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Channel: Vom räudigen Leben, der Wucht & dem Nimbus
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Sie ist bis heute davon überzeugt, dass ich grundsätzlich nur knapp ein Zwanzigstel von den Dingen mitbekomme, die um mich herum geschehen. Sie nennt mich einen dickfelligen Flegel, der nur dann aufmerksam hinschaut, "wenn man sich die Mühe macht und winzig-kleine TV-Bildschirme um die Dinge herum baut. Dann wirst du neugierig."

Die Formulierung "ein Zwanzigstel" bleibt hängen. Ich finde es seltsam, und ich werde es nicht los. Wieso gerade ein Zwanzigstel? Wie kommt sie darauf? Warum nicht ein Zehntel, ein Fünfzigstel. Sie weiß es selbst nicht. Aber damit habe ich auch nicht gerechnet. Sie ist die Diva der Intuition. Ihren Worten liegt stets eine Wahrheit zugrunde. Welche genau, das muss man selbst heraustüfteln.

Sie liefert nur das fertige Werkstück.

 

*

Recherchen in meinem Kopf ergaben, dass ich  mit fünf von hundert Leuten etwas anfangen kann. Mit einem von zwanzig. Daher weht der Wind. Es handelt sich um die 5 %-Regel. In welcher gesellschaftlichen Schicht ich mich auch bewege, ob unter Bankern oder Fernfahrern, unter Junkies oder Cheerleadern, stets sind es 5 %, mit denen man gut klar kommt. Aber eine echte Freundschaft kommt wiederum nur mit 5 % der 5 % in Frage.

Wenn man nun davon ausgeht, dass ein halbwegs kommunikativer Mensch in seinem Leben etwa 500 Leute näher kennenlernt, bleiben nach der 5%-Regel am Ende 25 übrig, mit denen man in Urlaub fahren würde. Aufs ganze Leben hochgerechnet. Wirklich für eine Freundschaft indes taugen von 25 Leuten wiederum nur 5%, was exakt 1,25 Freunde fürs Leben ausmacht. Das haut hin, Freunde.

(Alles ist gut, solange man nicht im Promillebereich rummacht.)

 

*

Forscher gehen davon aus, dass erdähnliche Trabanten in 5 % aller Galaxien möglich sind.

 

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Maximal 5 % aller Leser sind gewillt, für Online-Texte großer Zeitungen Geld auszugeben.

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"Mein Herz hat 300 Prozent." (Die Gräfin)

 

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"Näher betrachtet ist man ja nur das Produkt der vielen Menschen, mit denen man sich umgibt und jemals umgeben hat.”

“Ja, aber nicht nur.. Man ist auch das Produkt all der vielen Leute, mit denen man sich NICHT umgibt."

"Ja. Das vor allem."

 

*

Der Löwenmann hatte die imposantesten Dreadlocks der Stadt bis ihm das Haar eines Tages kaputt ging und ausfiel. "Kann man nichts machen", sagt er. Wir ziehen eine Weile durch die Strassen, unterhalten uns länger, als es sonst üblich ist unter Arbeitskollegen, die jahrelang in derselben Firma angeschafft haben, Morphin & Co LTD. Es fallen Namen aus längst vergangenen Tagen, verbrannte Namen, verschollene Gesichter.

“Erinnerst du dich an Jessy?”

“Jessy..?”  Nach einer kurzen Rückschau sag ich: “Ja sicher.. Jessy.”

Bei einem Namen, der fünfundzwanzig Jahre lang nicht gefallen ist, kann es schon mal dauern, bis die dazugehörige Gestalt sich bequemt, Konturen anzunehmen. Augen, die Haare, die Nase. Die Nase ist wichtig in der Erinnerung. Erinnerst du dich an die Nase, kommt das restliche Gesicht von allein.

Jessy war Tscheche, ein Wuschelkopf, von kleiner muskulöser Statur. Er hiess Jechiczek oder so ähnlich, doch weil die Deutschen das nicht aussprechen konnten, nannte er sich Jessy. Einer der seltenen Fälle, wo sich jemand selbst einen Spitznamen verpasste.

“Bis über den Tod hinaus”, meint der Löwenmann düster.

“Wieso? Ist Jessy tot?”

“Ach, der ist doch schon 1992 gestorben, an AIDS im Knast. Aber auf Jessy lasse ich nichts kommen. Der war in Ordnung. Den haben die Bullen tagelang mit drei Mann in die Mangel genommen, aber der Junge hat dicht gehalten. Auf den lasse ich nichts gekommen. Selbst als die Russen ihn in den Kofferaum steckten, wenn du uns nicht verrätst, wo die Schore ist, versenken wir die Karre im Baggerloch, mit dir hintendrin, ist er nicht weich geworden. Jessy hat nie jemanden angeschissen. Der hat sich immer gerade gemacht.”

Ich wundere mich, warum der Löwenmann, ein eher introvertierter Typ, hochgewachsen, ein Einzelgänger mit verschorfter deutscher Innenwelt, immer noch so begeistert ist von Jessy, nach so langer Zeit. Der Löwenmann kann aber auch laut und unangenehm werden, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Dann ist er ein echter Hitzkopf. Etwa wenn der Wind im falschen Moment aus der falschen Richtung kommt und ihm frech unter den Trenchcoat bläst und die Kippe aus der Hand schlägt. Dann fletscht er die Zähne und scheisst die versammelte Fußgängerzone zusammen. “OH NO! WAS EINE … GOTTVERDAMMTE SCHEISSE DIESES LEBEN WIEDER IST!!” Ältere Passanten machen sich da schon mal dünne.

An anderen Tagen seh ich den Löwenmann in der Stadt sitzen und frage mich, was los ist in seiner Welt. Wie schockgefroren sitzt er da, die Haut wächsern, als habe er vor Jahren schon sämtliches Blut gespendet. Gesundheitlich gehts bergab, meint er.

"Mir tut die Leber weh. Die Leber ist doch hier hinten, oder..?! Na ja, kann auch vom Gulasch kommen letztens."

 

*

Ich kenne den Löwenmann schon seit den Siebzigern, aber bloß vom Sehen. Wir hatten nie näher miteinander zu tun. 1998 liefen wir uns zufällig im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme über den Weg, waren über ein Jahr lang in einer Bau-Schreinerei angestellt. Aber auch wenn wir in den gleichen Räumen arbeiteten, wir redeten kein Wort miteinander. Zwei verstockte Junkies, die nicht miteinander konnten.

Was auffiel war sein ungeheures Schwitzen. Besonders bei Arbeiten, die Mundschutz verlangten, lief ihm die Suppe nur so runter, etwa beim Abschmirgeln alter Türen. "Das kommt vom Methadon", raunten die Kollegen. Ich war damals im Codein-Programm, fuhr einmal die Woche zum Doc nach Elberfeld und nahm ansonsten fröhlich Heroin, wie der Löwenmann auch. Man hätte meinen sollen, dass man sich untereinander aushilft, aber so war es nicht. Zwischen uns herrschte absolute Funkstille. Ich sah es seinen winzigen Pupillen an, wenn er gutes Material auf der Tasche hatte.

Erst im Jahr 2013 kamen wir miteinander ins Gespräch, und waren uns unerklärlicherweise auf Anhieb sympathisch. Ein hochintelligenter Bursche, der das Gymnasium einige Wochen vorm Abitur verlassen musste, weil die Bullen hinter ihm her waren, wegen Dealerei. Er floh in die Niederlande, wo sie ihn kaschten, er fuhr für einige Jahre ein.

Im Rausch unterliefen ihm die gröbsten Schnitzer. Einmal war er kurz vor Feierabend im Karstadt eingeschlafen, nachdem er sich auf dem Herren-WC einen Schuß gesetzt hatte. (Ich weiß von einem Junkie, der nach einem Druck im Nahverkehrszug zwischen Solingen und Remscheid eingepennt war, im Sitzen vor dem Lokus. Er pendelte zwei Stunden lang hin und her, ohne wach zu werden, bevor Beamte der Bahnpolizei die Tür aufbrachen. Weil die Sitzposition ihm das Blut abgeklemmt hatte, mussten ihm beide Beine amputiert werden.)

Karstadt: Als der Löwenmann mitten in der Nacht wach wurde, dauerte es seine Zeit, bis er realisierte, wo er sich befand. Er irrte durch die dunklen Gänge des Warenhauses, geriet in Panik. Kurzerhand trat er eine Seitentüre aus Glas ein, und lief direkt einer Polizeistreife in die Arme: Unbemerkt hatte er Alarm ausgelöst. Niemand glaubte ihm, dass er nicht einbrechen, sondern ausbrechen wollte.

"Hätte man doch anhand der Lage der Scherben feststellen können", sagte ich, "dass du nicht von draussen kamst, sondern von drinnen", doch der Löwenmann winkte ab. "Glaubst du doch nicht im ernst, dass die Bullen bei einem Junkie soviel Aufheben machen.. Außerdem war mir damals alles piepegal. Alles, was mir interessierte, war der nächste Pitch."

Die Quittung: 14 Monate wg. Einbruch, ohne Bewährung.

*

"Das Sympathische an Männern, und was Frauen so hassen: dass jeder Mann glaubt, er sei unschlagbar. Ihr seid alles Buschpiloten."

(Die Gräfin)

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Und was war nun mit Jessy?

Die Freundschaft zwischen dem Löwenmann und Jessy begann 1976 mit einem Faustkampf in der unterirdischen Ladenpassage des Turm-Zentrums. Da stand ein Weinlokal leer, wo man sich zum Prügeln verabreden konnte wie früher zum Duellieren. Man konnte sogar Wetten platzieren. Es traten an Hippies gegen Rocker, altgediente Mods gegen Kommunisten, Pleitiers gegen Privatiers, Jessy gegen den Löwenmann. Jedes Wochenende ging es hoch her. Montags geschlossen. Der Löewenmann und Jessy schlugen sich gegenseitig solange auf die Fresse, bis sie nicht mehr konnten und der Fight für remis erklärt wurde. Danach hatten beide Junkies zeitlebens Respekt voreinander.

“He, da kommt mein Bus!” ruft der Löwenmann plötzlich, und im Weglaufen, “Pass auf dich auf!”, den Überlebensgruß unter uns Überlebenden.

“Ja, du auch, Löwe.”


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