Das letzte halbe Jahr ging ich nicht mehr hin. Ich hatte die Nase voll. Ich war sitzen geblieben in der 11. Klasse, eine ganz und gar unnötige Geschichte, wegen einem Ungenügend im Leistungskurs Bio, einem Ungenügend in Philosophie sowie einem Ungenügend in irgendeinem anderen beknackten Nebenfach, Sozialkunde glaub ich, das von einem kruden Sozialkunde-Jesus in Jesuslatschen gegeben wurde - also, was hatte ich in diesem Laden noch zu suchen?
Am Ende der Sommerferien hatte ich die letzte Chance versemmelt, die Nachprüfung, wobei es schon gereicht hätte, in Bio auf eine 4 minus zu kommen, dann wäre ich doch noch versetzt worden, doch Vogel-Uli, der hagere Bio-Pauker, der mich auf den Tod nicht ausstehen konnte, "Glumm, Ihre ausgeprägte Ahnungslosigkeit erstaunt", verweigerte mir mit kaltem Atem das Upgrade, obwohl eine beisitzende Bio-Lehrerin mir im Nachhinein unter der Hand zu verstehen gab, dass meine Leistung an diesem Tag mindestens einer Vier entsprochen hatte.
In der neuen Klasse kam ich nicht zurecht, mir fehlten die bekannten Gesichter, die mich von der Sexta an begleitet hatten. Ich fühlte mich allein und verlassen. Wobei die dicken Freunde längst auf und davon waren. Karlos hatte das Gymnasium schon nach der Quarta verlassen müssen, ging kurz zur Realschule, wurde dann in die Hauptschule abgeschoben, die er ohne Abschlusszeugnis verließ, was aber egal war, da er ohnehin Kinski werden wollte. Der dicke Hansen war auf ein anderes aufgeschlosseneres Gymnasium gewechselt, der Mitsubishi Boy jobbte irgendwo auf dem Lager.
Ich war schon früh ein Gewohnheitstier. Ich gewöhnte mich an alles, auch an die falschen Sachen, was bedeutete, ich vermisste irgendwann auch alles. Eine Entwicklung, die schnurstracks in den Bankrott führt oder an die Spitze der Bankrotteure.
Muss man sehen, sagten die Philosofen.
Auf der anderen Seite wussten die neuen Klassenkameraden mit mir auch nichts anzufangen. Die neuen Lehrer hassten mich allein deshalb, weil ich nun in ihrer Klasse saß, mit meiner ganzen schulbekannten die Atmosphäre verpestenden Passivität, wie Vogel-Uli seine Kollegen vorgewarnt hatte - kurzum, nichts ging mehr in der Höheren Lehranstalt, und ich bald nicht mehr hin.
Um meine Eltern zu täuschen, hielt ich ein halbes Jahr lang das Bild des braven Schülers aufrecht, der jeden Morgen zur Schule ging, ganz wie im Spielfilm, wo der Ehemann längst seinen Job verloren hat, aber aus Angst vor der enttäuschten Ehefrau Tag für Tag pünktlich das Haus verlässt und bis Büroschluss die Zeit in der Nachbarstadt vertrödelt.
Morgens stand ich auf, wenn auch selten zur ersten Stunde, packte ein paar Schulsachen ein, nicht zu viele, damit die Tasche nicht zu schwer wurde, dazu ein Apfel und zwei Butterbrote, und machte mich auf die Socken. Ich strich durch die Plattenabteilungen der großen Kaufhäuser, ich saß in den stadtnahen Malteser Gründen auf der Bank.
Ab zehn, halb elf war ich im Stonns Fuot, einer zweistöckigen winzigen Hardcorekneipe am zentralen Graf Wilhelm-Platz, gleich neben dem Tchibo, und wartete, dass es Mittag wurde, Schulschluss, und ich endlich nach Hause durfte. Ab und zu trank ich ein Bier, doch meist hockte ich einfach am Tresen und blickte gelangweilt zur Glastüre hinaus in den Straßenverkehr. Nie wieder war ich so gelangweilt wie vormittags im Stonns in den späten 70ern. Ich wartete, dass irgendwelche Bekannte und Freunde zur Tür reinkamen, ich wartete, dass James, der vollbärtige Wirt, gute Musik auflegte, ich wartete auf den dicken Hellmann, der mit seinem schmuddeligen fetten Hintern so eben noch auf den Hocker passte und der Welt seine gewaltige Arschritze präsentierte.
Wenn ich ein bisschen zu kiffen hatte, verdrückte ich mich ins Grüne. Einmal saß ich auf der großen Wiese, die einem Bauern namens Pott gehörte und Potts Wiese hieß. Von Potts Wiese aus hatte man einen grandiosen Panoramablick über die Wupperberge, bis rüber nach Wuppertal-Cronenberg und nach Remscheid.
Ein warmer Wind strich durchs hohe Gras, Pferde schnaubten in der Nähe. Ich fühlte mich blass in der Sonne, blass und seltsam frei. Ich holte ein schwarzes Vokabelheft hervor und begann zu schreiben.
“Ringsum entblößen sich die Käfige..” schrieb ich, so begann mein erstes Gedicht. Das war die erste Zeile. Das war der Tag, an dem ich beschloss, Dichter zu werden. Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich ein Dichter war, der nicht mehr zur Schule ging. Dass ich schon seit Monaten nicht mehr dagewesen war. Ich war volljährig, ich hatte meine Entschuldigungen eine Zeitlang selbst geschrieben, dann hatte ich auch das sein lassen.
Als der graue Brief vom Gymnasium kam, "Ihr Sohn A. fehlt unentschuldigt seit soundsoviel Wochen und wird der Schule verwiesen", fielen meine Eltern aus allen Wolken und schlugen hart auf. Warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du so ein Heimlichtuer geworden? Nimmst du Drogen? Was soll werden? Vielleicht ein Dichter, sagte ich. Ein Schreiber.
SCHREIBEN? rief Vater.
Er war nicht richtig böse geworden, nein, es war nur so, er hatte mich nicht verstanden.. Vielleicht auch nicht, sagte ich. Vielleicht werde ich auch Trinker. Ich brauch erst mal Ferien. Ich fahre weg. Nach Portugal. An die Algarve. Wo es schön warm ist. Hier ist auch warm, sagte Mutter. Ja, aber nicht so schön warm. Du redest Unfug, sagte Mutter. Karlos fährt auch mit, sagte ich.
Karlos, schon lange der Schule und anderen lästigen Verpflichtungen enthoben, schlief bis in den Nachmittag. Manchmal kam er den ganzen Tag nicht aus dem Bett und hörte Klaus Kinksi-Schallplatten in der verqualmten kleinen Mansarde, die er bei seinen Eltern bewohnte. Manchmal las er meine Gedichte. Er schrieb selber auch welche. Sehr schön. Es konnte losgehen.
Bloß - was?
Wir verbrachten den Tag in den Malteser Gründen, zwischen verbeulten Zechern mit klumpigen roten Schnapsnasen und tranken Bier. Eine Palette Karlsquell, die übliche Einheit, 24 Dosen, die billigste Marke.
Wir lernten eine Menge schräger Figuren kennen, so wie den zwei Meter großen Hennes. Ein herzensguter Penner um die Fünfzig, der noch das letzte Stückchen Fleischwurst mit einem teilte. Wenn er voll war, und er war dauernd voll - gefangen im Korntext - begann Hennes Lieder aus der Heimat zu schmettern und dabei körperbetont zu schunkeln.
Er stammte von der Mosel, war auf Weinfesten groß geworden. Das mit dem Schunkeln wurde schnell zum Problem, weil er mit seinen wuchtigen zwei Metern und Pranken wie Pizzatellern alle Mann mit sich in die Tiefe riss. Mehr als einmal purzelten wir wild durcheinander, Weinflaschen stürzten zu Boden und zerschellten, es gab Tränen, Geschrei, blaue Flecke.
Hennes hatte seinen Pennplatz irgendwo hinter Wermelskirchen, kilometerweit entfernt. Oft schaffte er es abends nicht bis zu seinem Unterschlupf, einfach weil so spät kein Bus mehr fuhr und sich niemand erbarmte, ein stinkbesoffenes Riesenbaby mitzunehmen. Dann fiel er einfach zur Seite und schlief am Straßenrand ein.
Auch wenn Hennes das Kreuz eines Preisboxers hatte, er war lammfromm. Wenn er von seiner Kindheit erzählte, flennte er wie ein Bengel, der etwas angestellt hatte und der Mutter beichtete. Ich konnte nicht genug davon bekommen, sein Gesicht anzusehen. Er hatte große treue Hundeaugen und eine Haut wie mit Schmirgelpapier behandelt, und er mochte es, seine Freunde in die gewaltigen John Wayne-Arme zu schließen und an sich zu drücken.
Uff, stöhnte Karlos und duckte sich gekonnt unter ihm weg.
Einmal zeichnete sich ein frischer Pissfleck auf Hennes' Hose ab, er wurde größer und größer, fast wie ein Basketball. Wisst ihr, warum wir Männer lauter Unfug machen? krächzte er. Warum soviel Unglück und Leid in der Welt ist? Weil alle Männer Weltmeister werden wollen! Keiner will Vize sein!
Geschlossen prosteten wir dem Champ zu.
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