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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Reuzech für Ringo

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Ich hatte ihn lange nicht gesehen.

Ein dreiviertel Jahr vielleicht, und nun saß er neben mir an diesem gedeckten Wirtshaustisch. Um uns herum gedämpftes Palaver, Stühlerücken. Suppe wurde aufgetragen, Brotkörbchen gestellt, Pfeffer und Salz, Getränke. Schlagartig war Stille. Nur das Geklapper von Besteck war noch zu hören.

Porzellangebell.

Es war eine große ratlose Gesellschaft, die sich zu Ringos Beerdigungsfeier eingefunden hatte, auch Reuzech genannt: reuen und zechen.

Freunde von Ringo waren gekommen, Bekannte, Teile der Verwandtschaft, seine hübsche 24jährige Tochter und, nicht zuletzt, die 87jährige, beinah blinde und wunderbare Mutter, der Ringo so sehr geähnelt hatte, plus einige seiner Verflossenen, darunter Mary, die aktuelle, die letzte Geliebte, die Ringos Präferenz für einen gewissen Schlampenfaktor noch einmal trefflich bestätigte (und die es auch gewesen war, die ihn morgens tot im Bett aufgefunden hatte), - sie alle waren aufmarschiert, um Ringo das letzte Geleit zu geben.

Selbst ein Dutzend übernächtigter Hardcore-Junkies von der Platte war vor der Friedhofskapelle dem Nebel entstiegen, einige mit Blumen bewaffnet, und genauso schnell wieder abgetaucht, im bergischen Nebel.

"Das war jetzt ein Spuk, oder..?" flüsterte die Gräfin an meiner Seite.

Das abschließende Reuen und Zechen fand in einer gutbürgerlichen Gaststätte am Bärenloch statt. Der alte Holzfußboden knarzte.

"Wie isses dir?" fragte ich Tim.

Er zögerte. "Na ja.. geht so."

Tim, der bescheidenste Junkie, der mir je untergekommen war, der es hasste, Leute zu belästigen, der es hasste, belästigt zu werden, war der Präzedenzfall eines Einzelgängers. Eines schmal gewordenen Einzelgängers.

Ich mochte Tim. Es war etwas in seinem Wesen, etwas abwartend lässig-britisches, das mir imponierte. Aber es war nicht mehr zu übersehen: er war geschlaucht, er war dünn, er war fertig. Heroin geht an die Nieren, Heroin zehrt. Es verschont niemanden, der sich auf dieses Leben einlässt, so sehr man sich auch abmüht und Normalität vorgaukelt.

Soviel ich wusste, hatte Tim in den vergangenen Monaten sämtliche sozialen Verbindungen gekappt, nicht mal der Halbschwester war seine aktuelle Handynummer bekannt. Ich hatte sie in der Stadt getroffen.

"Aus einem Einzelgänger ist ein Eremit geworden", sagte sie.

Einer, der nur noch die nötigsten Drogen-Connections aufrecht hielt. Er war zum König der Wüste geworden, der Wüste in sich selbst. Ein König mit einem riesigen und leeren Königreich, ein König ohne Macht.

An diesem kühlen Novembertag, auf der Beerdigungsfeier von Ringo, saß Tim neben mir, verhuscht und durchgefroren, der Zufall hatte es so gewollt. Er zitterte, seine Nase tropfte. Die Machthaber hatten den rohstoffreichen Körper heruntergewirtschaftet, und sie gaben keine Ruhe. Der Abbau ging weiter. Sie schufteten im Akkord. Die Machthaber gaben sich nicht zufrieden. Es gab niemals genug Macht für Machthaber, und unter den ambitionierten Machthabern war Heroin der ambitionierteste. Er forderte Heerscharen von Untergebenen, er bekam Heerscharen von Untergebenen. Er forderte Tributzahlungen fern jeglicher Plausibilität, er bekam sie.

Doch bald zog mit jedem Löffel Suppe mehr Wärme in seinen Kreislauf ein, die käsige Blässe wich aus seinem Gesicht. Das Zittern wurde weniger, hörte ganz auf, und Tim wurde redselig, für seine Verhältnisse. Er sah mit einem Mal wieder aus wie zu der Zeit, als ich ihn bei Ringo kennengelernt hatte: ein Ska-Boy aus Nordengland, der zum Essen geladen war, ein junger Prinz, der wusste, wie man Canterbury zum Tanzen brachte.

“Tja-ja, der Ringomann”, sagte Tim und zeigte eine Reihe brauner Mausezähnchen. “Der Ringomann, der hat’s hinter sich, der hat's geschafft.."

Es war offensichtlich, dass Tim weniger von Ringo sprach als von sich selbst. Davon, dass er es noch nicht hinter sich hatte, dass er mittendrin steckte im Sumpf, im Struggle mit den Machthabern. Ein aussichtsloser Fight. Es gab nur die Möglichkeit, den Kampf für beendet zu erklären, das Handtuch zu werfen, andere Wege zu suchen. Aber der Tod eines guten Bekannten, eines Freundes beinah, denn das waren Ringo und Tim stets gewesen, Freunde beinah, war noch lange kein Grund, gegen die Machthaber anzustänkern, eine Revolution anzuzetteln womöglich, eine Revolution aus sich selbst heraus - nein, der Tod war kein Grund, Morphinmischern in aller Welt die Stirn zu bieten.

“Wohnst du noch unten.. in der na, wie heißt es noch.. Papageiensiedlung?” fragte ich.

Tim hatte die Geschwindigkeit erhöht, er löffelte die Suppe in sich hinein, als handelte es sich um die erste warme Mahlzeit seit dem Krieg.. seit dem Krieg mit sich selbst. Jeder Süchtige befindet sich im Weltkrieg mit den eigenen Dämonen. Tim kniete sich richtig rein. Selbst die eben noch so wächsernen Bäckchen wurden allmählich rot.

“Nee”, sagte er. "Nich mehr."

"Nicht mehr was?"

"Nee, da unten wohn ich nich mehr."

Ich blickte Tim an und fragte mich, wo eigentlich Blässe blieb, wenn sie aus einem Gesicht verschwand, wo sie sich versteckte, wohin sie sich verkrümelte bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie zurückkehrte. Denn sie war ja nicht aus der Welt. Sie würde wieder Einzug halten in diesem ebenmäßig geplünderten und immer noch schönen Jungengesicht.

"Wo dann?"

“Hm..?”

“Wo du wohnst, wenn nicht mehr.. da.”

Natürlich wollte Tim nicht darüber reden. Die Fragerei machte ihn nervös. Das ganze Thema. Er war kein halbwegs organisiertes Männchen, das wie andere halbwegs organisierte Männchen Wert auf ein Zuhause legte, im Gegenteil. Tim war ein total von außen kontrolliertes Männchen. Die Machthaber forderten drei komplette Morphinmahlzeiten täglich. Morgens ein Blech, mittags ein Blech, abends ein Riesenblech. Plus Tribute. Da blieb wenig Platz für ein Weibchen oder andere schöne Dinge im Leben. 

“..hab ich verloren”, raunte er.

“Was..?”

Ich hatte gerade zum Kopfende des Tisches geguckt, wo die Mutter von Ringo saß, hager und stolz, fast neunzig Jahre alt und erblindet.

“Die Wohnung.. hab ich verloren.”

Seltsame Formulierung, dachte ich. Als wäre ihm das Dach überm Kopf plötzlich aus der Hosentasche geplumpst und weg war es, kann man nix machen, da machst du nix, ja, ist doch so.

“Du meinst, du hast die Miete nicht gezahlt.”

Er nickte.

“Wie oft?”

“Na.. ja, halbes Jahr, oder so.. Weiß nich.”

Ich blieb hartnäckig. Ich interessierte mich dafür, wie die Leute sich durchs Leben schlugen. Durch den Alltag. Ich wollte ihn ja nicht besuchen kommen. Ich wollte nur wissen, was los war in diesem Gesicht. Wo er wohnte. Tim sah sich sorgsam um. Dreißig, vielleicht vierzig Leute waren nach der Zeremonie in der Friedhofskapelle in die Gaststätte am Bärenloch gefolgt, zum Leichenschmaus.

In der Kapelle hatte mich der Sarg amüsiert, weil der so merkwürdig kurz geraten war für ein langes Elend wie Ringo. Nachdem der Pfaffe lustlos seinen Psalm runtergemümmelt hatte, wurde auf Ringos letzten Wunsch der Ghettoblaster angeworfen, ein Stück von einer CD, der Trauergesellschaft in verschämter Lautstärke präsentiert.

Was folgte, war wie ein groteskes letztes Störfeuer von Ringo, ein letztes kleines Paradestück. Man sah den Ringomann förmlich mit seinen langen Beinen auf Wolke 9 sitzen, die elektrische Ted Nugent-Gitarre geschultert, das kantige Schmugglergrinsen grinsend. Denn kaum, dass der Song vom Radiorekorder einsetzte, ein harter Southern Rock Song, so wie Ringo es gern gehabt hatte, begannen - zufälligerweise! - die Glocken der Friedhofskapelle zu läuten, ein Artilleriefeuer aus Ding-Dong, Ding-Dong, das den Song phasenweise übertönte und an die Wand drückte.

RINGO! lachte ich still. DU BIST GAGA!

“Ich wohn im Proberaum am alten Nordbahnhof”, wiederholte Tim.

“Was denn? In der stillgelegten alten Fabrik, wo früher die kubanischen Tanzkapellen geprobt haben? Ist doch arschkalt da. Da ist doch überhaupt keine Heizung, oder?”

“Ja, doch, ich hab einen kleinen Heizlüfter. Aber seit zwei Wochen ist der Strom abgestellt.”

Der Flaum auf Tims Backen, das dünne Hitzeschild, war jetzt voll im roten Bereich.

“Wenn ich breit bin, brauch ich sowieso keine Heizung, dann ist sowieso schön warm, wie mit zehn jungen Katzen im Bett”, grinste Tim, als würde er mir was neues erzählen. Er langte zum Brotkorb, nahm einen Kanten Weißbrot und tunkte ihn in die restliche Suppe.

“Irgendwann..”

Er schob den Teller kauend von sich fort, und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.

Wenig später stand ich auf und ging um den Tisch herum, bis ich den Platz erreichte, wo Ringos Mutter saß. Ich hatte das Bedürfnis, ihr zum Abschied etwas Nettes mitzugeben. Ihr Sohn war nicht an einer einzigen Überdosis gestorben, es war eine ganze Versuchsreihe gewesen, eine Überdosis nach der anderen, bis der Körper, der alte Schutzmann, den Verkehr entnervt eingestellt hatte.

Was bleibt am Ende eines Lebens?Was bleibt nach all dem Abstrampeln für ein Schäufelchen voll Anerkennung, für die Momente des Durchatmens, für die paar Highlights? Für die vielen Fuffies?

Was bleibt?

Mir fiel nichts ein.

"Ringo war ein toller Typ", kondolierte ich der alten Mutter und drückte ihre überraschend warme Hand. "Er war ein Aufrechter. Er hat sich niemals klein gemacht, er hat sich niemals auch nur für irgendetwas in seinem Leben geschämt und klein gemacht, und das war.. ja, das war toll."

"Ja, mein Ringo, mein Ringo.. er war ein Lieber, aber er war auch ein Armer", sagte seine Mutter traurig.

Mütter dürfen so etwas sagen, wenn sie weinen. Und auch wenn sie nicht weinen, dürfen sie so etwas sagen. Mütter sind die große Ausnahme, weil man sich schon kannte, bevor man zur Welt kam. Und so nah wie in den neun Monaten Storchgeschäft im Bauch der Mutter, so nah kommt man niemals wieder einem Menschen.

"Ringo war ein toller Typ."

Einer wie Tim.


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