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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Du hattest immer so weiche schwere Augen

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Im Juni 2012, ich war noch angeschlagen von der Herzattacke, packten wir unser neues großes Zelt in den Wagen und fuhren Richtung Zeeland. Die Nordsee gilt seit meinen Kindheitstagen als Allheilmittel gegen körperliche Schwächezustände und Fehlentwicklungen jeglicher Art, aber diesmal war die Sache nicht so einfach. Ein Herzinfarkt heilt nicht mal eben so aus, nur weil man lange Strandspaziergänge unternimmt und salzige Meeresluft einatmet.

"Du hattest immer so weiche schwere Augen", sagte die Gräfin bekümmert, "aber seit dem Infarkt.."

"Was ist seit dem Infarkt?"

".. ist dein Blick so hart und aufgerissen, als hättest du das Böse gesehen.. so als hättest du einen Blick in die Hölle geworfen."

"Na ja, die Hölle hatte ich auch vor dem Infarkt schon gesehen", relativierte ich, "aber jetzt kenne ich auch den Hauptmann."

 

*

 

Leute, die dem Tod von der Schippe springen, erzählen gern, sie lebten danach intensiver und genössen jeden einzelnen Moment. Solche Leute waren mir schon immer suspekt, genau wie die Supertypen, die sich andauernd neu erfinden. Wie soll das funktionieren, wie soll man sich dauernd neu erfinden? Sind das alles fesche kleine Daniel Düsentriebs, die sich mit ihren Helferlein hinsetzen und bei flackernden LED-Strahlern auf Sternenstaub-Basis sämtliche Entdeckungen durchgehen, die noch nicht an der Tagesordnung waren? Ja, vielleicht. Vielleicht bedeutet sich neu erfinden aber auch gar nicht, ein Anderer zu werden, sondern lediglich der, der man schon immer hätte sein können.

Gut. Das hörte sich schon besser an.

 

*

 

Bei mir war es anders. Jedenfalls in der ersten Zeit nach dem Infarkt. Sagen wir, in den ersten sechs Monaten. Ich lebte nicht intensiver als vor der heftigen Herzattacke, ich versuchte nicht, etwas neues auszuhecken. Im Gegenteil, ich fühlte mich eher meiner Sicherheit beraubt, meinem geradezu unverschämten Glauben an die Unversehrtheit des Andreas Glumm, an die tausend Leben des Andreas Glumm. Mein Universum war beschädigt, mein Urvertrauen war beschädigt. Mein Urvertrauen, ewig zu leben und das Sterben den Anderen zu überlassen. Den sterblichen Seelen unter uns.

Muss es ja auch geben.

Daran kannst du nicht wirklich geglaubt haben, mag man einwenden, dass Andere sterben, nur du nicht, so naiv kann man doch nicht sein. O doch, kann man, und dazu muss man noch nicht einmal ausbuchstabiert an das Konzept von Ewigkeit glauben - es reicht schon, nach diesem Prinzip zu leben.

Leben reicht in aller Regel.

 

*

 

Vielleicht war die Idee nicht so gut, kurz nach einem Infarkt und dem Einbringen von drei Blutgefäß-Stents in die Herzkranzgefäße ans Meer zu fahren.

Als wir am zweiten Urlaubstag in der Mittagsglut von Zeeland eine Wanderung durch das Reservat De Zwarte Polder unternahmen, bekannt für seine blauen See-Disteln und brütende Vögel, stieß ich an meine Grenzen. Wie ein leck geschlagenes Schiff, in dessen unteren Mannschaftsräumen das eindringende Wasser hin-und her schwappte, manövrierte ich mit schweren Beinen über die sandigen Wege und lief bald auf Grund.

Ich war heilfroh, als wir endlich den Strand-Pavillon erreichten und die Gräfin es bei knallheißen fünfunddreißig Grad im Schatten übernahm, zwei große Gläser heißen Pfefferminztee zu ordern.

Am nächsten Tag begann es zu regnen, und hörte nicht mehr auf. Es war regelrecht Monsun. Wir saßen mit aufgespanntem Regenschirm im Zelt fest wie in einer großen Fruchtblase und konnten nichts anderes tun als dafür zu sorgen, dass wir nicht fortschwammen oder bei aufkommenden Winden davongetragen zu werden.

"Seit wann hat Holland Monsun?" stöhnte ich.

Da noch Vorsaison war, hatten wir auf dem Zeltplatz ein Areal für uns allein, das genug Platz für ein Dutzend Caravans und Mobilheime bot. Was bei Sonnenschein ideal gewesen wäre, sorgte bei Dauerregen für zusätzlichen Verdruss. Das Fehlen jeglicher Nachbarschaft, in deren Windschatten sich unser Zelt hätte verstecken und einigeln können, ließ uns zum Hauptangriffspunkt von Regen- und Sturmböen werden. In der Nacht fielen die Temperaturen auf fünf Grad. Selbst der Hund verkroch sich tief im Schlafsack.

Eine unglückliche Woche.

Enttäuscht von uns selbst, dass wir den Widrigkeiten der Wirklichkeit nichts mehr entgegenzusetzen hatten, bauten wir das Zelt ab - es war noch nass, egal - und traten die Heimreise an. Was uns früher als Paar ausgezeichnet hatte, nämlich noch aus der gröbsten Scheiße etwas zu machen, schien verloren gegangen zu sein. Wir waren ein normal humorloses Paar um die Fünfzig, das sauer war, weil es im Urlaub regnete, obwohl man bei Sonnenschein gebucht hatte.

"Red keinen Scheiß", sagte die Gräfin, schaute dabei aber aus der Wäsche, als hätte sie die Worte selbst gesagt.

Als ich vierzehn Tage später die Urlaubsfotos abholte, fühlte ich mich bestätigt. Da war nichts mehr zu sehen von einem jungen Mann, der einst mit jedem Tag am Strand mehr Bräune gewann und damit an Leichtigkeit und Charme. Die Kleinbildkamera, die wir statt der Digitalen mitgenommen hatten - der verflixte Nordseesand hatte mir schon einmal eine Spiegelreflexkamera ruiniert, das wollte ich vermeiden - tat ihr übriges. Die Fotos wirkten, als hätte man mich in den Siebzigern mit Vorsatz falsch fotografiert. Besonders mein grotesk überbelichtetes Gesicht erinnerte an geweißten Schweinebauch.

"Ich glaub, ich sterbe langsam", stänkerte ich, als wir die Bilder durchgingen.

"Stirb langsam, Teil 45", murmelte die Gräfin, und ich stiefelte gekränkt in meiner Vergangenheit herum, wo die Dinge irgendwie besser gewesen waren. Oder nicht.

 

*

 

Der verfluchte Herzinfarkt dominierte mich bis in die Träume. Nacht für Nacht lag ich auf der Intensivstation. Eine Krankenschwester kam ans Bett. Schwester Barbara. Freundliche Augen, forschender Blick.

"Sie hatten einen schweren Herzinfarkt."

"Weiß ich doch", antwortete ich eine Spur zu leise und räusperte mich. Ich wollte nicht kläglich klingen. Ich versuchte mich zu erheben, doch Schwester Barbara drückte mich behutsam ins Krankenbett zurück und fixierte die Monitore, die geschlossen wie eine Wachmannschaft hinter meinem Bett patrouillierten und mit ihrem kühlen bläulichen Licht das Zimmer einfärbten.

Geräte kontrollierten Sauerstoffsättigung im Blut und Puls, tief in meiner Nase steckte eine Sonde. Über eine Kanüle lief steriles Wasser in meinen Arm, ein 24stündiger Druckverband sicherte die Einstichstelle an meiner Leiste. Alls zwanzig Minuten pumpte sich die Blutdruckmanschette am Oberarm selbständig auf, fünf, sechs Mal am Tag wurde mir Blut abgenommen. Besonders das Blutdruckmessen nervte. Ich hasste das regelmäßige Aufpumpen der Manschette, ich hasste das Gefühl, dass mir gleich der Oberarm platzt und heiße kranke Eingeweide ausspuckt.

"Sie können von Glück reden, dass Sie den Herzinfarkt mitten in der Stadt erlitten haben und ruckzuck im OP waren. Stellen Sie sich vor, Sie wären gerade im Wald spazieren gegangen, tief in den Wupperbergen.."

"War ich auch. An dem Tag nicht, aber am Tag zuvor war ich tatsächlich im Wald", gab ich stolz zurück.

"Na also. Ich schätze, der Herrgott hat noch etwas vor mit Ihnen.. Sagen Sie, haben Sie ein Handy dabei?"

"Nein."

"Nicht schlimm. Dann bringe ich Ihnen gleich das Stations-Handy, können Sie Ihre Leute anrufen."

 

*

 

Seine Leute anrufen. Nach Hause telefonieren und berichten, dass man auf der Intensivstation liegt, was eine haarige Angelegenheit. In der Regel ist es andersherum. In der Regel erreicht einen als Angehöriger ein Anruf aus dem Klinikum, wo einem die einfühlsame Stationsschwester mitteilt, dass der Gatte, die Gattin, der Bruder, die Schwester einen Herzanfall erlitten hat. Doch wenn man selbst derjenige ist, der die Botschaft überbringt, der die eigene Nummer wählt und anruft..

"Hallo, Schatz, ich bin auf der Intensivstation, ja, ist wahr, im Städtischen, ich hatte einen dreifachen Herzinfakt. Ja, dreifach. Nein, ohne Scheiß. Nein, in der Stadt, mitten am Fronhof. Nein, kein Bypass, Stents. Nein, zwei, ich hab vorerst nur zwei Stents gekriegt, der dritte folgt in einigen Tagen. Ja wirklich, kein Scheiß. Okay, ich mach jetzt Mittag. Danke, ja, dir auch, Schatz, bis gleich. Bring mir was schönes  mit. Na, irgendewas, du weisst schon. Schüss!"

 

*

 

Einige Tage später feierte Vater 86. Geburtstag. Er besuchte mich im Krankenhaus, in Begleitung meiner Schwester und meiner Nichte. Ich war mittlerweile auf die Kardiologie verlegt worden. Wir gingen raus auf den Balkon. Es war heiß.

"Vielleicht hörst du besser mit dem Rauchen auf", meinte meine Schwester.

Vater nickte zustimmend, sagte ansonsten nicht viel, blickte mich verständnislos an. Ich und ein Herzinfarkt, das passte für viele in meiner Umgebung nicht recht zusammen, aber für Vater handelte es sich um eine groteske Fehldiagnose, eine Falschmeldung, ja, um die Ente des Jahrhunderts. Herzinfarkt war eine Angelegenheit für unruhige und flatterhafte Geister, die ihre Beine nicht still halten konnten, die mit Tempo 200 über die Autobahn bretterten auf dem Weg zum nävchsten Aussen-Termin, für Leute, die eine 50 Stunden-Woche abrissen an einem einzigen Vormittag. Für Leute wie Benzini also, aber doch nicht für mich. Ich war kein nervöser Heini, ich war kein Hektiker, ich machte eher halblang, ich liess es ruhig angehen, mein Terminkalender war eine riesige weiße Fläche.

Wärst du noch ruhiger, hätten Mediziner Probleme, überhaupt irgendeine Vitalfunktion wahrzunehmen, orakelte mein Bruder, der später dazu kam und seinen Senf ausbreitete.

 

*

 

Was will der denn mit einem Herzinfarkt.

Kann der doch gar nichts mit anfangen.

 

*

 

Zurück aus dem Krankenhaus. Ich spazierte den Klauberg hoch, auf dem Weg zu meinem Vater. Zum ersten Mal seit langer Zeit pfiff ich nicht aus dem letzten Loch, als ich auf der Kuppe des Klaubergs ankam und in die Schillerstraße einbog.

Vater stand in der Küche, die etwas muffig roch seit Mutters Tod, und wärmte den Inhalt einer Büchse Hochzeitssuppe auf. Hochzeitssuppe von Sonnen Bassermann war sein Leibgericht geworden. Ein Einkaufszettel ohne Hochzeitssuppe von Sonnen Bassermann war kein Einkaufszettel. Sobald der Vorrat an Hochzeitssuppe auf ein halbes Dutzend Dosen schrumpfte, wurde Vater nervös. "Hochzeitssuppe!" schrie er, wenn wir den Einkaufszettel für die neue Woche schrieben.

So richtig Ahnung hatte niemand, was er daran so lecker fand, und warum es unbedingt Sonnen Bassermann sein musste. Da war er markenfixierter als jeder Rolex-Youngster und Unterwäsche-Träger von Agent Provocateur und Burberry Trench. Klar, er war schon immer ein großer Anhänger von Hühnersuppe gewesen, die Art Hühnersuppe, wie Mutter sie zubereitet hatte und die eher Lebenselixier als bloße Suppe gewesen war. Doch was hatte das mit der faden Plirre aus der Büchse gemein? Bis auf eine ferne Erinnerung vielleicht.

 

*

 

Ich fragte Vater, was er die letzten Tage getrieben habe, und er antwortete lakonisch, "oh, nun ja, ich bin hübsch zu Hause geblieben", als hätte es eine Hundertschaft Alternativen gegeben, die er allesamt ausschlagen musste, um endlich einen ruhigen Abend daheim geniessen zu dürfen.

Er rührte geduldig im Topf. Er trug seine alte speckige Lieblings-Trainingshose.

"Ich zähle genau zwei Stück Hühnerfleisch", sagte er. "Oder ist das nur eins, das sich im Kreise dreht? Was meinst du..? Guck du mal."

Wir drängelten uns um die Hochzeitssuppe herum, die allmählich Fahrt aufnahm in dem kleinen Topf und zu bubbeln begann.

"Ja.. das sind zwei Stückchen ", sagte ich. "Oder..? Ist das nur eins? Tu mal den Löffel da weg. Ich seh nichts."

"Da ist nur eins!" rief Vater. "Siehst du! Nur eins! DA!"

"Nee, das andere schwimmt unter der Oberfläche. Das kommt gleich wieder hoch. Das sind zwei."

Wir warteten auf das zweite Bröckchen Geflügelfleisch, dass es sein Haupt zeigte, und vergaßen darüber ganz, dass der Inhalt der Dose lediglich erwärmt werden sollte. Unterdessen brodelte die Suppe schon wie ein Geysir auf Island.

"RÜHREN!" rief Vater. "DU MUSST RÜHREN! DAS BRENNT DOCH AN!"

"WIESO ICH!? DU HAST DOCH DEN LÖFFEL!"

 "VERDUMMICH NOCH ENS! R-Ü-H-R-E-N!"!

 

*

 

Als es mit dem Infarkt passierte, war ich mit dem Hund auf dem Weg zur Apotheke gewesen, um für Vater ein Rezept einzulösen. Es war Donnerstagvormittag, 10. Mai 2012, 10 Uhr. Später schrieb ich über die Luft an diesem Tag, sie sei so schwül und so schwer gewesen wie Layla von Clapton. Und so gefährlich.

Ich nahm die steil ansteigende Kasinostraße und geriet im Schatten der langen, nicht enden wollenden Backsteinmauer des evangelischen Friedhofs in wachsende Luftnot. Das war an sich nichts besonderes. Ich kannte das schon. Sobald es irgendwo steil bergauf ging, war ich außer Puste. Ich schob es auf meine beschädigte Lunge, auf die zigtausend selbstgedrehten Kippen, auf mein ganzes Drogenleben, das ich über die Jahre geführt hatte.

Ich verlangsamte den Schritt. Die Sonne stach im Nacken, und ich begann zu schwitzen. Innerhalb einer Minute lief die Suppe an mir herunter, als wäre ich gerade den Klauen eines Dampfbügeleisens entkommen. Eine gespenstische Schwäche machte sich breit, erst in den Beinen, dann im ganzen Körper, jemand saugte alle Kraft aus mir heraus.

Hatte ich mir unter einem Herzinfarkt stets eine Art Explosion vorgestellt, (in der Art einer Sprengfalle, die bei Berührung zuschnappt), so folgte nun die brüske Belehrung. Ein Herzinfarkt ähnelt eher einem alles vernichtenden Schwächeln, begleitet von Panik, Engegefühl und der fiebrigen Ausschüttung von Schweiß - ein Gefühl, als wäre man unter einen seelischen Sattelschlepper geraten.

Dass ich lange meine Lunge in Verdacht hatte, Verursacher der Misere zu sein, machte Sinn. Mitte der Neunziger war bei mir Asthma bonchiale diagnostiziert worden, und ein paar Jahre lang ging ich nicht ohne himmelblaues Sprühgerät aus dem Haus.

Es gab zwei schwere Asthmaanfälle während meiner Heroinzeit, die meine letzten hätten sein können. Sie verliefen beinah identisch, und ich war beide Male allein zu Hause: direkt nach dem Aufwachen bekam ich einen Hustenanfall, wodurch sich meine Luftröhre derart verengte, dass ich keine Luft mehr bekam und in Panik durch die Wohnung sprang und in die Hosen pisste, aus lauter Angst zu ersticken.

Wer keinen echten Asthmaanfall kennt: Ich bekam nicht nur schlecht Luft, ich bekam überhaupt keine Luft mehr. Es war, als versuchte ich gegen eine Wand in mir Luft einzuatmen - absolut unmöglich. Hätte ich kein Spray zur Hand gehabt, (und wäre ich nicht dem Rat des Lungenarztes gefolgt, bei schweren Anfällen einfach in den Mundraum zu sprühen, um die verstopften Atemwege wenigstens so weit zu öffnen, dass man überhaupt inhalieren kann), ich wäre drauf gegangen. Ich wäre zweimal schon erstickt, bevor der dreifache Herzinfarkt im Mai 2012 kam und als laufende Nummer 3 schweißüberströmt durch den Ring tänzelte.

 

*

 

Vater hatte zwei Herzinfarkte in den Jahren 2003 und 2009, die er auch dank der Einpflanzung eines Bypass überlebte. Mutter hatte ebenfalls zwei Herzinfarkte, erlitt aber beide direkt hintereinander, die sie Weihnachten 2010 nicht überlebte.

Cousin Michael hatte von Geburt an ein Loch im Herzen, er flog in den 70ern mehrfach nach Texas, um vom renommierten Dr. deBakey operiert zu werden. Er starb kaum vierzigjährig.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es in unserer Familie eine gewisse Neigung zum Herztod gibt, sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite. Und doch war das Herz ganz selten ein Thema in der Familie. Niemand kam auf die Idee, es könnte sich um verstopfte koronare Gefäße handeln, wenn ich auf dem Weg zu meinen Eltern den steilen Klauberg hoch marschiert war und schweißüberströmt und außer Puste bei ihnen vor der Tür stand.

"Junge, bist du am ölen", schüttelte Mutter höchstens den Kopf. Und Vater wartete vier, fünf Minuten, bevor er mich ansprach.

"Hüor dat Ruoken up, Jung."

 

*


Auf der Intensivstation war ich verblüfft von der Helligkeit und Freundlichkeit, die mich empfing. Einzig meine Zimmergenossin erinnerte an die Gefahr, in der ich mich befand. Die Frau, die maschinell beatmet wurde, aber ich konnte sie von meinem Bett aus nicht sehen, ihr Anblick war von einem weißen Rollvorhang verstellt.

Sie sprach kein Wort. Vielleicht hatte sie das Locked In-Syndrom. Das übelste, was ich mir vorstellen kann: schreien, ohne gehört zu werden. Ein Niemand zu sein in einem großen Leib.

Ich lag flach auf dem Rücken, durfte mein rechtes Bein nicht bewegen, vierundzwanzig Stunden lang. Eine strenge Vorgabe, die mir Schwester Barbara wieder und wieder einimpfte. Es könne sonst zu einer Verletzung der Leistenarterie kommen. Vierundzwanzig Stunden still liegen, das Bein nicht bewegen, "sonst passiert es noch, dass Sie innerlich verbluten", impfte sie mir ein.

Na gut, da bleibt man dann schon mal vierundzwanzig Stunden ruhig auf der Stelle liegen. Ist klar. Und dennoch gab es am Abend einen verzweifelten Moment, wo ich das Stillhalten nicht mehr ertrug und kurz davor war, mir sämtliche Schläuche und Sonden vom Körper zu reißen und mich mitsamt Infusionsständer aus dem Fenster zu schmeißen, damit ich es endlich hinter mir hatte.

Was nicht funktioniert hätte.

Nicht wirklich.

Denn das Fenster des Zimmers auf der Intensivstation war zwar weit geöffnet an diesem Maiabend, doch den Weg ins Freie versperrte ein robustes Insektengitter.

 

Intensivstation Solingen:

Verzweifelter Fluchtversuch

endet im Fliegenrollo


*

 

Auf der Rückfahrt von Zeeland herrschte Flaute im Wagen, Stille. Wir fuhren durch klassische kleine belgische Ortschaften, wo es nach Bouillon roch. Wir waren ein bisschen enttäuscht. Zum ersten Mal in all den Jahren hatten wir den Widrigkeiten der Wirklichkeit nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Nicht mal ein einbeiniger Regenbogen am Abendhimmel über Retranchment hatte uns aufheitern können.

Ich bekam dieses Bild nicht aus dem Kopf, wie wir bei Dauerregen im Zelt festsitzen und kaum noch darüber lachen können.

Nur weil wir uns an etwas gewöhnt haben, muss es noch lange nicht das beste für uns sein, sagte sie.

Ich wollte nicht daran glauben, klammerte mich daran fest, dass es kaum zwei Monate her war und ich einen schlimmen Herzanfall gehabt hatte, dass es nur eine momentane Schwäche war.

"Rieche ich eigentlich nach der See? Nach dem Salz der Nordsee?" Sie hielt mit ihr langes Haar hin. "Früher roch ich viel intensiver nach Meer, oder nicht? Mein Körper nimmt die Gerüche der Umgebung nicht mehr so an wie früher. Ich bin eine störrische alte Eselin geworden, die nur noch ihren eigenen Geruch hat."

 

*

 

Ich war mehr als angeschlagen, doch da ich nicht wusste, wie ich mit den Nachwehen eines Herzinfarktes umgehen sollte, liess ich mir nichts anmerken. Ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Die ambulante Rehabilitation in Düsseldorf brach ich nach einem Tag ab.

"Wenn man nie etwas sagt und plötzlich stirbt, ist auch doof", meinte die Gräfin. "Irgendwie ist das unfair den Menschen gegenüber, die dich lieben. Und die du liebst. Da wird einem doch etwas vorgegaukelt, was gar nicht stimmt."

Stimmt, dachte ich.

 

*

 

Der Pflegedienst meldete erhöhten Pflegebedarf an und kam nun dreimal am Tag zur Schillerstraße, um Vater Medikamente zu verabreichen und darauf zu achten, dass seine Füße sauber waren, der Rücken eingecremt, die dritten Zähne im Mund. Für menschliche Zuneigung waren weiterhin wir Kinder verantwortlich. Dazu kamen gelegentliche Telefonate mit Vaters Geschwistern, die selbst alt und malad waren. Ich bewunderte Vater für seinen trotzigen Überlebenswillen, doch die Einsamkeit nach Mutters Tod setzte ihm mehr und mehr zu.

"An manchen Tagen spreche ich keinen einzigen Satz", klagte er. Das konnte zwar nicht sein, da allein schon der Pflegedienst 3mal am Tag kam und mindestens Guten Morgen, Mahlzeit und Gute Nacht sagte und auf Antwort drängte, aber darum ging es nicht. Es ging um das Gefühl, das er dabei hatte, wenn er von Einsamkeit sprach. Wenn Vater das Gefühl hatte, an manchem Tag keinen einzigen Satz zu reden, dann war das so. Dann stimmte das.

Außerdem waren solche Klagen natürlich der Hebel, mit dem er bei uns Kindern ein schlechtes Gewissen erzeugte. Ein schlechtes Gewissen sorgte für gut ausgelastete Besuchszeiten, und die Besuchszeiten auf der Schillerstraße waren großzügig ausgelegt und endeten nie.

Sein Gehör liess rapide nach. Er hörte aber nicht nur miserabel, es haperte auch zunehmend mit den Augen. Um überhaupt noch Zeitung lesen zu können, arbeitete er mit zwei Lupen übereinander, arrangierte sie wie olympische Ringe über- und uintereinander. Eine neue Brille hätte es vielleicht auch getan, andererseits: "Man muss das Alter sportlich nehmen", sagte er.

Die Technik mit den zwei Lupen übereinander leuchtete mir nicht richtig ein. Dass man auf diese Art und Weise schärfer sehen konnte. Ein Selbstversuch bestätigte mich. Die Schrift erschien noch unruhiger als ohne Lupe. Wenn es überhaupt eine Besserung gab, betraf es einzelne Worte, die von der Lupe herausgefiltert und vergrößert wurden, niemals einen ganzen Satz - eine Methode, die jedem Lesefluss entgegenstand.

"Besser als nichts", murmelte Vater.

"Nee, das ist genauso gut wie gar nichts", sagte ich.

Trotzig griff er nach den Lupen, legte sie übereinander wie zwei große Eheringe, und begann langsam und sorgfältig Worte zu entziffern.

"Se..a..d..", las er, stockte. Und blickte hoch.

"..ler?" fügte ich fragend an.

"Wie.. ler?"

"Na. See..ad..ler."

Er guckte durch die doppelte Lupe.

"Hier steht: Se..at. Seat!"

"Ach so. Das Auto."

Weiter im Text.

"Seat.. lan..det.. in.."

Ich gähnte. Hatten wir uns im Sommer zuvor noch bei der nachmittäglichen Zeitungslektüre gegenseitig kleine Meldungen vorgelesen, so stieß Vater nun, mit zwei unterschiedlich großen Sehhilfen arbeitend, Wörter hervor, die für sich genommen wenig Sinn ergaben.

".. Böschnn.."

Kinderlachen drang hinauf vom Hinterhof.

"Böschung! Seat lan..det.. in Böschung!"

Es war jedes Mal ein kleiner Triumph, wenn er eine Überschrift gepackt hatte.

Manchmal fragte er mich nach dem Sinn von Begriffen, die er nicht kannte. "Was ist Google?" wollte er wissen. Er las es vor, wie es ihm auf Deutsch begegnete. Gogle.

"Gugel", berichtigte ich. "Das ist eine Maschine, die dich durchs Internet navigiert."

"Hoioi", meinte Vater. "Ist das denn so groß, euer Internet? So groß, dass man sich darin verläuft? Ohne das.. Gugel?"

"Ja, ist es."

Das Internet blieb ihm bis zum Schluss ein Rätsel. Zwar brachte mein Bruder ab und zu sein Laptop mit und versuchte unserem alten Vater zu demonstrieren, wie das Internet funktionierte, doch es blieb undurchschaubar für ihn. Das Internet liess sich nicht anfassen, und alles, was sich nicht anfassen liess, war irgendwie Spielerei und nicht echt.

 

*

 

Es stellte sich heraus, dass er Grauen Star hatte. Er musste sich einer Staroperation unterziehen. Dabei wird die trübe Linse durch eine Intraocularlinse aus Kunststoff ersetzt. Dann kann man wieder schön aus der Wäsche gucken, hatte der Arzt am Telefon gelacht. Dann ist der Vorhang endlich weg.

Ein total witziger Arzt. Beim Telefonieren sah ich einen Stand up Comedian vor mir, der sich im OP-Saal beim Abschaben der Netzhaut neue Gags ausdachte, mit denen er sein Publikum am Abend zur Raserei bringen will. Hoffentlich ist bald Feierabend, denkt so ein Arzt mit hoher Wahrscheinlichkeit, während er an Netzhäuten schabt, ich hab heut super Witze drauf.

Am Tag vor dem Termin in der Augenklinik half ich Vater, ein paar Sachen zusammenzusuchen. Allein neun verschiedene Medikamente durften wir nicht vergessen, und den Einweisungsschein. Den Kulturbeutel hatte Vater schon gepackt, mit Rasierzeugs, Seife, Zahnbürste, Zahnpasta, Extra-Haftcreme. Dazu einen Haarkamm und einen Waschlappen. In eine große Sporttasche stopfte er Unterwäsche zum Wechseln, darunter eine lange Unterhose, falls das Wetter umschlagen sollte.

Papa, im Krankenhaus schlägt das Wetter nicht so schnell um, sagte ich, doch er hörte kaum hin.

Zwei Paar Strümpfe kamen hinzu, ein Moskitonetz, eine Wolldecke, eine Nylonhülle, deren Zweck sich mir nicht eröffnete, zwei Flaschen Mineralwasser und eine große rote Wasserpumpenzange, mit deren Hilfe sich auch die störrischsten Verschlüsse von Mineralwasserflaschen aufdrehen ließen. Ein Kugelschreiber und ein Schreibblock durfte nicht fehlen, ein Ersatzkugelschreiber sowie ein Paar Filzpantoffeln.

In der Küche sah ich, dass auch Zucker, Salz, Mehl schon bereitgestellt war, fertig zum Einpacken. Ich räumte es heimlich zurück in den Vorratsschrank.

Um den Hals trug er einen Brustbeutel mit 300 Euro drin.

Was willst du mit so viel Geld im Klinikum? fragte ich. Oder willst du in den Puff gehen?

"Ja, aber erst, wenn ich wieder richtig gucken kann."

"Wieso nimmst du überhaupt einen Brustbeutel mit?"

"Damit sie mein Geld nicht klauen, wenn ich nicht zu Hause bin. Die vom Pflegedienst haben doch einen Schlüssel. Die klauen wie die Raben."

Na schön. Und obwohl jedes Krankenhaus in Deutschland eigene Patientenkleidung stellt, packte er noch einen frischen Frottee-Schlafanzug ein. Der lag obenauf eingerollt, wie eine Krone.

"Sag mal, Papa: Willst du einen ganzen Monat im Krankenhaus bleiben? Das ist doch nur für eine Nacht. Was willst du denn mit dem ganzen Kram?"

"Na, du bist gut. Wer weiß schon, was alles passiert. Stell dir vor, es geht was schief bei der OP und ich muss länger im Krankenhaus bleiben als vorgesehen.. Man muss für alle Eventualitäten gerüstet sein."

Mit diesem Einwand hätte ich rechnen müssen. Ängstlichkeit war sein Hauptwesenszug, noch vor seinem Humor. Er versuchte stets gewappnet zu sein, um ungeschoren über die Tage zu kommen. Das Leben stand Spalier für seine Ängste. Es wunderte mich nur, dass er kein Hauszelt eingepackt hatte, für den Fall, dass das Krankenhaus abbrannte, und ich hütete mich, ihn darauf hinzuweisen.

Ich fühlte mich an die Kindheit erinnert, wenn die Familie zum Gardasee in Campingurlaub fuhr und der Ford 20M mit so viel Krempel überladen war, dass er es kaum den Großglockner hinauf schaffte. Auf der Passhöhe angekommen, musste der Motor erstmal verschnaufen; es dampfte und zischte bei hochgeklappter Motorhaube. Und wir waren nicht allein. Um uns herum standen jede Menge überladene deutsche Familienkutschen und dampften wie Kohleöfen.

 

*

 

Nach dem Eingriff musste mein Vater eine Nacht im Krankenhaus verbringen, zur Beobachtung, wie es hieß, doch schon am nächsten Vormittag, unmittelbar nach der Chef-Visite, würde man uns anrufen, dann könnten wir ihn abholen.

Am nächsten Morgen saßen wir zu Hause und warteten auf den Telefonanruf. Es kam kein Anruf. Nicht um neun, nicht um halb zehn.

Ruf du doch da an, sagte die Gräfin.

Warum? antwortete ich. Die haben doch gesagt, die rufen an.

Schon, aber du weißt doch, wie das heute ist. Die eine Hand weiß nicht, was die andere Hand tut. Beziehungsweise, die eine Hand hat null Interesse an der anderen Hand, ja, die weiss oft gar nicht, dass eine andere existiert! So ist das heute!

Es wurde zehn Uhr, 10 Uhr 20, 10 Uhr 45. Punkt elf wurde es mir zu blöde. Ich ruf da an, sagte ich zur Gräfin. Ich rief in Wuppertal an. In der Augenklinik. Was mit meinem Vater los sei. Ob wir ihn jetzt abholen könnten.

"Ja natürlich kann Ihr Vater abgeholt werden. Der sitzt doch schon seit zwei Stunden im Wartezimmer und wartet auf Sie.."

 

*

 

Die Augenklinik in Barmen war eine Katastrophe. Ein Gebäude aus der Kaiserzeit, lauter tranige Augenklappen und bandagierte Gesichtshälften. Als ich die Tür des Zimmers öffnete, das man uns am Empfang genannt hatte, dachte ich zuerst, es handele sich um die Abstellkammer, und schloss sie wieder. Es war aber doch das richtige Zimmer, wie ich erfuhr, nur dass mein Vater nicht mehr drin war, sein Bett schon leer. Zurück auf den Gang entdeckte ich ihn schliesslich, beim Blick durch eine Glasscheibe. Er hockte im Warteraum, mit wehendem Haar (im Sitzen!) und blutunterlaufenem Auge. Ein Häufchen Elend.

"Gott sei Dank", mehr war aus ihm nicht herauszukriegen, als er uns entdeckte, "Gott sei Dank, dass ihr da seid..!"

Ich hob seine Sporttasche auf und half ihm auf die Beine.

"Tut mir leid, dass es was länger gedauert hat."

Er war so hinüber vom langen Warten, dass der Zorn schon verraucht war. Er machte einen so gebrechlichen Eindruck, dass mir mulmig wurde. Ich hakte ihn fest bei mir unter. Die Gräfin kam von der Besuchertoilette und erschrak bei seinem desolaten Anblick. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es nicht zu zeigen, Vater spürte es und bekam ebenfalls Panik. Schnell drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.

"Meine Schwiegertochter..", hauchte Vater, als würde er sie vorstellen wollen. Da war aber niemand.

Er sah aus wie Frankenstein.

"Moment noch", sagte ich.

Ich machte mich auf die Suche nach einem Arzt oder einem Pfleger, der mir etwas zum Zustand meines Vaters sagen konnte. Die Gräfin erzählte später, ich wäre mit einem Gesichtsausdruck a la Mein Vater, mein Vater! sein Auge! über den Krankenhausflur geflogen, so sehr war ich in Sorge. Diese ganze vermaledeite Station, dieses ganze vermaledeite Krankenhaus wirkte auf mich wie ein einziges Nachkriegsprovisorium, es war kaum Ernst zu nehmen. Aber es war Ernst, und das war das schlimme. Es ging zu wie auf einer öffentlichen Straße, wo einen Patienten höhnisch anrempelten, wenn man nicht schnell genug aus dem Weg war.

"Ja, mit Ihrem Vater ist alles in Ordnung", deutete ich das desinteressierte Gemurmel eines Pflegers, den ich endlich in einem Schwesternzimmer entdeckte. Dann widmete er sich wieder dem PC-Monitor.

"Äh.. muss ich denn.. müssen wir heute irgendetwas beachten.. in den nächsten Stunden..?"

"Das steht alles im Entlassungsbrief."

"Aha. Und wo ist der?"

"Wer?"

"Na! Der Entlassungsbrief!"

"Ach so. Den hat er doch dabei."

"Wo?"

"In seiner.. Jacke? Schätze ich jetzt mal."

"Na gut. Schau ich gleich nach. Es hat also alles geklappt bei der Operation?"

"JA!!"

Der Pfleger hob genervt den Blick und warf die Tür zu. Dabei war ich ja nur so nervig, weil mein Vater so schlimm aussah. Wie sich dem schwerfälligen Gestammel des Mitarbeiters entnehmen liess, hatte er in der vergangenen Nacht nicht eine Sekunde geschlafen. Sein operiertes rechtes Auge glotzte einen an wie ein Goldfisch, der im Aquarium tot zu Boden gesunken war. Ein verfluchter Frankenstein-Goldfisch.

Sobald wir im Parkhaus Ebene O erreichten und Vater auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, legte er sich lang und versuchte zu schlafen. Wie ein 86jähriger Schulbub lag er da, der ein Mittagsschläfchen hielt. Kaum eine Minute später saß er wieder aufrecht.

"Ich hab heut morgen grün geschissen."

"Du hast was..?"

"Grün geschissen. Das sah aus wie Spinat."

In Solingen angekommen, hatte der Lausebengel nur noch einen Wunsch: ein halbes Hähnchen vom Grill und dann ab ins Bett. Während wir vorm Imbiss im Wagen saßen und auf den Gockel warteten, versuchte er etwas vom Klinikaufenthalt zu erzählen, doch er verlor ständig den Faden und liess es irgendwann bleiben.


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