterscheibe in der Innenstadt zu Bruch gegangen ist, lese ich an einem Geschäft: Glasschäden - der Verkauf geht weiter. Die neuen Öffnungszeiten werden gleich daneben auf dem mit Pappkarton zugeklebten Fenster gepinselt:

11.00 -  TUMULTBEGINN

Die Polizei greift härter durch - von nun an werden die Kinnriemen der Helme fest gezurrt. Die Jagd ist eröffnet. Vor allem auf Autonome, die aus der ganzen Republik anreisen, haben die Bullen es abgesehen, auf den schwarzen Block. Selbst die GSG 9 kommt aus Berlin. Es ist ein beinah hypnotischer Moment am späten Nachmittag, als die Sonne ihr Varietelicht aufs Pflaster wirft und wir zu Tausenden über die Goerdeler Strasse marschieren, als plötzlich Rufe laut werden, "guckt mal links rüber."

Viele bleiben stehen und beobachten die Szene, die sich auf der anderen Strassenseite abspielt, in einer Seitengasse. Wie Cowboys fläzt die GSG 9 auf Treppenstufen und Fahrzeugen, eine einzige breitschultrige Masse selbstbewusster Kerle, die es kaum abwarten können, vor die Tür zu gehen und mitspielen zu dürfen. Doch bis dahin: extra-lässiges Abwarten..

Bei Anbruch der Dunkelheit findet auf dem zentralen Mühlenplatz eine Protestveranstaltung der Gewerkschaft statt. Ich treffe Leute, die lange nicht in der Stadt waren und nun nach dem Rechten sehen wollen. TB, seit Jahren in Berlin bei Synanon untergekrochen, einer umstrittenen Drogenselbsthilfe, klatscht mich ab.

"Alter.. gibt’s doch nicht..!" ruf ich. "DER TB!"

Das letzte Mal in seiner Heimatstadt war er Ende der 80er, als er beim dicken Hansen übernachtete. Dem TB dann freundlicherweise gleich in der ersten Nacht dreihundert Mark und den fabrikneuen Audi 80 klaute. Die Bullen stellten TB keine Stunde später auf der Autobahn, kurz vor der holländischen Grenze.

TB, ein Gesicht wie aus der Asservatenkammer der Gesichter, zerfurcht, zerbombt, zerschlagen, beklagt sich, das man ihn heute bereits aus zwei Solinger Kneipen rausgeworfen habe, warum?

"Nur weil ich in schwarzen Klamotten rumlaufe. Die halten mich alle für einen Autonomen", grinst TB, der lange Schlaks. "Mögt ihr keine Autonomen? Ich bin doch nur ein schwarz gekleideter Ex-Junkie."

Mit dem Wagen vom dicken Hansen wollte er damals nach Rotterdam knattern, erzählt er ungefragt. Und dann?

"Den Wagen zu Geld machen, von dem Geld Schore kaufen, mit der Schore zurück nach Berlin, Kasse machen. Das übliche halt."

"Genialer Plan", sag ich.

TB legt mir den Arm um die Schulter.

"Alter, du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, endlich clean zu sein."

Ich glaube ihm kein Wort. Selbst das T in TB sieht irgendwie gestohlen aus. Als ich mich umdrehe, läuft mir der gute alte Kitty über den Weg. Der alte Super-Kapitalist. Auf dem Gymnasium teilten wir früher die Schulbank und diskutierten leidenschaftlich. Er verteidigte das Geld, ich das Geld der Menschen. Er lebt schon lange in den USA, leitet die deutsche Niederlassung der Commerzbank für Nordamerika. Pool Position.

"Und du? Was machst du so?" fragt er aus diesem etwas zu klein geratenen, spöttischen Mund.

"Ich protestiere", sag ich.

Nach Reden von Lokalpolitikern und Gewerkschaftern marschieren ein paar tausend Demonstranten zur Unteren Werner Strasse. Es ist die fünfte oder sechste Demo, bei der ich dabei bin, ich komm mit dem Zählen nicht mehr mit, aber eins ist sicher: Zum ersten Mal ist die Polizei mit ganz großem Aufgebot dabei. Wir fühlen uns wie Bundesliga-Hooligans, die vorm Match von der Bereitschaftspolizei zum Stadion begleitet werden, damit sie nicht aufs feindliche Lager treffen.

Bloß, da ist kein feindliches Lager, nirgends.

Nirgends lassen sich Nazis blicken, die man bekämpfen könnte, niemand ist vor Ort, der sich mit offenem Visier in den Weg stellt und ruft, Jawohl, ich verbrenne Kinder, ich verbrenne türkische Frauen, ich verbrenne Türken, ich bin ein Nazi-Schwein! Und weil das niemand sagt, demn man das vorhalten könnte, endet auch die Randale nicht. Der Zorn auf die Brandstifter, der Hass auf die schweigende Mehrheit, für die der ruinierte Ruf der Stadt wichtiger ist als der Tod von Menschen, findet kein anderes Ventil.

Die Täter sitzen, obwohl längst gefasst, immer noch daheim.

Der nächste Demonstrationszug  führt am Mühlenhof-Kino vorüber. Der Titel des Hauptfilms der laufenden Woche, der in grossen Lettern überm Eingang prankt, wirkt wie ein Menetekel: FALLING DOWN. Michael Douglas spielt einen stinknormalen Bürger, der sich eines Tages gegen die Welt erhebt, die ihn triezt, reglementiert und klein hält. Er startet einen Amoklauf. Ein ganz normaler Bürger, der andere ganz normale Bürger tötet.

FALLING DOWN.

Und dann rauscht am Schlagbaum, der großen Verkehrskreuzung, die eigentlich abgesperrt ist, ein weißer Volvo in das Ende des Protestzugs. Niemand weiß, woher der Wagen so plötzlich gekommen ist. Ein Mädchen, 15 Jahre alt, wird auf die Motorhaube geschleudert.

"NAZIS!" brüllt jemand.

Mein Bruder wird kreidebleich. Der Volvo, HA - Hagener Kennzeichen, versucht zu flüchten, wird von aufgebrachten Türken verfolgt. Zwei Streifenautos schneiden dem Wagen in letzter Sekunde den Weg ab. Stoppen ihn, zerren zwei Männer aus dem Wagen. Deutsche, militärisch kurzer Haarschnitt, Doc Martens Stiefel. Pflastersteine fliegen aus den angrenzenden Gärten, Polizisten reißen ihre Schutzschilder hoch, schützen die beiden Nazis vor jungen Türken, schnell sind weitere Streifenwagen da. Die Stimmung in der Stadt ist auf dem Siedepunkt.

Erneut lodern rund um den Schlagbaum Brände auf, Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes donnern im Tiefflug über die Stadt, setzen Sondereinsatzkommandos ab, es herrscht Krieg. Wieder wabern Gerüchte durch die Stadt. Angeblich bringen Kleinlaster, angemietet von jungen linken Türken, dauernd Nachschub heran. Neue Schläger, neue Knüppel, neue Stahlkugeln für die Zwille.

Aber die Bullen sind präsent, in feuerfesten Einsatzanzügen. Eine dritte Nacht mit Millionenschaden soll es nicht geben. Das Viertel am Schlagbaum ist ein Meer aus Tausenden weißer Polizeihelme. Leuchtpistolen werden abgeschossen, linke und rechte Türken, abgedrängt in Seitenstrassen, schlagen mit Holzlatten aufeinander ein, aus denen Nägel stehen.

Es folgt die bislang härteste Nacht, ich bin nicht dabei. Ich bin müde, ich hab die Schnauze voll, ich geh nach Hause. Als ich im Bett liege, höre ich die Kämpfe aus der Innenstadt, es klingt wie das Geblöke von Kampfschafen bei Vollmond.

*

3. Juni '93, Donnerstag

Heute findet die offizielle Trauerfeier für die Opfer statt, für den kommenden Samstag ist eine letzte Groß-Demo geplant mit 50.000 Teilnehmern. Die vier Brandstifter sitzen in U-Haft. Außer einem bereits inhaftierten 16jährigen drei weitere Solinger im Alter zwischen 15 und 23 Jahren. Alle wohnen in der Nähe des Tatorts und waren dafür bekannt, im Bärenloch irgendwelchen paramilitärischen Scheiß veranstaltet zu haben.

In der Lokalpresse wird eine Skizze veröffentlicht, wo sich minutiös verfolgen lässt, welchen Weg das Quartett in der Nacht von Freitag auf Pfingstsamstag zum Bärenloch genommen hat, nachdem es auf einer Party in der Schrebergartensiedlung Gabelsberger Strasse rausgeschmissen wurde. Zur Strafe, schworen sie, sollte das Türkenhaus am Bärenloch büßen.

Ich verfolge die mit Pfeilen versehenen Wegstrecke mit dem Finger. Selbst die eingezeichneten Abkürzungen gehe ich im Geiste mit. Auch wie die vier gezielt die BP-Nachttanke am Schlagbaum aufsuchen und einen Kanister Benzin kaufen, ist nachvollziehbar. Aber nicht, was sie in dieser schwülen Nacht geredet haben mögen. Da hört es auf. Das funktioniert nicht. Ich kenne ihre Sprache nicht. Ich weiß nicht, was vier angetrunkene Nazis zwischen 16 und 24 labern in einer Frühsommernacht. Wie sie sich gegenseitig hochpushen bis sie am Ende im Eingangsbereich des Türkenhauses den Brandbeschleuniger auskippen und Feuer anzünden.

*

5. Juni '93, Samstag

Auch wenn die Strassen voller Leute sind, mich kotzen die vielen Einheimischen an, die sich nicht zeigen, die nicht auf die Strasse gehen und sich wegducken, als ginge sie das alles nichts an.

"Was soll ich auf einer Demo?" meint Hilda, ein Deutsch-Spanierin, die ich vorm Mumms treffe. "Ich hab den Türken doch nichts getan, ich hab denen kein Feuer unterm Arsch gelegt."

"Natürlich nicht", sag ich, "aber du lebst genauso hier wie ich und bist an der Stimmung beteiligt, die in der Stadt herrscht und so eine Tat erst möglich macht."

Das sieht längst nicht jeder so. Auch Hilda nicht.

"Blödsinn. Dann müssten ja auch all die Politiker mitlaufen und Buße tun, die das Asylrecht so gut wie abgeschafft haben und den Eindruck vermitteln, dass alle Ausländer Schmarotzer wären."

Taxifahrer-Paul erzählt, dass die meisten Fahrgäste schon nach einer Woche nur noch stöhnen und nichts mehr hören wollen von dem Anschlag. Und wenn das Thema doch aufkommt, ist die betroffene Großfamilie Genc dran. Besonders die Gerüchte um eine angebliche Millionenspende des Bertelmanns-Konzerns heizen die Atmosphäre auf. Als könnte noch so viel Geld tote Kinder aufwiegen. Ich könnte kotzen.

Geld kotzen.

"Sollen sie doch zufrieden sein", hörte Taxifahrer-Paul von einem Fahrgast. "Die sind doch jetzt stinkreich, die Türken. Wer weiss, ob das Ganze nicht ein abgekartertes Spiel war."

Wahrscheinlich gibt es Leute, die es lieber gesehen hätten, wenn die Türken nicht verbrannt, sondern von echten Solinger Klingen erstochen worden wären. Das hätte Stil und Tradition gehabt. Es fehlt nicht mehr viel, und die Familie Genc hat das Feuer selbst gelegt, um einen neuen Hobbykeller abzugreifen.

Neid ist ein nachhaltigeres Gefühl als Scham, auch wenn beides Hand in Hand geht. Ich schäme mich für Solinger, die einer Familie, die nicht nur fünf Menschen, sondern auch jegliches Hab und Gut verloren hat, jeden Pfennig missgönnen.

"Die saufen ihr Wasser demnächst aus goldenen Armaturen, und ich? Was ist mit mir!? Wer hilf mir!?"

Niemand.

*

6. Juni '93, Sonntag

Statt der erwarteten fünfzigtausend Leute sind es nicht mal fünfzehntausend, die sich am Samstag zum großen Finale versammeln auf dem staubigen Platz am Weyersberg, wo sonst Autos parken und der Zirkus gastiert. Tausende Autonome aus dem ganzen Bundesgebiet und linke Türken verbrüdern sich gegen Graue Wölfe, und alle zusammen schlagen auf die Bullen ein.

Yüksel, ein türkischer Taxifahrer, den ich schon lange kenne, erklärt die plötzliche Radikalität seiner Landsleute damit, dass man in der Heimat traditionell überzeugt sei, jeder Türke sei als Soldat geboren. Mich nervt das ganze nur noch. Die Auto-Korsos, die Pfeifkonzerte, der ganze beschissene Hass, der ständig geschürt wird, alles geht mir auf die Nüsse. Vor allem der schwarze Block scheint auf nichts anderes als Krawall aus zu sein. Wie alle Spießer haben sie ein fest umrissenes Feindbild, es ist unumstößlich: Bullen sind Schweine, daran wird nicht gerüttelt. Ich seile mich ab. Ich bin erledigt. Erschöpft. Es reicht mir.

Ich will mein Leben zurück.

Ich lasse mir nicht von vier hergelaufenen Kindermördern das Leben rauben.

Weil ich schon mal in der Nähe bin, klingle ich bei Fleschkönigs, er wohnt am Weyersberg. Flesch, ein Prinz aus dem Poesiealbum meiner Kindheit. Er trug schon als Junge das rote Haar schulterlang, und ich hab noch etwas gut bei ihm, seit er mich 1965 im Sandkasten beschissen hat, bei einem Tauschgeschäft. Er ergaunerte von mir ein fast nagelneues Matchboxauto, einen hummerroten Maserati, während er im Tausch nur einen gelben Plastik-Citröen herausrückte, eine 2CV, eine miese Ente, bei der auch noch die Räder vorne blockierten.

"Du hast noch was gut bei mir", hat er versprochen, als ich ihn kürzlich an den Beschiss mit der kleinen Plastikente erinnerte, und jetzt ist es soweit, ich werde sein Versprechen einlösen.

Ich klingele, und tatsächlich, Flesch öffnet. Er ist nicht allein, er hat Besuch. Ein Kumpel ist da. Zu zweit hängen sie auf der Couch ab, bis zum Kragen von Pulver eingelullt. Sie verfolgen im dritten Programm eine Live-Reportage von der Groß-Demo in unserer Stadt, genauer gesagt, vor ihrer Haustür. Das Pfeifkonzert kommt in Stereophon: links live von der Strasse, rechts live aus dem TV-Gerät, es ist eine ohrenbetäubende skurrile Live-Installation.

"Flesch, was hältst du von der ganzen Sache?" rufe ich, nachdem er mir eine Line Schore gestreut hat, und Flesch, immer noch schulterlange rote Locken, Sonnenbrille X-Large, die Augen auf Halbmast, entgegenet: "Alter, ich guck mir das seit Tagen in der Glotze an, aber mir ist das alles zu heftig. Nee, im Ernst, muss ich nicht haben."

Nicht ein einziges Mal habe er in der vergangenen Woche den Fuß vor die Türe gesetzt, obwohl er mitten im Kampfgeschehen wohnt. Andererseits, was soll ein Junkie auch da draußen? Solange er nur genug Material im Haus hat und im Fernsehen alles live übertragen wird.

"Scheiße, ich kack ab", murmelt sein Kumpel, den ich nicht kenne, und er nickt ein. Joghurt tropft von seinem Kinn, in einer langen klebrigen Spur.

Flesch ist erst seit kurzem wieder im Lande, nachdem er lange Zeit verschwunden war. Keiner wusste, was los war, nicht mal seine engsten Kumpel. Mal hiess es, Flesch habe AIDS und sieche in einer Spezialklinik vor sich hin, mal hatte man ihn in den Pyrenäen verhaftet, auf der Flucht vor den Bullen. Aber als er mir Anfang des Jahres über den Weg lief, am Mühlenhof, sah er aus wie ein verdammter Banker, mit verspiegelter Sonnenbrille und Nadelstreifenanzug. Nur dass er anstatt der FAZ eine gefaltete Ausgabe der BILD Köln unterm Arm trug, locker & leger zusammengerollt.

Nachdem wir uns kurz in den Armen lagen, fragte ich Flesch, was denn nun los gewesen sei, wo er gesteckt habe, all die Zeit. Ob da was dran sei, mit AIDS und so.

"Quatsch, Alter! Ich bin drei Jahre im Zigeunerlager in Rotterdam untergetaucht, unter Messerwerfern und Feuerschluckern. Einen riesigen Ami-Wohnwagen hab ich gehabt, und einen großen schwarzen Puffi-Hund, der auf mich aufgepasst hat. Jetzt wohn ich bei ein paar Hühnern oben auf der Niedersachsenstrasse, kommt mal vorbei. Bring deine Puppe mit, wie heisst sie noch gleich? Ja genau, die Gräfin. Übrigens , ich hab mit dem Schreiben angefangen. Mehr so den drastischen Stil, verstehst du.."

Ich lege Flesch einen Zehner auf den Tisch, für eine zweite Strasse, die er mir auch gleich streut, ohne langes Palaver. Ich zieh eine ordentliche Line, zwischen leeren schimmligen Joghurtbechern, und sehe zu, dass ich Land gewinne.

Ein bisschen kotzen, und dann ab nach Hause.

Schreiben, Ronaldo

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Schreiben ist ein bisschen so, als hätte man eine angenehme Mausefalle am Finger, die jederzeit zuschnappt, sobald das richtige Wort daherkommt.

 

 

*

 

Wenn sich Real Madrid-Superstar Ronaldo für einen Freistoß in Stellung bringt, wenn er Stärke demonstriert und Beine und Kreuz durchdrückt, fühl ich mich immer an eine Bohnenranke erinnert, die dem Himmel empor strebt um dem Herrgott die allernaheste, am besten durchtrainierte Super-Bohne zu sein. Das ist natürlich in Ordnung.

Sieht trotzdem blöd aus.

Zeit zum Schreiben

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Noch Wochen, nachdem in beiden Tageszeitungen der Stadt über den Literaturpreis berichtet worden war, grüßten mich die Punks und Ska-Brüder vom Mühlenplatz mit erhobener Bierpulle.

"Wie siehts aus, Hank?"

"Stabil", rief ich.

Sie hielten mich für Bukowski - so ein Schwachsinn. Bukowski war ein Trinker, der großartige Stories über sein Leben schrieb, der Herz und Humor hatte, während ich nur großartig trank. Bukowski war ein Genie, ich nicht. Sparflammenbukowski, dachte ich.

Na, Hauptsache stabil.

 

*

 

Kurz nach Neujahr ging das Telefon. Karlos war früh wach, weil er einen Termin auf dem Friedhof hatte, wo der Leichnam eines Motorradfahrers unter die Erde kommen sollte. Mit seiner schweren Maschine hatte er eine Bordsteinkante tuschiert und war im hohen Bogen gegen eine Hauswand geknallt. Angeblich war er fünfzig Meter weit geflogen. Der Aufprall hatte ihn enthauptet. Es hieß, der Fahrer, den ich vom Sehen kannte, habe so viel Kokain im Blut gehabt, dass das Messverfahren mehrfach wiederholt werden musste. Die Laboranten wollten das Ergebnis einfach nicht glauben, und sie fürchteten, es würde vor Gericht nicht standhalten. "Mit so viel Koks im Blut hätte der Bursche fliegen müssen!"

Nun ja.

Karlos hob den Hörer ab, nuschelte "Momentchen..", und reichte gleich den ganzen Apparat rüber, das unschlagbare Modell Hamburg.

"Für dich", flüsterte er, und machte sich auf die Socken, Richtung Friedhof. Es gab Vormittage im Hochsommer, da waren drei oder vier Begräbnisse hintereinander keine Seltenheit, die drückende Hitze arbeitete für Sargträger und Totengräber, da machten sie richtig Schotter, doch jetzt im Januar war nicht viel los im Bestattungsgewerbe. Tote Hose sozusagen, bis auf eine Motorradleiche ohne Kopf, die zuviel Marschierpulver geschnupft hatte. Es sah nach einem beschäftigungsarmen Vormittag aus für Karlos, doch immerhin, er hatte zu tun. Was mich betraf, so war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Weder, wer es sprechen würde, noch wann oder wo. Nicht mal das Thema war bekannt. Aber wie auch immer, zu tun hatte ich erstmal nichts.

"Herr Glumm..?"

"Ja", sagte ich und starrte in den Hinterhof.

"Buntenbach, Arbeitsamt. Schönen guten Morgen, der Herr! Na, ausgeschlafen?"

Bevor ich etwas erwidern konnte, rückte der Sachbearbeiter, den ich von mehreren Einladungen kannte, "Bitte kommen Sie in das kommunale Jobcenter. Ich möchte mit Ihnen über Ihre berufliche Situation sprechen", schon mit der unangenehmen Sprache heraus: eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, befristet auf sechs Monate. Bei OBI.

"Bei.. OBI!?"

"Was dagegen? Die Eisenwarenabteilung sucht einen tatkräftigen jungen Mann. Und da habe ich gleich an Sie gedacht. Was sagen Sie dazu?"

Ja, was sagt man dazu. Eisenwaren. Erst glaubte ich einen Moment, Buntenbach wolle mich auf den Arm nehmen, doch ein Arbeitsvermittler, der um diese frühe Uhrzeit anruft, will einen eher nicht auf den Arm nehmen - im Gegenteil. Der will einen eher loswerden. Raus aus der Statistik. Raus aus dem Bettchen. Raus aus der Vollkasko.

In gewisser Weise konnte ich es sogar nachvollziehen. Mit Mitte zwanzig war ich in der Blüte meiner Jahre, wie man so sagt. Der Supervogel Jugend kreiste mit mächtigen Schwingen über mir, ich war voller Spannkraft und Schwellkörpern. Selbst wer mit 25 nichts anderes tut, als von früh bis spät auf der faulen Haut zu liegen, dem wachsen noch Matratzenmuskeln, von ganz allein. Vom bloßen Faulenzen. Ich war wirklich ein fauler Hund. Dennoch - in meinem ganz speziellen Fall blieb ich bei meiner Auffassung, dass die Gesellschaft eine Ausnahme machen sollte. Als angehender Erfolgsautor brauchte ich Zeit, um mich zu entwickeln, viel Zeit. Sehr viel Zeit. Ich brauchte Zeit zum Saufen, weil man am Tresen die richtigen Leute kennenlernte und Erfahrungen machte, die unabdingbar waren für einen hungrigen Schriftsteller, und ich brauchte Ruhe, um mich am nächsten Tag von der ganzen Sauferei zu erholen. Und gegen Mittag, wenn es mir etwas besser ging, wenn der Kater endlich nachließ, brauchte ich Zeit zum Schreiben. Ich wusste beim besten Willen nicht, wo da noch Zeit für eine geregelte Arbeit sein sollte. Ohne Flachs. Vielleicht zwischen halb eins und eins? Gut, aber da war Mittagspause. Nein. Es machte keinen Sinn. Dem Faktor Zeit war nicht beizukommen, es sei denn, man gewährte ihn.

Sie ließen dennoch nicht locker, die Damen und Herren vom Arbeitsamt. Alle paar Wochen kamen sie mit dem nächsten Jobangebot, mit dem nächsten perfiden Bewerbungstraining um die Ecke. Allmählich wurde ich sauer. Was zum Henker ging da vor sich? Die herrschende Klasse rottete sich zusammen, um meine Karriere als Autor zu verhindern, auf Teufel komm raus. Man duldete keine angehende Berühmtheit bei Empfängern von Lohnersatzleistungen. Sie sahen in mir einen künftigen Maschinenarbeiter. Einen Mann im Kittel im Baumarkt. Keinen am Schreibstift.

"Ihr Ansprechpartner ist Filialleiter.. äh.. Moment.. das ist der Herr Hafner.."

Ausgerechnet Baumarkt. Das hatte noch gefehlt. Wenn ich von irgendetwas keine Ahnung hatte, dann von Männern, die in ihrer Freizeit Fliegengitter zusammenzimmerten und darüber mit dem Nachbarn fachsimpelten. Die ihre Seele zum Hobbyraum erklärten und zwischen offenen Lacktöpfen James Last flöteten. Ich saß am Küchentisch, wie angeschossen, und lotete die Möglichkeiten aus, die Maßnahme abzuwenden oder wenigstens hinauszuzögern, doch mir fiel kein Grund ein, der Sinn gemacht hätte. Eine Allergie gegen Heimwerker war nicht bekannt. Ich war wie betäubt.

Noch am gleichen Nachmittag rief ich den Filialleiter an, und wir machten einen Termin aus für das Vorstellungsgespräch. Als ich Karlos und den Anderen vom drohenden OBI-Engagement erzählte, lachte sich alles schlapp. Der Glumm im Baumarkt, in der Eisenwarenabteilung, zwischen Schrauben, Muttern und Nägeln, mit seinen zwei linken Händen: ein gefundenes Fressen.

"Der Glumm hat gar keine zwei linken Hände, der hat überhaupt keine Hände! Der wichst auf Stumpen! Der Penner!"

Der Mitsubishi Boy freute sich schon darauf, mich im OBI in flagranti mit dem Besen in der Hand zu erwischen, "aber na ja, haben wir nicht alle schon mal Staub gefressen?! HEHEHE!", und der dicke Hansen, der sich mit Klavierunterricht für Schüler und einem kleinen Erbe über Wasser hielt, strahlte übers ganze fette Denunziantengesicht.

"Endlich haben sie dich am Arsch gekriegt, du fauler Hund!"

Er schlug vor, zweimal die Woche als Testkäufer aufzulaufen, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich präsent war in den Gängen oder ob ich mich doch nur aufs Klo verdrückte, EXPRESS lesen und ne Kippe rauchen, die Hand am Sack. Es war ein Elend, jetzt schon, und es hatte noch gar nicht begonnen.

 

*


 

Anfang 1987, mit Kahnbeinbruch, auf dem Arm meine Nichte Julia

 

*

 

10. Januar 1987, halb zehn.

Der faule Hund, der Zeitkrösus, der gefeierte Literat saß mit der Bierhefe vom Vorabend im Schädel im Obus nach Ohligs. Ich war nicht nur spät dran, ich sah auch noch scheisse aus. Nicht etwa, weil ich beim Vorstellungsgespräch auf Teufel komm raus einen schlechten Eindruck machen wollte, sondern weil Karlos früh am Morgen das Klo blockiert hatte, mit seinem knochigen Hintern, und zwar so lange, dass ich mich schliesslich noch mal hingelegt hatte und mit dem Gesicht im Kissen eingepennt war.

Ich hatte mir vom Preisgeld ein neues Kissen zugelegt. So ein großes leichtes Daunenkissen, in dem ich stets das Gefühl hatte, adieu zu sagen, wenn ich darin versank und meinen neuesten Träumen nachging.

Die OBI-Filiale war ein Flachdachbau und groß wie ein Fußballfeld an einer vielbefahrenen Hauptstraße. Vom Parkplatz aus hatte man einen weitmaschigen Blick in den Laden. Ich rauchte meine letzte Kippe und schaute mir das kommende Schlamassel durchs Panoramafenster an. Dann raffte ich mich auf und betrat die Hölle.

Es fühlte sich an wie im Stadion, eine halbe Stunde vorm Anpfiff: Grelles Scheinwerferlicht, Gedudel aus unsichtbaren Lautsprechern, Bratwurstverkauf. Wie zum Warmmachen schoben Kunden halbleere Einkaufswagen durch die Gänge, Ersatzspieler zogen einen Flunsch und lungerten im Kassenbereich herum. Aus dem Fumu-Gedudel schälte sich You make me shiver heraus, grausamer Teppichbodensoul von George Benson.

Niemand hob den Blick, als ich in den Personalraum schaute und hallo sagte. Eine Handvoll Mitarbeiter gaffte erschöpft in die Pappbecher, die auf dem großen Tisch standen. Nur eine junge Blondine, sie war auch die einzige, die keinen orangefarbenen Kittel trug, drehte sich zu mir um.

"Hallo..", lächelte sie freundlich.

Hinter ihr, im Stahlregal, stapelten sich die Verkäuferkittel, gebügelt und nach meinem armen Leib trachtend.

"Ich suche den Filialleiter."

"Im Büro", meinte die Blondine.

"Ja schon. Aber wo ist das Büro?"

"Na ja, hinter dir. Brauchst dich nur umzudrehen."

Ach so. Das Büro der Filialleitung ähnelte einem rundum verglasten Boxring, zu dem eine kleine Treppe hinaufführte. Der Kasten war eigentlich nicht zu übersehen, doch immer wieder geschah es, dass ich Dinge übersah, selbst wenn sie groß waren wie ein Boxring und in Flammen standen. Die Gräfin meinte Jahre später, um mein Interesse zu erregen müsse man um die Dinge schon einen rechteckigen Bildschirm ziehen. Personalbüro, Hr. Haffner las ich.

Ich klopfte gegen den Türrahmen, wünschte guten Morgen und stellte mich vor.

"Ach, Sie sind das Vorstellungsgespräch."

Herr Hafner, Mitte Dreißig, sportlicher Typ, schien soweit in Ordnung zu sein. Wenn er mit einem sprach, sprühten seine Augen, er gab sich jovial und verschmitzt, als könne man mit ihm Pferde stehlen. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass gerade diejenigen, die zunächst auf betont locker und jovial machten, sehr schnell sehr unlocker und unjovial werden konnten, geradezu bockig, wenn ihre Interessen berührt wurden, und dann war mit Pferdestehlen schnell Essig. Dann hieß es bürsten, striegeln, Fresse halten.

Rasch war geklärt, dass ich aus der Nummer nicht mehr raus kam. Obwohl ich mein Bestes gab, es war nichts zu machen. Der Filialleiter wollte mich unbedingt in seinem Team sehen. Als ABM-Kraft. Ich fragte mich, warum, ich konnte es mir nicht erklären. Ausser, dass ich eine billige, vom Job-Center finanzierte Arbeitskraft war. Doch was nutzte das?

"Ich mein, handwerklich bin ich eine totale Null", spielte ich meinen allerletzten Trumpf aus und achtete sorgsam darauf, dass die Hände kraftlos und schlaff über die Stuhllehne baumelten, wie traurige alte Stofftaschentücher, als ich mit Haffner sprach.

"Das macht nichts, das lernen Sie schon noch."

"Schön.. Aber was soll ich dem Kunden sagen? Ich mein, der denkt doch, da steht ein Mann im Kittel, ein Verkäufer, der weiß Bescheid, der hat Ahnung, und dann weiss ich nicht die Bohne Bescheid.."

"Ach was. Die ersten ein, zwei Wochen tragen Sie keine Arbeitskleidung, damit Sie niemand als Mitarbeiter identifizieren kann. Bis Sie besser Bescheid wissen, wo welche Ware steht. Und falls trotzdem jemand eine Frage hat, na dann verweisen Sie ihn freundlich an den nächsten Mitarbeiter. Alles kein Thema."

"Kein Thema.. Hm. Und wenn kein nächster Mitarbeiter in der Nähe ist?"

"Na dann.. verweisen Sie den Kunden an den übernächsten."

Ich riss mich zusammen. Gab alles. Ließ meine Hände über die Stuhllehne hängen wie abgenudelte Fensterleder und gab mich so antriebsarm, dass ich mir selbst schon wie der größten Hängenlasser in der Geschichte des Hängenlassens vorkam: eine wirklich schlimme schlaffe Geschichte.

"Und wenn überhaupt niemand in der Nähe ist?"

"Jetzt fangen Sie doch erst einmal an! Herrschaftszeiten!!"

Ein Mann sollte wissen, wann er verloren hat, weil sofort das nächste Match im Raum steht, das es zu erobern gilt. Und da ich den Job schon nicht verhindern konnte, ohne eine Sperre der Arbeitslosenkohle zu riskieren, hiess es nun für mich, so viel wie möglich rauszuholen. Besser gesagt, so wenig wie möglich. So wenig Wochenstunden wie möglich. Wenigstens das musste drin sein. Teilzeit, dachte ich.

"Ich brauche Zeit zum Schreiben", sagte ich.

"Was denn, was denn..? Sie müssen schreiben lernen!?"

Verdammt! Darauf hätte ICH kommen müssen! Nein, ich klärte ihn auf. Dass er einen preisgekrönten Autor von Short Stories vor sich sitzen hatte. Einen angehenden Bestesellerautor. Den King of Satzbau. Saufziegen-Ferdi. Bukowski.

"Short Stories? Was schreiben Sie denn? Ist ja interessant."

"Na ja.. Short Stories."

Wir einigten uns auf den 1. Februar als Antrittstermin. Was für mich drei Wochen Galgenfrist bedeutete, immerhin. Und: eine Vier-Tage-Woche statt Fünf-Tage, fürs gleiche Gehalt, wobei das Gehalt so klein war, es war kaum als Gehalt zu bezeichnen. Aber immerhin.

Da war nur noch eines.

"Sagen Sie, Herr Hafner, Eisenwarenabteilung, muss das sein? Können Sie mich nicht woanders einsetzen?"

"Hm.. Wo denn? Welche Abteilung?" Er sah mich gespannt an. "Was können Sie denn? Wo liegen Ihre Fähigkeiten?"

Wir blieben bei Eisenwaren.

 

*

 

Wo ich schon mal in Ohligs war, brachte ich den Vertrag gleich persönlich rüber zum Arbeitsamt. Während ich darauf wartete, dass Vermittler Buntenbach von der Mittagspause zurückkehrte, sah ich mich in der fast leeren Wartezone einer imposanten Frau ausgeliefert. Sie sah aus, als wäre sie mit dem Kopf voran durch die Babyklappe gerauscht und hätte das Auffangbettchen durchschlagen, das Baby wog nämlich hundertzwanzig Kilo und war gut vierzig Jahre alt. Ein fataler Anblick. Sie saß auf mindestens zwei Stühlen und blätterte hektisch in einer Broschüre des Arbeitsamtes.

"Das wird immer schlimmer", krächzte das Babyface, ohne den Blick aus dem Prospekt zu heben. Ich fragte mich kurz, mit wem sie überhaupt redete, doch da ausser mir niemand anwesend war, ging ich davon aus, dass sie mich meinte. "Früher durfte man so viel Hunde mitbringen, wie man wollte, kein Problem. Dann durfte nur noch einer mit rein und der andere musste draussen bleiben. Und heutzutage?" Sie stampfte mit dem Bein auf, und der Ständer mit den vielen ungelesenen Tipp & Tricks am Arbeitsmarkt vollführte einen kleinen Rittberger. "Heutzutage dürfen Hunde gar nicht mehr mit rein! Nehee! Muss ich zuhause lassen! Aber was glauben Sie, was los ist, wenn Mutti gleich heimkehrt. Die beiden Racker reißen mir doch die Bude ab, wenn ich zwei Stunden weg bin! Und wer bezahlt mir den Schaden, Nürnberg etwa? Der feine Missjöh Buntenbach?"

Die Scharniere des Stuhls jammerten, als sie ihren massigen Körper erhob. Sie wurde so laut, beinah schrie sie mich jetzt an.

"Die verbieten mir, meine Hunde mitzubringen, und wissen Sie auch warum?" Sie glotzte über den Rand der Tipps & Tricks hinweg. "WEIL DIE UNZUFRIEDEN MIT SICH SELBER SIND, DIE WEIBER, DESWEGEN! UND DER FEINE MISSJÖH AUS KÖLN AUCH!"

Ich war heilfroh, als mein Sachbearbeiter endlich aus der Pause zurück war. Er warf einen Blick in den Vertrag und stutzte kurz, als er die Spalte Arbeitszeit/Stunden erreichte, wo Filialleiter Hafner mit Bleistift eine "32" eingetragen hatte.

"Wieso nur zweiunddreißig Stunden?"

"Weil die mich keine vierzig Stunden gebrauchen können", log ich dreist, aber es kümmerte ihn ohnehin nicht. Hauptsache, ich war eine Weile aus der Statistik. Volle sechs Monate wurde ich nicht als arbeitssuchend geführt. Riesig. Dafür war Buntenbach beim Arbeitsamt angestellt. Das war sein Job, das war sein Leben. Ein Statistiksäuberer. Eine Reinigungskraft.

"So, Meister, am 1. Februar ist defintiv finis mit Feiern und Ausschlafen bis in die Puppen", sagte er nicht ohne Genugtuung. Dabei schlief ich so gut wie nie aus, und das mit der Feierei war auch nicht mehr so doll. Eigentlich steckte ich in der ersten echten Krise meines Lebens, Literaturpreis hin oder her. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Buntenbach senkte die Stimme, geplagt vom plötzlichen Tremolo seiner Augenlider.

"Sagen Sie.., die verrückte Dicke, sitzt die immer noch da draussen auf dem Flur?"

"Nee. Die steht jetzt."

 

*

 

1. Februar, morgens, halb neun.

Der Bus bog schon in die Haltebucht ein, als ich unten aus dem Park trat und die Straße hinauf blickte. Ich musste einen Spurt hinlegen, damit der Fahrer nicht ohne mich abfuhr. Busfahrern bereitete das in letzter Sekunde dieTür vor der Nase zuschlagen ein derartiges Vergnügen, dass sie daraus eine interne kleine Sportart kreiert hatten, mit täglicher Ausschüttung von Ehre und Schulterklopfen unter Kollegen im Depot der Stadtwerke.

Diesmal hatte ich Glück. Der Fahrer kam nicht umhin, ein paar drängelnde Schulkinder einsteigen zu lassen, und als das letzte endlich drin war, kam ich außer Puste angestürmt und zählte ihm drei einzelne Markstücke auf den Wechselgeldteller. Mit mürrischem Blick riss der Fahrer das Einzelticket vom Block, liess die Münzen in den Galoppwechsler purzeln und murrte los.

In Ohligs angekommen, steckte ich mir auf dem kurzen Fußweg zum Obi eine Kippe an und rauchte sie so gierig runter, dass es mir fast den Zeigefinger ansengte. Ich war eine volle Stunde zu spät. Ich nahm die Treppe zum Büro des Chefs, aber das war leer. Ich versuchte es im Personalraum. Die blonde Sekretärin hockte am Tisch und blickte mich an.

"Na halloo..", flötete sie erstaunt.

"Morgen", sagte ich.

".. hat er sich Brötchen mitgebracht!"

Wie niedlich. "Das ist ein Schinken-Baguette", sagte ich.

Ihre blonde Rund-Frisur erinnerte an Prinz Eisenherz.

"Komm, wir trinken erst mal einen Kaffee." Sie erhob sich und stöckelte zum Heißgetränkautomaten in der Ecke, schloss ihn auf. Ihre Levis war so knalleng, ich fragte mich, wie man es da reinschaffte ohne blaue Flecke und Schürfwunden. Vielleicht war sie seit dem vierzehnten Lebensjahr Stück für Stück in die Blue Jeans reingewachsen, ohne sie seither ausgezogen zu haben. Es gab Möglichkeiten, klar, doch die waren limitiert und hauten allesamt nicht hin. Nein, ihr Hintern war schlicht grandios. Er knackte und knirschte bei jeder Bewegung, wie ein Lattenzaun während der Hundstage.

"Kostet normalerweise fünfzig Pfennig, aber heute ausnahmsweise.." Sie ließ den Satz unvollendet und lächelte kokett. Oh, natürlich, sie wusste um ihre Wirkung. So oft es ging, zeigte sie sich von hinten. Starr mir ruhig auf den Hintern, sagten ihre Bewegungen. Wünsch dir was. Der Kaffeebecher lief randvoll, und sie schloss den Automaten zu. "Ich kann ihn dir nur schwarz anbieten, aber ich hoffe, das macht nichts."

Sie setzte sich zu mir. Leise drang die Fumu in den Pausenraum, funktionelle Musik, Kaufhaus-Muzak, You make me shiver, makellos sanfte Wellen, die unsere Füße umspülten. Wir saßen nebeneinander, auf Abstand bedacht. Wie das so ist, wenn man sich nicht kennt, aber schon ahnt, dass man sich bald nahe kommen wird, unter Kollegen.

Während ich am Kaffee nippte, öffnete sie eine Pausenbrotdose und entnahm ihr eine Weissbrotstulle. Oh mein Gott. Wenn ich vor irgendetwas Horror hatte, dann vor Situationen im Pausenraum, wo eine Kollegin oder ein Kollege das Frühstücksbrot rausholt und Mahlzeit wünscht. Schlimmer als Kotze im Federmäppchen, das war der Untergang der Zivilisation.

"Nutella", grinste sie. "Gibt Muckis."

(Ich versuchte ein Lächeln.)

"Ich hab dein Foto im Tageblatt gesehen. Was schreibst du denn? Schreibst du richtig Romane?"

Das Foto war ein paar Tage vor Silvester im Lokalteil erschienen, es zeigte mich vor einer Schulklasse. Ich saß auf dem Pult und liess die Beine baumeln, das Manuskript in der Hand. Der Deutschlehrer einer Realschule hatte mich zu einer Lesung eingeladen, ich hatte Arnheim, der Blues gelesen, vor einem Haufen Zehntklässlern, die sich einen Schriftsteller irgendwie anders vorgestellt hatten. Seriöser, ohne Löcher in der Jeans, nicht so .. Glumm.

"Nee, Romane nicht.." Was die Leute sich immer vorstellten. Ein Schriftsteller schreibt Romane. "Eher.. Geschichten."

"Geschichten? Was für Geschichten, Krimis?"

"Nee.. aus meinem Leben."

"Aus deinem Leben?" Sie glotzte mich an. "Ist das denn so super spannend?"

"Nee."

Sie schüttelte den Kopf und futterte ihr Nutellabrot weiter. Kein Malocherfuttern glücklicherweise, eher ein mausartiges Knabbern. Dennoch schwante mir bereits, dass wir beide auf Dauer nicht klarkommen würden. Sie erwartete zu viel. Solche Menschen roch ich auf zehn Meilen, und sie saß direkt neben mir. Was mich betraf, so erwartete man am besten nichts. Gar nichts. Dann konnte ich allmählich kommen. Vielleicht.

Oder auch nicht.

"Veröffentlichst du auch richtig Bücher?"

Da hatten wir's. Ein Schriftsteller veröffentlicht Bücher. Gibt es ein Thema, das demütigender ist für einen Autor ohne Buch? BÜCHER!!? In die Enge getrieben, begann ich zu stammeln, "in also mehr ja so Stadtmagazinen", doch es juckte sie ohnehin nicht weiter. Kaum ausgesprochen, schon abgehakt.

"Ich hab das Foto von dir hinten am Schwarzen Brett aufgehängt. Wenn schon mal eine Berühmtheit hier arbeitet.."

Ich suchte nach Anzeichen von Ironie in ihrem Gesicht, nach leisem Spott und milder Herablassung, doch ich fand nichts. Ihr Gesicht war hübsch, einladend sogar, aber frappierend frei von allem, was irgendwie mit Verstellung zu tun hatte. Sie stand auf, brachte die Kaffeebecher zur Spüle. Eine ehrliche Haut mit einem ehrlichen, gradlinigen Hintern, einem famosen knackigen Teil in Vollendung. Ja, genau den musste der Herrgott im Kopf gehabt haben, damals, als er im Paradies die Blue Jeans erfand und was sich so alles für Ärsche darin verpacken ließen.

"Im Büro hab ich mitgekriegt, dass du unten am Kannenhof wohnst", meinte sie. "Ich wohne auf der Baumstrasse, kann ich dich morgens im Auto mitnehmen. Wenn du willst."

"Baumstrasse? Och. Ist ja um die Ecke."

"Eben. Gut, ne?"

Ich wunderte mich einen Moment, warum ich sie noch nie gesehen hatte, vermutlich war sie die Sorte Frau, die morgens den Wagen bestieg, der vorm Haus parkte, und zur Arbeit brauste, und am Abend das gleiche in umgekehrter Reihenfolge erledigte. Solche Leute bekam man selten zu Gesicht, selbst wenn sie im selben Haus wohnten.

"Dann musst du morgens nur kurz durch den Park", sagte sie. "Ich mein, du fährst doch kein Auto, oder?"

"Stimmt."

"Warum nicht?"

"Was, warum nicht?"

"Na, warum du kein Auto fährst. Alle Männer fahren Auto."

Ich zuckte mit den Schultern.

"Nur so."

Ich war nicht alle Männer. Ich war nicht mal alle Menschen. Ich war.. ja, wer war ich überhaupt!? Kaum hatte ich mich kurz gefreut, nicht jeden Morgen dem verdammten Bus nachrennen zu müssen, schon grauste es mir bei der Vorstellung, jeden Morgen neben Prinzessin Eisenherz sitzen zu müssen, Knackarsch hin, Knackarsch her. Morgens wollte ich meine Ruhe haben, da konnte ich kein Geblubber, kein Gewäsch ertragen.

"Ich kann mich ja am Spritgeld beteiligen..", hörte ich mich dennoch sagen, zu meiner eigenen Verblüffung.

"Quatsch. Ich fahre doch sowieso, ob nun mit oder ohne dich."

Na, da hatte sie recht. Sie begann trotzdem zu rechnen.

"Was kostet eine Busfahrt bis Ohligs, zwei Mark?"

"Drei."

"Drei.. sind hin und zurück sechs Mark am Tag. Wie oft arbeitest du hier in der Woche?"

"Vier Tage."

"Nanu? Nur vier? Na gut, macht vierundzwanzig Mark die Woche, mal vier, das sind.. fast hundert Mark im Monat. Die hast du dann schon mal gespart. Kannst du ja Bücher für kaufen! Ha ha!"

Lustig. Ja. Schriftsteller veröffentlichen Bücher, Schriftsteller kaufen Bücher. Das letzte Buch, das ich mir gekauft hatte, hatte ich geklaut. A-wop-bop-a-loo-bop-a-lop-bam-booom von Nik Cohn. Meine Bibel. Ich las sie alle drei Monate, zur Abhärtung. Sie schaute auf die Uhr und packte die verbliebene Hälfte ihres Nutellabrotes wieder ein, unauffällig, wie nebenbei, als wäre eine Stulle im Pausenraum nicht der Untergang des Weissbrot-Parallel-Universums.

"So, dann wollen wir mal.."

"Und du? Seit wann arbeitest du hier?" versuchte ich meinen Knastantritt rauszuzögern.

"Vier Jahre. Ist ganz gut hier. Lässt sich aushalten. Die meisten Kollegen sind in Ordnung. Paar Arschlöcher sind darunter, klar, aber Arschlöcher findest du überall."

"Ja klar. Vielleicht bin ich ja auch ein Arschloch."

"Ja, vielleicht." Sie lachte. "Ich bin die Gabi."

"Ich der Glumm."

"Weiß ich doch."

Erst jetzt bemerkte ich die Putzfrau im Pausenraum, die um unsere Füße herum wischte. Eine Bilderbuchputzfrau mit strubbeligem Haar, um die vierzig und offensichtlich darin geübt, nicht zu stören, wenn die Großen sich unterhalten. Ich fühlte mich ein bißchen schäbig, dass ich die Frau zuvor nicht wahrgenommen hatte. Doch als Gabi sie fragte, ob sie nicht mal wieder zum Frisör gehen wolle, ganz ohne boshaften Unterton, eher neugierig, da richtete sich die Putzfrau keuchend auf und antwortete, dass sie dafür im vergangenen Jahr keine Zeit gefunden habe. Und dabei vermittelte sie nicht den Eindruck, besonders unglücklich zu sein. Erleichtert lehnten wir uns zurück. Die Putzfrau mit dem Duktus einer Putze wrang das Putztuch aus und das Wischwasser platschte in den Eimer.

Der Chef rief mich ins Büro. Filialleiter Hafner hatte ein steifes Fußballerbecken, mit dem er durch die Gänge schaukelte und die Sympathien seiner Mitarbeiter einheimste. Auch er zeigte sich von meinem Autorenpreis beeindruckt. So schwer, dass ich auf seinem Schreibtisch ein schmales Lyrikbändchen entdeckte. Während er mir meine zukünftigen Aufgaben als Mitarbeiter der Eisenwarenabteilung schilderte, schielte er immer wieder auf das dürre Büchlein, das so gar nicht zum nüchternen Ambiente seines Büros passen wollte. Es lag für meine Augen verkehrt herum, lediglich das Wort Lyrik konnte ich entziffern. Hafner verfolgte meinen Blick, meine Bemühungen, sagte aber weiter keinen Ton dazu, und ich hielt auch die Klappe. Als ich ein oder zwei Tage später das Büro aufsuchte, war das Gedichtbändchen weg, und es tauchte niemals wieder irgendwo auf.

 

*

 

Einen Monat später war die Einarbeitungszeit vorüber. Allmählich wurden nicht nur die Kollegen sauer, weil ich immer noch ohne Kittel herumlief und für die Kunden nicht als Mitarbeiter zu identifizieren war. Auch der Chef wurde ruppiger, wenn die Sprache auf das Thema Kittel kam. Bis dahin war es ein Leichtes gewesen, mich aus dem Tagesgeschäft herauszuhalten und lästige Anfragen der versammelten Kreisheimwerkerschaft abzuwimmeln. Mittlerweile aber, so die Auffassung des Chefs, wüsste ich doch, in welcher Abteilung welche Ware zu finden sei, da könnte ich auch endlich den Obi-Kittel anziehen. Ich kam aus der Nummer nicht mehr raus. Ab sofort hieß es für mich, auch mit Kittel unsichtbar zu sein. Die Königsdisziplin des Verpissens stand unmittelbar bevor.

Eigentlich nichts leichter als das. Als Zweitgeborener in einem Feld von drei Geschwistern war ich mit dem Phänomen aufgewachsen, unsichtbar zu sein. Nicht weiter aufzufallen. Sandwichkind eben. Wenn ich etwas ausgefressen hatte, hiess es für mich nur normal und unauffällig bleiben, so kam niemand auf die Idee, ich wäre der Täter gewesen, der den Fischteich des Nachbarn mit zwei Flachmännern Doornkaat vergiftet hatte. Es war die perfekte Tarnung. Trick 17. Wie auf den Leib geschrieben. Tue so, als wäre alles wie immer, und dir wird nichts geschehen.

Die Königsdisziplin ging vom ersten Tag an schief. Weil ich Kittel trug, traten die Kunden ungeniert an mich heran: junger Mann, wo finde ich Fugendichtungen, wo Gardinenstangen, ich benötige vier Bewegungsmelder. Ich log bedauernd, tut mir leid, ich bin heute erst den ersten Tag hier, Sie wenden sich besser an meine Kollegen.

Oh, sagten die Leute, natürlich, ist ja klar, wenn das Ihr erster Tag ist, können Sie natürlich nicht Bescheid wissen, lassen Sie mal gut sein, junger Mann. Dankeschön.

Der Chef kam schnell dahinter, was ich da abzog. Er wurde richtig böse. Mit seinem Fußballerbecken baute er sich vor mir im Gang auf.

"Hören Sie mit der Lügerei auf, das bringt doch nichts!"

Ab sofort nahm ich mir vor, stets bei der Wahrheit zu bleiben.

"Tut mir leid, der Herr", sagte ich, "aber ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, ich bin heute erst den vierundsechzigsten Tag hier.."

"Ach so! Das ist erst Ihr vierundsechzigster Tag heute! Nee, das ist klar, junger Mann!! Da können Sie natürlich nicht wissen, wo die Kasse ist!"

Nach drei Monaten wurde der Vertrag einvernehmlich aufgehoben, und ich zog mich an den Schreibtisch zurück.

 


Ich bin ein Glumm

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*

Der Kurze, der inmitten einer lärmenden Kindergartentruppe in die Linie 683 eingestiegen ist, sucht sich zielsicher den freien Platz mir gegenüber aus und lässt die Beine baumeln. Die Schuhe tragen winzige Stahlkappen.

“Wie heißt du eigentlich?” fragt er sofort und in einem Ton, als hätten wir uns schon stundenlang unterhalten und als wolle er jetzt endlich wissen, mit wem er es hier zu tun hat, verdammt.

“Andreas”, sag ich erstaunt.

“Und mit Nachnamen?”

“Äh.. Glumm.”

“Wie??”

“Glumm.”

“Was ist das denn, ein Glumm?”

“Na, das bin ich. Ich bin ein Glumm.”

Er guckt mich verständnislos an, aus großen fruchtigen Augen.

“Und wo willst du eigentlich hin?”

"Das möchte ich auch zu gerne wissen", sag ich.

"Was..?"

“Nach Gräfrath. Ich muß nach Gräfrath. Und du?”

“In die Kinder-Uni.”

“Die Kinder-Uni??”

“In die Kinder-Uni.”

“Aha. Und wo ist die?”

“Weiss nicht. Frau Kaiser!! Wo ist die Kinder-Uni?”

“In Elberfeld, Moritz.”

“In Elberfeld.”

Gut. Wir fahren noch einige Stationen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dann hab ich mein Ziel erreicht. Ich steh auf und räume den Platz für einen kleinen Kommilitonen, der im Gang steht und einen Comic liest: JETZT MIT NOCH MEHR MONSTERN.

“Machts gut”, sag ich.

“Du auch, Glumm.”

007 in: Jahreswechsel

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Silvester zu dritt vorm Fernseher verlümmelt. Ausnahmsweise durfte der Hund mit ins Bett. Es lief Außer Atem, das Original von 1959. "Das Schlimmste im Leben ist Feigheit", hörte ich Belmondo krächzen. Er nuckelte an einer Maiscigarette, dann schlief ich ein.

Meine Schwester hatte eine Mail geschickt, ob wir Lust auf Fondue hätten inklusive einem Schälchen Wasser für den Hund, in intimer Runde, doch die Mail war schon einige Tage alt, als ich sie entdeckte. Aber wir waren eh zu müde und geschlaucht. Wir waren zuhause besser aufgehoben. Es gab doppelt gesüßten Baldriantee und einen Tierfilm, danach den Belmondo.

Dabei wollten wir es richtig krachen lassen. Wir wollten das neue Jahr ans Laufen bringen, wie es sich gehört:  Auf den zusammenkrachenden Trümmern des alten Jahres. Ich hatte im Discountmarkt eine extrafette Bang! Bang!-Tüte besorgt und 90 Sekunden Goldregen, aber dann war die Ballerei längst im Gange, als ich endlich wach wurde.

"Welch lustig Gewitter Silvester doch ist!" spöttelte die Gräfin am offenen Fenster. Es pfiff und es donnerte. Ich war noch halb im Schlaf, es war kalt im Zimmer. Im Fernsehen lief ein James Bond-Film. Ich wickelte mich in die Decke ein und stand auf. Der Hund kam schwanzwedelnd auf mich zu.

PRAAAFFF!
SSSSIIIIIIIIIIIIIIIIIII..!!
SELLLIPPZZZZ!!!

"Kein Schwein feiert mehr ne verfickte Party, aber kaum ist es Silvester, kracht es aus allen Löchern", murrte die Gräfin.

"Warum hast du mich nicht geweckt?" fragte ich.

Ich ging mit einem Kuss auf sie zu, in meine Decke gehüllt. Ich fühlte mich wie Woodstock. Auf dem großen Wendeplatz vorm Haus wälzte sich der Raketennebel über den Asphalt, wie riesige graue Flusen. Die Nachbarschaft feierte mit Sekt.

"Guck mal..", sagte sie.

"Ja", sagte ich. "Super."

"Nicht da! Hier!"

Ich blickte sie an.

"Hübsch", sagte ich.

"Herpes", sagte sie.

Ach so. Das da. An der Oberlippe.

"Hab ich mir eben gefangen, und jetzt find ich die Herpes-Salbe nicht."

Während 13-Etagen-Knatter-Batterien den Himmel erleuchteten und pfijuuh! die nächste Fontäne heulend den Erdboden verliess, suchten wir die verschollene Salbe.

"Die hab ich wieder irgendwo verbummelt", murmelte die Gräfin resignierend, während ich das Badezimmerschränkchen auseinandernahm.

"Mannomann, ist das wieder ein Hörnchen“, stöhnte sie in den Spiegel. "Und wie das brutzelt. Geht ja gut los, das neue Jahr."

"Lass uns den Herpes doch einfach wegsprengen", schlug ich vor. "Wie in Moonraker! Wir hängen einen Böller dran, und RAWITZZZ! ist das Böhnchen platt!"

"Moonraker.. Wieso Moonraker? Was war denn da?"

"Null Null Sieben!"

"NA, DAS WEISS ICH SCHON! ABER.. ach, schon gut."

Sie belauerte sich im Spiegel.

"Würde jedenfalls ne hübsche Kaskade abgeben, wenn der Herpes explodiert."

Immerhin wusste ich jetzt Bescheid, warum sie partout keinen Neujahrs-Kuss wollte, da konnte ich sie in meiner Woodstock-Decke noch so umgarnen.

"Sag mal.. einen Kuss gibts hier wohl nicht mehr!?" maulte sie keine Sekunde später. "Bin ich jetzt verpönt wegen meinem Böhnchen am Mund?"

Vonwegen. Ich kam mit einem Monster rüber, einem zeitlosen Monster von Zungenkuss. Martinis, Girls, Guns, Kisses – alles kein Problem für 007.

Plötzlich Getrappel im Hausflur. Gus, der Altpunk aus der Wohnung über uns, schleppte sich schwer erkältet die Treppe runter, mit 99 Schuss und seinem Sohnemann.

"Du Scheisse", sagte ich zur Gräfin, "es geht los."

Jedes Jahr Silvester war es das gleiche: der Sohn hielt Gus auf Trab.

"Los, Papa, fang an! Ich hol schon mal Nachschub!"

Die Gräfin nahm ein flackerndes Teelicht vom Tisch und streckte es weit aus dem Fenster, eine kleine Mitternachtsmesse in all dem furiosen Gewimmel. Mir warf sie eine olle Wäscheklammer zu.

"Hier."

"Was soll ich damit?"

"Na, Krach machen."

Ich ging zu ihr ans Fenster und liess die Wäscheklammer aufspringen. Das ploppte vielleicht! Ich stand da, mit aufgeploppter Wäscheklammer.

Gus entdeckte uns. "Frohes Neues!" rief er heiser. Er hatte bestimmt zehn Kilo abgenommen in den letzten Tagen. Er sah aus wie ein Gespenst. Der Lichtschein der Raketen und die umhertanzenden Leuchtregen erhellten sein geschundenes Gesicht, all die Sex Pistols & Madness-Furchen der wilden 70er, all die eisenharte Alt-Akne.

"Du hast doch auch was zu Ballern geholt", sagte die Gräfin zu mir. "Warum gehst du nicht raus und knallst auch ein bisschen?"

"Nee.. lass mal. Das bewahren wir schön auf", sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. "Wenn im Sommer kein Schwein damit rechnet, fallen am Kannenhof plötzlich Bomben vom Himmel. Wie in Moonraker."

Erst als Gus und sein halbwüchsiger Sohn auch um eins noch Kanonenschläge in den frostigen Himmel schossen und kein Ende in Sicht war, fing es auch in unserem Bett bedrohlich an zu rumoren. Und das kam nicht vom Hund.

"Macht das dumpfbackige Geschmeiss da draussen auch mal Schluß?"

*

Neujahr. Wir schliefen lange, gingen erst um halb zwölf mit dem Hund vor die Tür.

"Weißt du noch letztes Jahr Silvester?" sagte ich. "Da haben wir direkt vor unserem Fenster fette Fontänen gezündet." Natürlich erinnerte sie sich. Es war das allererste Mal in all den Jahren gewesen, dass wir ein Feuerwerk gekauft hatten. "Und diesmal haben wir nicht einen einzigen Knallfrosch geworfen", fuhr ich fort, als wir am Zedernweg einen Riesenhaufen abgebrannter Feuerwerkskörper passierten.

"Na, du wolltest ja nicht", sagte die Gräfin.

"Ja, aber jetzt will ich."

Dann die Überraschung. Das Omen. In all dem Raketenmüll, der auch zwölf Stunden später noch nach Schwarzpulver roch, fiel der Gräfin diese Römische Licht-Batterie auf, festgebunden an einem Zaunpfahl - wie an einer Raketenstation:

Effekthöhe 25 Meter, Brenndauer 60 sec.

"He.. die ist ja gar nicht abgefeuert. Da ist ja noch die Lunte dran, guck mal. Die haben die Rakete festgebunden und dann in der Dunkelheit vergessen zu zünden."

Tatsache. Und so kamen wir am Neujahrstag, Punkt 12 Uhr, doch noch zu unserem Feuerwerk. NUR 1X ANZÜNDEN stand groß auf der Rakete geschrieben, und dann machte es genau ein Mal POKK und eine lumpige Rauchsäule stieg auf, 15 Zentimeter hoch, das wars, fertig, aus.

"Wie? Das soll alles gewesen sein?" rief die Gräfin, die noch immer Erwartungen ans Leben hegt, und plötzlich gings los: PIUHH! PIUHH! PIUHH! pfiff es in den schneegrauen Himmel, ein 210-Schuß-Feuersturm-Pyro-Leuchtspektakel, als hätten sich Ufos am hellichten Tag unter die Wolken gemischt, vom Planeten Salsa.

Und was sagt uns das nun fürs neue Jahr?

"Konservativ bleiben, nicht mit Behörden anlegen", las die Gräfin abends das chinesische Orakel am Teebeutel des Yogi-Tees vor. "Und ein kleiner Abstauber ist immer drin."

In diesem Sinne.

Filmkuss

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"Du..?” Spätabends, wir liegen im Bett, ich bin schon fast weggeduselt, wispert sie in mein Ohr. “Du..?”

“Mh..?”

“Sag mal, können wir nicht endlich einen Film über mich drehen?”

“Wie.. was fürn Film?”

“Weiss nicht. Egal. Nur ein Filmkuss muss dabei sein. Ein altmodischer Filmkuss, du weißt schon, wo man nur so tut, als ob. Was meinst du? Kriegen wir das hin?”

“Warum nicht, aber.. Welchen Schauspieler willst du nehmen, für den Filmkuss? Wen willst du.. küssen?”

“Na, jedenfalls keinen Schönling. Keinen Johnny Depp. Dann schon lieber.. Bukowski.”

“Der ist tot.”

“Nein, ich meine jemand, der Bukowski spielt. So einen möchte ich im Film küssen.”

“Aha. Und wenn, sagen wir, Johnny Depp Bukowski spielt? Geht das?”

“Nein. Kein Schönling. Basta.”

“Gut. Und was ist mit Stuntmen? Brauchen wir Stuntmen für waghalsige Stunts, damit deine Schauspieler keine Rückenschmerzen kriegen, wenn sie aus deinem Film wieder rausklettern?”

“Stuntmen..?! Was redest du da?! Mach doch nicht immer alles so kompliziert! Ich will doch nur einen Film über mich im Kino sehen, wo ich die Beste, die Schönste, die Schillerndste bin und einen kleinen Filmkuss abkriege! Das kann doch nicht so schwer sein! Herrgott noch mal!”

Ri Ra Rau - RSV!

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Schau, die krummen Beine. Die gehören dem Dichter. Dabei wollte ich Fußballspieler werden. Rechtsaußen und so. Aber ich habs übertrieben. Das Dribbeln. Die Drogen. Eines Tages hab ich keine Lust mehr gehabt, bin zu Hause geblieben. Hab die Kameraden klingeln lassen, ein Gedicht geschrieben und mir gedacht, da wird nie was draus. Nun ja.

*

Tornato

Lonnie

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Zum zehnten Geburtstag des 500beine-Blogs geh ich auf ein großes Jubiläums-Kölsch in den Kotten, eine harte Trinkerkneipe am Neumarkt, härter als der Stahlhof, den es nicht mehr gibt, und fast so verrufen wie das Stonns, das es schon lange nicht mehr gibt. Die geradlinig grimmige Möblierung des Kotten ist ganz aufs Stammpublikum zugeschnitten., das sich aus tätowierten Dachdeckern und Gerüstbauern sowie deren Kredite abstotternden tätowierten Bossen zusammensetzt. Es gibt einen Haufen Kurzarbeit und einen kleinen Saal mit Bühne, wo schon vormittags Karaoke-Abende stattfinden. Im Winter spielen Punk-Bands zum Tanz auf, goldene Nächte, in denen sich Neo-Hippies aus dem kernigen Düsseldorfer Norden mit Dachdeckern der Solinger Nordstadt verbrüdern, und es gibt jedes Mal reichlich was auf die Nase.

Lonnie kommt zur Tür rein.

Er nimmt den grünen Filzhut vom Kopf, legt ihn auf den Tresen und bestellt ein Bier. Erst bin ich mir nicht sicher, ob das auch tatsächlich Lonnie ist, er hat sich die schummrigste Ecke des ganzen Ladens ausgesucht, außerdem haben wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Er macht einen nachdenklichen Eindruck. Wie jemand, der Sorgen hat. Vielleicht ist er auch einfach nur nüchtern. Seine größte Sorge. Ich grinse versuchsweise in Lonnies Richtung, er nimmt den Blick auf, wie ein Stier, der gleich abtaucht, dann grinst er zurück, bleibt aber auf Gefechtsstation. Na gut.

 Ich geh rüber.

“Lonnie”, sag ich.

“Hallo..”, sagt er.

Schon Mitte der Achtzigerjahre dokterte Lonnie, vielseitig talentiert, an einem Groß-Roman, einem Sittengemälde mit dem ebenso treffenden wie bombastischen Arbeitstitel Der Patienten-Planet. Ich war zufällig dabei, als er auf einer Fete im eigenen Wohnzimmer einige Vertraute um sich scharte und aus dem frischen Manuskript vorlas. Es war noch etwas konfus, klar, aber es hatte Richtung und Stil.

Nach der Wende ging er nach Dresden und machte einen Haufen Geld mit Neuwagen, fing wieder an zu trinken, verlor den Führerschein und kehrte zurück in die Heimat, pleite, verschuldet, total übersäuert.

Wir stehen am Tresen und unterhalten uns ein bisschen, Lonnie bleibt merkwürdig zurückhaltend, so kenn ich ihn gar nicht, aber gut – die Leute verändern sich, man wird älter, langweiliger, verhaltener.

“Benzini mal gesehen?” frag ich wie nebenbei, und das ist der Startschuss.

Lonnie reißt die Augen auf und schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, als wären es Küchenkacheln. “Jetzt weiß ich, wer du bist..!” Er lacht so kraftvoll und ordinär wie früher im Mumms, als er der lauteste Patient von allen war. “Ich kack ab! Der Glumm..!! Und ich bin die ganze Zeit am überlegen, wer ist der Arsch noch mal? Das gibt’s doch nicht. Alter, siehst du jung aus!”

“Quatsch, hier ist es düster, das täuscht”, halte ich dagegen, “das mit dem Babyface ist definitiv vorbei.” Wenn ich in den Spiegel schaue, seh ich teigige Backen, ich glänze wie eine Speckschwarte. Wo ist meine verdammte Leichtigkeit hin?

“Ich weiß auch nicht”, meint Lonnie. “Wenn ich heute eine Runde Schaukeln geh auf dem Kinderspielplatz, bin ich zerstörter als früher nach drei Nächten am Tresen. Irre! Oder?”

In der folgenden Viertelstunde bringt mich Lonnie auf den neuesten Stand. Er erzählt, dass die Frau vom Joker an Speiseröhrenkrebs gestorben ist und am Ende, trotz heftigster Schmerzen, kein Opium erhielt, dass der Löwenmann beim Sprung über NATO-Draht den linken Finger verloren hat, dass Meckenstock eine Weile in England lebte, mittlerweile aber schon wieder ein Jahr in der Stadt ist.

“Und du? Was machst du?” meint Lonnie. “Schreibste noch im Internet?” Er überlegt. “Wie heißt deine Seite noch mal..? Moment! Sag nix!” Sein grüner Filzhut liegt vor ihm auf dem Tresen. Er nimmt ihn in die Hand, spielt damit herum. “Was war das noch, verflixt.. irgendwas mit Dackelpfoten, oder? Nee, wah?”

Er denkt angestrengt nach, die Augen zugekniffen, kommt aber nicht drauf.

“Der Joker liest die Seite immer, Benzini auch.. Ich komm gleich drauf. Ich habs auf der Zunge. Irgendwas.. mit Dackelpfoten! Nee!”

“So ähnlich. Ist ne orthopädische Seite”, helfe ich nach. “Fünfhundert..”

“.. Strümpfe..?! Moment: STÜTZSTRÜMPFE!!”

Lonnies Faust schnellt auf den Tresen nieder, das Bierglas macht einen Bocksprung.

Wusst ich’s doch!!

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