1989 zog die Gräfin zur Teufelsinsel nahe dem alten Hauptbahnhof. Eine Zeit, in der ich zuviel trank und zunehmend unausstehlich wurde.
"Hast du dich in den letzten Monaten mal betrunken erlebt?" spöttelte der dicke Hansen. "Ein Lacherfolg." Und die Gräfin, im gleichen Atemzug: "Weißt du was? Kauf dir einen Kasten Bier, setz dich zu Hause hin und höre deinem eigenen Gelaber zu - dann bist du kuriert vom Trinken, für immer - jede Wette."
Jahre später fügte sie hinzu: "Die langweiligste Zeit meines Lebens waren die Stunden, wo ich am Tresen darauf wartete, bis du endlich fertig bist mit dem Trinken."
Ich trank nicht, ich soff. Nicht jeden Tag, aber wenn, dann richtig. Schon in den frühen Achtzigern, als wir jedes Wochenende im Daddy abhingen, einem Soul-Club an der Stadtgrenze zwischen Solingen und Wuppertal, ließ ich mir spätestens um zwei in der Nacht vom dicken Hansen den Autoschlüssel aushändigen und haute mich in seiner Karre aufs Ohr, weil ich so voll war. Wenn das Daddy im Morgengrauen dicht machte, trudelten meine Leute, darunter auch Lena, allmählich ein und weckten mich. Meist ging es dann privat weiter, bei irgendwem, und ich war wieder obenauf - eine halbe Stunde, bis ich endgültig hinüber war.
Ende der Achtzigerjahre war die Sache nicht besser geworden. Zwar hatte ich die Gräfin kennengelernt und cleane Phasen eingelegt, doch auf Dauer setzten sich die Drogen immer wieder durch, der Alkohol allemal. Dass es dennoch keine unglückliche Zeit war, jedenfalls nicht großartig unglücklicher als sonst auch, lag an einem besonderen Umstand: Ich trank nur in Gesellschaft, ich war ein striktes Tresentier. Und da ich meist nur am Wochenende ausging, hielt sich die Trinkerei in Grenzen. Allerdings, sobald ich einmal am Tresen stand und das erste Bier orderte, war es zu spät, dann schoss ich mich auch ab, bis ich am nächsten Mogen ausgeknockt am Bettrand saß und verzweifelt dem Schwerlastverkehr zuhörte, der unaufhörlich in meinem Schädel rangierte.
Die Wohnung der Gräfin an der Teufelsinsel hatte zwei kleine Zimmer und einen unmittelbaren Nachbarn, den alle nur den Vatter nannten. Der Vatter war irgendwas um die sechzig und trank ebenfalls zu viel. Mehr als einmal hörten wir ihn nachts nach Hause kommen und in den Hausflur stürzen. Wir hörten ihn laut schreien und vor die eigene verschlossene Wohnungstür bollern und treten. Wenn es gar nicht anders ging, musste einer der Nachbarn raus in den Flur und ihm helfen, den Schlüssel ins Türschloss zu kriegen. Auch das ging selten ohne Beschimpfung vonstatten. "SCHMIERLAPPEN, NIMM DIE PFOTEN DA WEG..! WILLST DU MICH ANBAGGERN, HÖRMAL?! WO IST MEIN SCHLÜSSEL!?" (Wobei er oft ins Solinger Platt verfiel: "WO IS MINGEN SCHLÖTEL!?"
Samstagmorgen sah die Sache anders aus. Samstags war er früh auf den Beinen, es war großer Hausputz angesagt. Jeden verfluchten Samstag wurde der Hoover aus der Ecke gezerrt, ein original britischer Klopfsauger, dessen Sound-Ingenieure sich 1974 vermutlich am Hit CUM ON FEEL THE NOIZE von Slade orientiert hatten, anders konnte ich mir die frappierende Sound-Überlappung nicht erklären. (Insbesondere die im Nebel stochernde Stimme von Noddy Holder und der Killerklang des Staubsaugergeräts bei hoher Drehzahl waren beinah identisch.) Und als wäre das noch nicht genug, legte der Vatter während des Klopfsaugens eine Cassette mit Volksmusik auf, die auf Volume 12 durchs Haus hämmerte. Wir lebten quasi in einer Karl-Moik-Einflugsschneise.
Es blieb nur die Flucht.
Wenn wir gegen Mittag zurückkehrten, hatte der Vatter "gegen den kleinen Durst", wie er sich ausdrückte, einen halben Kasten Bier leer gemacht - quasi im Vorbeisaugen. Dann ging es im Hausflur weiter mit Großreinemachen, unter Zuhilfenahme des Großen Grauen, wie er ihn nannte: einem altgedienten riesigen fusseligen Putzlappen von anno Tuck. Man hörte ihn dreckig lachen und fluchen. "VORS ARBEITSGERICHT SCHLEPP ICH DIE WICHSER! VERDAMMTE SCHNÖSEL! WAS GLAUBEN DIE, WEN DIE VOR SICH HABEN? DIE STAMPF ICH ZU BREI! NICHT EINEN PFENNIG KRIEGEN DIE FOTZEN VON MIR!"
"WER BIN ICH DENN, HÖRMAL!? BIN ICH ROCKEFELLER?"
Einmal riss er beim Putzen das halbe Holzgeländer im Flur ab. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Der Handlauf lag auf dem Boden wie eine ausgekugelte Schulter. "Ich bin beim Bohnern ausgerutscht", verteidigte er sich später beim Hauswirt. Ja genau.
Die meiste Zeit war der Vatter arbeitslos, ("ich geh stempeln, Jung. Tut nich weh", bis man ihm eine Arbeits-Beschaffungsmaßnahme als Gärtner aufs Auge drückte. Das ging nicht ohne Probleme. Er war es nicht mehr gewohnt zu arbeiten, und er hatte dauernd Ärger mit den Vorgesetzten.
"Wie, ich bin eine ABM-Kraft?!" pflaumte er seinen Chef an, der ihn früh am Morgen persönlich abholte. "Ich will Geschäftsführer werden, du Müllkutscher, keine ABM-Kraft!"
Er hatte null Respekt vor Autoritäten, und er konnte nichts wirklich ernst nehmen. Das war es auch, was ihn sympathisch machte. Einmal versuchte er sogar der Gräfin den Hof zu machen, obwohl ich direkt daneben stand.
"Mädchen, hör mal zu. Dein Männe hier, der sieht schlecht aus. So blass. Raucht der zuviel? Komm ein Stündchen rüber zu mir, ich koch uns ein schönes Kassler mit Sauerkraut. Na, was meinst du? Hm? Ein lecker Stück Fleisch, mit Kartoffeln. Die sind unten im Keller, die sind eingekellert, die muss ich erst hochholen. Kannst ruhig mitkommen. Was meinst du? Sollen wir mal eben runter in den Keller..?"
Eine Etage überm Vatter wohnte der Mormone. Wahrscheinlich war er kein Mormone, aber er sah aus wie jemand, der aus Utah kam. Ein merkwürdig linkischer Vogel, der sich tagsüber selten blicken ließ. Man hörte ihn nur in der Nacht, wenn er die Möbel verrückte und nervös vor sich hinhüstelte. Sein Babyface war stets glatt und perfekt ausrasiert. Eigentlich war er ein großes Stück Seife. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte.
Alle zwei Monate ging der Mormone reihum durchs Haus, um Wassergeld einzusammeln. Wenn der Vatter an der Reihe war, gab es Schwierigkeiten. Der Vatter machte die Tür auf und eröffnete sofort das Gefecht.
"DER BÜCKLING! WAT WILLST DU, WASSERGELD?? GAR NIX KRIEGST DU VON MIR! MACH DICH VOM ACKER, DU BÜCKLING!"
Erst später brachte ich in Erfahrung, dass der Mormone über ein Jahr lang heimlich das Wassergeld für den Vatter ausgelegt hatte, nur um ihm nicht unter die Augen treten zu müssen, bevor er entnervt das Handtuch warf und das Wassergeld fortan mit der Miete eingezogen wurde. So jedenfalls erzählte man es sich an der Teufelsinsel, einer Gegend, in der die seltsamsten Figuren lebten.
Gleich neben dem Mormonen im ersten Stock hauste Benno, der Frührentner. Der hatte insgesamt nur noch ein Bein und humpelte auf Krücken durchs Haus. Seine Stimme hatte einen nasalen Klang, als wäre sie zwischen zwei Türen geraten und eingequetscht worden, und jetzt hing sie ihm oben unterm Jochbein. Frührentner Benno und der Mormone hatten sich gesucht und gefunden. Oft standen die beiden wie die Waschweiber auf dem Treppenabsatz und tratschten. Dabei ging es um den Vatter und was der im Suff mal wieder angerichtet hatte.
"Der bringt uns noch alle ins Grab mit seiner Qualmerei. Der fackelt noch die ganze Teufelsinsel ab! Gestern ist er wieder stockbesoffen im Sessel eingeschlafen, mit der Kippe im Hals, laut am schreien! Der olle Schreihals!"
"Ja, wenn der alte Gockel mich noch ein einziges Mal als Bückling beleidigt..", flüsterte der Mormone, als im Erdgeschoss die Tür aufgerissen wurde.
"WAS IST LOS DA OBEN, IHR FISCHWEIBER?? IHR VERFLUCHTEN BÜCKLINGE!"
Ein weiteres ständiges Gesprächsthema war die Gräfin.
"Die Kleine da unten, ob die wirklich eine Gräfin ist?" sorgte sich Benno. "Aber wieso wohnt die dann hier am Bahndamm?"
"Verarmter Adel. Liest man doch dauernd."
"Und was ist das für ein Kerl, der da bei ihr schläft? Bestimmt ein schräger Fürst. Der hat krumme Beine."
"Zahlt der überhaupt Wassergeld?"
"Ach was. Der doch nicht. Der zahlt kein Wassergeld. Der wäscht sich nicht mal."
Vom Garten aus konnte man bequem in die Wohnung des Vatters sehen. In seiner Küche befand sich eine mächtige Gefriertruhe aus alten Armeebeständen, vollgepackt mit Schweineschnitzeln, Rouladen und panierten Nackenkoteletts, deren Haltbarkeitsdaten überschritten waren.
"Ach was, ist doch eiskalt, ist doch unter null Grad hier drin", verteidigte sich der Vatter, als die Gräfin ihn darauf ansprach. "Die werden so schnell nicht schlecht, so dicke schockgefrorene Koteletts. Die kann man noch essen. Oder möchtest du lieber ein Eis, Mädchen? Alle Mädchen mögen Eiscreme."
Er wühlte tief im Bauch seiner alten Tiefkühltruhe und zog etwas hervor, das er als Waldmeister-Eis bezeichnete, aber eher einer Großpackung Brokkoli ähnelte. So rein vom Geruch her. Die Gräfin schüttelte sich.
"Bist du wahnsinnig? Schmeiss das weg! Das kann doch keiner mehr essen! Da wird man doch krank von!"
"Näh, hat die Angst vor Eis!" mokierte sich der Vatter und löffelte wie zum Beweis gleich die halbe Packung weg. Danach lag er zwei Tage im Bett, begraben unter dicken Aua-Decken.
Der Vatter hatte ständig Hunger. Jeden Mittag Punkt zwölf kochte er immense Portionen paniertes Schweinefleisch und Kartoffeln, oder ein Backhendl mit Kartoffelbrei, aber niemals Gemüse. Nach dem Essen setzte er seinen grünen Filzhut auf und ruhte im Ohrensessel, den Fernseher bis zum Anschlag aufgedreht und am Ausrasten wie ein frühes Rock’n Roll-Konzert.
"HOLT MICH ENDLICH HIER AB! WIE, WO ICH WOHNE?! AUF DEM BAHNDAMM NATÜRLICH, SIE OBERSCHNAUZE!! TEUFELSINSEL, IHR WICHSER!!"
Eine Weile war ich fest davon überzeugt, dass der Vatter Besuch haben musste, während die Gräfin meinte, ach wo, der kriegt keinen Besuch! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch für sich allein so dreckig lachen und fluchen konnte, aber der Vatter lachte und fluchte so dreckig für sich allein, er brauchte niemand dafür. Er war eine autarke Person, und er hasste jegliche Autorität.
Vom Wochenendputz und der Fresserei abgesehen hatte der Vatter ein weiteres Hobby: das Bohren von Löchern. Er benutzte dazu eine von Schnürsenkeln notdürftig zusammengehaltene Vorkriegsbohrmaschine. Welche Löcher er allerdings wo bohrte, blieb unklar. Vielleicht machte er auch einfach nur Bohrgeräusche, keine Ahnung. Bis der schlimmste Lärm vorüber war, flüchteten die Gräfin und ich nach draussen und beobachteten das Schauspiel vom Hinterhof aus, durchs Fenster: Nach getaner Arbeit versank der Vatter im Sessel, den Filzhut auf dem Kopf, einen stinkigen Zigarrenstumpen im Hals, Pulle Exportbier in der Hand.
"Der ist eingenickert", flüsterte die Gräfin.
Keine Viertelstunde später wurde er wie aus dem Stegreif wach, und es ging unvermittelt weiter mit dem Geschrei, noch halb im Traum.
"LASSEN SIE MEINE FREUNDIN IN RUHE! SIE OBERSCHNAUZE!" (Schluck Bier aus der Pulle.) "WIE, SIE KOMMT ZU SPÄT NACH HAUSE!? JA, WOFÜR HAB ICH SIE DENN!?" (Stöhnen.) "LEBT HIER AUF DEM BAHNDAMM!!" (Lautes Gelächter. Poltern.) "ZIEHT DIE SICH HIMBEEREIS REIN! SCHMECKT DOCH NICH, HÖR MAL!!"
Einmal im Monat bekam der Vatter doch Besuch: Damenbesuch. Eine stille und große Frau, das Haar zum strengen Dutt gebunden, mit milden nachsichtigen Augen. Sie machte ihm die Wäsche. Eine ganz feine Frau. Sobald sie da war, wurde der Vatter fromm wie ein Lamm und gab Pfötchen. Ganz lieb sah man ihn mit der Einkaufstasche in die Stadt watscheln, Waschpulver kaufen. Richtig selig sah er aus. Große Wäsche war angesagt, eine Maschine nach der anderen.
Es war ein Bild für die Götter der Teufelsinsel, wie der Vatter nach der Wäsche mit seiner Plauze im Garten stand und stocknüchtern seine riesigen weißen Unterhosen an die Wäscheleine zum Trocknen aufhing. Das ganze Wochenende über drang kein einziges böses Wort zu uns herüber. Das Paradies war ausgebrochen an der Teufelsinsel. Bis Montagmorgen. Dann ging alles von vorn los.
Einmal, es war Sonntag, kamen wir spät in der Nacht nach Hause und mussten den Hund noch raus lassen. Dabei hatten wir wohl vergessen, die Etagentür zu schließen. Im Morgengrauen werde ich plötzlich wach und erkenne schemenhaft den Vatter, wie er neugierig unser Bett durchsucht. Ich denke nur: Moment! was zum Teufel macht der Kerl hier, mitten in der Nacht?! Wie ist der überhaupt hier rein gekommen?! Wieso hat der Hund nicht angeschlagen?!
"Die Tür stand auf.. ich wollte nur nach dem Rechten sehen", schnaufte der Vatter. Als er sich bückte, um besser sehen zu können, was bei uns im Bett los war, suchte sich in seinem Darm ein schwefelhaltiges Super-Gas den Weg nach draussen, von einem aktiven Geräusch begleitet, einer Mischung aus Exportbier und Gefechtslärm.
"Oha", sagte er.
Schwerfällig trat er den Rückzug an, nicht ohne noch einen schnellen ungenierten Blick auf die Gräfin zu werfen, die sich im Schlaf wälzte und etwas nackte Schulter zeigte. Ich lag noch eine Weile wach und hörte nebenan das Scheppern von Pfannen und Töpfen, früh um fünf. Kurz darauf zogen Cordon Bleu-Wölkchen durchs Treppenhaus, begleitet von ruppigen Seufzern und Gestöhne.
Der Herr frühstückte.